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Ethik
Meditation ohne Religion

Der Dalai Lama kommt zur Einweihung des Frankfurter Tibethauses nach Deutschland. Er wirbt für eine verbindliche säkulare Ethik. Mitgefühl und Fürsorge müssten unabhängig vom Glauben begründet werden. Religion sei Privatsache, sagt der Religionsführer.

Von Mechthild Klein |
    Der Dalai Lama spricht auf einer Konferenz mit Jugendlichen zum Thema "Toleranz und Europa" in Straßburg.
    "Beten allein hilft nicht" - der Dalai Lama wirbt jetzt verstärkt für säkulare Werte, wie hier auf einer Konferenz zum Thema "Toleranz und Europa" in Straßburg (MAXPPP, dpa-picture-alliance Jean-Marc Loo)
    Nach zwei Jahren ist der Dalai Lama wieder zu Gast in Deutschland. Und zwar im Frankfurter Tibethaus, das in dieser Woche neu eröffnet wird. Dort sollen nun verstärkt auch säkulare Ethik und Meditation vermittelt werden. Der Dalai Lama hatte schon öfter gesagt, dass Beten allein nicht hilft, um die Probleme in der Welt in den Griff zu bekommen. Es braucht eine säkulare Ethik, eine globale Ethik. Das Frankfurter Tibethaus soll dabei eine besondere Rolle einnehmen.
    "Es hat den ganz klaren Auftrag, nämlich das, was säkulare Ethik beziehungsweise säkulare Meditation ist, in die Gesellschaft zu tragen. Das ist der Anfang glaube ich, dass ist zumindest der Startschuss für ein lebenslanges Projekt, das wird noch lange weitergehen."
    Sagt der Wissenschaftsautor Gert Scobel, der das Symposium in Frankfurt mit dem Dalai Lama moderieren wird. Mit der säkularen Ethik sind Werte wie "Mitgefühl" und "Fürsorge" gemeint. Als säkulare Meditation gilt das aus dem Buddhismus stammende Achtsamkeitstraining und die Modelle von Achtsamkeitsbasierter Stressreduktion (MBSR). Eine Neuausrichtung, die zahlreiche Buddhisten weltweit mittragen.
    Überzeugt von der Aufklärung
    In der Vergangenheit hätten die Religionen zwar viele positive Konzepte einer Ethik entwickelt, meint Scobel, aber viele Menschen fühlen sich kaum daran gebunden. Ist etwa eine gewisse Resignation dabei, dass das 82-jährige religiöse Oberhaupt der Tibeter eher auf säkulare Methoden und Institutionen setzt als auf Religionsgemeinschaften selbst? Nein, sagt Gert Scobel, das sei keine Resignation.
    "Abgesehen davon muss man sich mal fragen, was wäre denn die Alternative? Die wird uns ja im Moment sehr vor Augen gehalten, diese Alternative: Nämlich, zurück zu den alten Werten, zurück zu den alten Religionen und den überkommenen Vorstellungen. Haben die uns weiter geholfen? Meine Antwortet darauf lautet: eher nein."
    Dabei sieht Scobel durchaus, dass die Religionen im Abendland einst geholfen haben, Institutionen aufzubauen, die für Menschenrechte eintreten.
    "Das ist eine der Errungenschaften des Westens. Das hat übrigens die buddhistische Welt in der Form nicht hervorgebracht. Auf der anderen Seite haben die Religionen uns jede Menge Kriege beschert. Das gilt für das Christentum in ganz deutlicher Weise. Das gilt etwas weniger auch für den Buddhismus, sie haben ja die Auseinandersetzungen in Myanmar im Moment."
    Scobel praktiziert selbst Zen-Meditation. Er ist überzeugt von der Aufklärung und glaubt, dass es in einer globalisierten Welt besser ohne die Einmischung der Religionen weitergeht.
    Tief in der Natur des Menschen angelegt
    "Und wenn man dann sagt: Ja, Moment mal, wo nimmst du dann die Werte her, glaube ich, lassen sich Werte heute auch anders begründen und anders herleiten, als dass man sagt: Naja, die hat uns jemand auf ein paar Tafeln verkündet."
    Ähnlich argumentiert der Dalai Lama - das sagt sein Tibetisch-Übersetzer Christof Spitz, der auch Mitbegründer des "Netzwerk Ethik heute" ist:
    "Er ist der Meinung, dass nicht eine Religion die religiösen Werte vorgeben kann. Das wäre unmöglich, schon aus dem Grunde, weil es es viele Religionen gibt, mit ganz unterschiedlichen Glaubensinhalten. Und sein Ansatz ist auch, dass die Ethik nicht durch die Religion in unsere Welt gekommen ist, ursprünglich. Sondern dass sie tiefer in der Natur des Menschen angelegt ist. Dass es eher eine positive Kraft ist, die von den Religionen aufgegriffen wurde und weiterentwickelt wurde."
    Der Dalai Lama mit seinem Übersetzer Christof Spitz (M) und dem Journalisten Gert Scobel (l) auf einer Diskussionsrunde 2014 in Hamburg.
    Der Dalai Lama mit seinem Übersetzer Christof Spitz (m.) und dem Journalisten Gert Scobel (l.) bei einer Diskussionsrunde 2014 in Hamburg (picture-alliance / dpa / Christian Charisius)
    Das Suchen nach diesen übergreifenden Werten sei für den Dalai Lama heute eine ganz zentrale Frage, sagt der Meditationslehrer Christof Spitz. Sakuläre oder auch globale Werte wären zum Beispiel Mitgefühl und Fürsorge. Sie solle man nach Auffassung des Dalai Lama entwickeln und weitergeben.
    "Er sagt, es gibt zunehmend Menschen, die sich von Religion gar nicht angesprochen fühlen, die vielleicht Atheisten sind. Oder die Religion vielleicht nur noch rituell machen. Alle diese Menschen brauchen aber Ethik oder brauchen diese inneren Werte. Deshalb ist eigentlich zu suchen: welche übergreifenden Werte haben wir."
    Die Idee des Dalai Lama: Religion ist Privatsache. Eine verbindliche Ethik hingegen brauchen alle Menschen, um ein Gefühl der Verbundenheit zu erzeugen und der Wertschätzung. Die Methode dafür komme aus Asien, dort habe man "eine längere Erfahrung mit Meditationsübungen", die mehr auf die Praxis zielten, sagt Gert Scobel. Die Philosophen Kant und Habermas hätten zwar Theorien geschaffen, was ethische Normen seien, aber man bleibe alleingelassen, wenn es darum geht, die Werte auch im Leben umzusetzen. Man müsse sich halt anstrengen und bemühen. Gert Scobel:
    "Das ist aber keine wirklich große Hilfe und hat ja auch nicht besonders gut funktioniert, wenn sie sich die Geschichte der Gewalt in den letzten 300 Jahren ansehen nach Kant. Der Osten hat meiner Ansicht nach, damit meine ich den fernen Osten, hat Kulturtechniken hervorgebracht, die tatsächlich auf so etwas wie Aggressionen beispielsweise einen Einfluss haben."
    Westliche Theorie, östliche Praxis
    Die Ethik im Christentum und im Buddhismus und anderer Religionen sind sich sehr ähnlich. Nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen und so weiter. Scobel sieht die Unterschiede mehr in der Kultur. Hier Schuld-Kultur, im fernen Osten mehr Scham-Kultur.
    "Der Unterschied hat mit einer Gewichtung im Alltag zu tun, die letztlich kulturell ist. Was meine ich damit? Bei uns läuft die Umwandlung von dem, was man als gut erkannt hat in Handlungen, vor allem in einem Pflichtenkatalog. 'Das machst Du eben'. Oder: 'Das macht man eben so. Dann strengst Du Dich mal an.' Das geht überwiegend über eine kognitive Vermittlung. Vielleicht noch durch Vorbilder. Aber in der Regel funktioniert das ethische und moralische Lernen über Kognition."
    Also über erworbenes Wissen. Im Buddhismus sei das anders. Dort habe man meditative Techniken entwickelt, die helfen, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu steuern. Das wirke sich auch auf das Verhalten aus. Im besten Fall könne diese Technik zur Erleuchtung oder zum Erwachen führen.
    "Das hat aber etwas zur Folge, was einen wirklichen Unterschied zu unserer westlichen Ethik produziert. Nämlich: Ich nehme den anderen oder das andere nicht mehr als bedrohlich war. Sondern - in buddhistischer Terminologie - als Nicht-zwei. Das andere ist eins mit mir. Aus dieser Haltung heraus, der Einheit, das heißt der Verbundenheit aller Lebewesen miteinander, erwächst ganz automatisch die Idee und dann auch das Handeln. Dass ich mit ihnen so umgehe, als wäre ich's selber."
    Das ist ein Ideal, das durchaus Ähnlichkeit mit der christlichen Nächstenliebe hat. Den Unterschied zwischen westlicher und östlicher Ethik sieht Scobel darin, dass der Westen tendenziell immer "die Theorie betont habe, die Lehrsätze, die Normen und die Dogmatik". Während man im Osten tendenziell eher die eigene Erfahrung betont.
    Vom Osten lernen
    Und kann nicht der Westen vom Osten lernen, indem man sagt: So was wie Achtsamkeitstraining kann ich völlig unideologisch und abgekoppelt von Religionen in Schulen und in andere Einrichtungen integrieren, weil es den Menschen hilft, besser miteinander umzugehen.
    Inzwischen hätten auch viele Achtsamkeitsanhänger die Kritik an ihrer Technik aufgenommen: Achtsamkeitstraining oder Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) müsse in eine Ethik eingebettet werden, forderte der Soziologe Hartmut Rosa. Damit die Methode nicht eingesetzt wird, um Menschen auszunutzen. Stattdessen könne man die Achtsamkeitsmeditation daran koppeln, verbindliche Werte zu leben, die heute immer mehr verloren gingen. Gert Scobel:
    "Empathie ist heute in unserer Gesellschaft kein Selbstläufer, Mitgefühl ist auch kein Selbstläufer. Sondern Menschen müssen hingeführt werden, dahin ihr großes Ego tatsächlich nicht über alles zu stellen. Zumal sie irgendwann früher oder später merken werden, dass ihr großes Ego tatsächlich nicht wirklich alles ist. Und im Moment leben wir eher in einer Zeit, in der Religionen tendenziell dazu neigen, vor die Aufklärung zurück zu gehen. Und die Grundprinzipien der Aufklärung hochzuhalten, finde ich in solchen Zeiten einen ganz entscheidenden Schritt."
    Es gibt eine Sehnsucht nach einem vergangenen goldenen Zeitalter, nach spiritueller Sicherheit. Doch aus heutiger Sicht, sagt Scobel, war das schon immer eine Illusion.
    "Wir müssen lernen, dass wir nie mehr festen Boden unter den Füßen haben werden, auch nie welchen hatten. Sondern uns immer nur auf fliegenden Teppichen bewegen."