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EU-Energiekommissar setzt auf Bankenkontrolle statt Eurobonds

Mittel- und langfristig müsse den Vertrag von Lissabon angepasst werden und eine gemeinsame Kontrolle der Banken in Europa erreicht werden, sagt Günther Oettinger (CDU). Der EU-Energiekommissar schließt auf langfristiger Ebene - im Gegensatz zu Angela Merkel - ein Vergemeinschaften der Schulden in Europa nicht aus

Günther Oettinger im Gespräch mit Sandra Schulz | 28.06.2012
    Sandra Schulz: Ein Satz, der inzwischen um die Welt gegangen sein dürfte: "Eine gesamtschuldnerische Haftung in Europa werde es nicht geben", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt, soll sie gesagt haben, so wird sie zitiert von Teilnehmern der nicht öffentlichen FDP-Fraktionssitzung am Dienstag. Das war allerdings noch nicht der aufsehenerregende Teil, denn diese Haltung der Kanzlerin ist ja bekannt. Um die Welt gegangen ist das Zitat wegen des Nachsatzes, "solange ich lebe". Plastischer lässt sich die Zuspitzung kaum schildern zwischen Deutschland und den EU-Partnern, und auch bei der Regierungserklärung gestern gab es noch einmal ungewöhnlich deutliche Kritik an den EU-Spitzen.

    O-Ton Angela Merkel: "Ich widerspreche entschieden der in dem Bericht niedergelegten Auffassung, dass vorrangig der Vergemeinschaftung das Wort geredet wird und erst an zweiter Stelle (und das auch noch sehr unpräzise) mehr Kontrolle und einklagbare Verpflichtungen genannt werden. Somit stehen Haftung und Kontrolle in diesem Bericht in einem klaren Missverhältnis und damit, so fürchte ich, wird auf dem Rat insgesamt wieder viel zu viel über alle möglichen Ideen für eine gemeinschaftliche Haftung und viel zu wenig über verbesserte Kontrollen und Strukturmaßnahmen gesprochen."

    Schulz: Der Streit ums Geld, aber natürlich auch Macht, oder genauer gesagt die Verzahnung von Geld und Macht, er geht tief in Europa. Klar ist: Harmonische Gespräche bei dem Brüsseler Gipfel heute und morgen erwartet niemand, und darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon begrüße ich EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU). Guten Morgen!

    Günther Oettinger: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Schulz: Herr Oettinger, wir haben es gerade noch mal gehört: scharfe Kritik also von Bundeskanzlerin Angela Merkel an ihren Kommissionskollegen, an Kommissionspräsident Barroso. Der hat das Papier ja mitverfasst. Wer hat denn recht?

    Oettinger: Es geht ja zu allererst darum, dass wir heute und morgen über das Satzungspaket beraten. Das ist der eine Punkt, der darf nicht vergessen werden. Es gibt ja sehr gute Vorschläge, wie man jetzt auf europäischer Ebene für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt noch mehr tun kann: die Stärkung der Europäischen Investitionsbank mit zehn Milliarden höherem Eigenkapital, damit sie mehr Projekte kofinanzieren kann, die Aktivierung unseres Haushalts für Wachstum und Beschäftigung. Ich glaube, dass die kurzfristigen Fragen heute sehr, sehr einvernehmlich konstruktiv, fast schon harmonisch beraten werden.

    Schulz: Aber die guten Ideen, von denen Sie sprechen, da nehmen Sie das Papier der Vierergruppe jetzt aus, oder schließen Sie das ein?

    Oettinger: Das ist der zweite Punkt. Der mittel- und langfristige Punkt lautet, wir müssen den Vertrag von Lissabon anpassen, wir müssen schauen, dass wir zur Währungsunion einiges auf europäischer Ebene ergänzen. Es geht um eine gemeinsame Kontrolle unserer Banken, es darf nie mehr vorkommen, dass Banken, die man systemisch nennt, ganz Europa in Gefahr bringen, also eine Art Bankenunion zu entwickeln. Es geht zweitens darum, dass wir den Fiskalpakt jetzt in allen Ländern rasch umsetzen, da gibt es einen Zwischenstand, sieben, acht Länder haben es schon gemacht, Deutschland folgt morgen, die anderen folgen in den nächsten Tagen. Und drittens geht es in der Tat um die Frage, ob man weitere Vergemeinschaftungen braucht, und da spielt dann das Thema Eurobonds eine emotional überragende Rolle. Ich halte von Eurobonds zum jetzigen Zeitpunkt nichts, die lösen unsere Probleme der Gegenwart nicht, die kann man ohne Vertragsänderungen nicht einführen, und damit geht es um die Debatte, ob wir mittel- und langfristig auch eine Art gemeinsame Haftung für Schulden uns vorstellen können. Dass da Deutschland zurückhaltend eingestellt ist, kann ich voll nachvollziehen. Dass andere drängen, ist auch verständlich. Und ich glaube, dass darüber ein Streit ohne Zorn und Eifer heute und morgen geführt werden muss.

    Schulz: Ohne Zorn und Eifer. Und was ist Ihre Prognose? Kann die Kanzlerin ihren Satz wahr machen, dass eine gesamtschuldnerische Haftung solange nicht kommen werde, solange sie lebt?

    Oettinger: Ich bin sicher, dass ihre Kollegen, die Regierungschefs der anderen Mitgliedsstaaten, und auch die Herren van Rompuy und Barroso ihre klare Aussage ernst nehmen. Die Kanzlerin hat hohe Autorität, ist die stärkste Person in Europa, und wenn der Satz so mit Unterstützung des Deutschen Bundestages gesagt worden ist, wird man von ihm ausgehen müssen. Das heißt, es sollte jetzt niemand mit den Eurobonds die weiteren Planungen aufnehmen. Der Auftrag, der jetzt erteilt werden muss, muss im Grunde genommen auf der Grundlage aller Mitgliedsstaaten entstehen, und ich glaube nicht, dass Deutschland übergangen wird.

    Schulz: Aber die Frage stellt sich doch dann umgekehrt: Wenn Deutschland an dieser Haltung festhält und der Druck aus ganz Europa ja inzwischen kommt, nimmt Deutschland dann überhaupt seine Partner in Europa ernst?

    Oettinger: Ja. Allein der ESM, der morgen im Deutschen Bundestag beschlossen wird, zeigt ja, wie stark Deutschland bereit ist, Garantien zu geben und damit auch in Risiken zu gehen in Milliardenhöhe. Und ich glaube schon, dass man von daher Deutschland nicht Undankbarkeit oder Herzlosigkeit vorwerfen kann. Die Deutschen sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten bereit, solidarisch zu sein. Da wird man jetzt ausloten, was noch möglich ist, was mittelfristig möglich ist, und dort, wo die Kanzlerin eine klare Grenze aufzeigt, wird man die respektieren.

    Schulz: Eine gesamtschuldnerische Haftung kann sich - das muss man ja immer noch dazu sagen - die Bundesregierung unter bestimmten Vorbedingungen, die jetzt allerdings lange noch nicht in Sichtweite sind, ja auch vorstellen, nämlich mit der entsprechenden Kompetenz und Kontrolle, die dann in Brüssel angesiedelt sein müsste. Da ist jetzt immer die Rede von mittel- oder längerfristig. Über welche Zeiträume sprechen wir denn da?

    Oettinger: Das Ganze ist ja ein Arbeitsauftrag, der morgen erteilt werden muss, und ein Bericht dazu soll im Dezember vorliegen, oder zum Jahresende. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Weiterentwicklung unserer europäischen Kompetenzen, namentlich auch der Haushaltskontrolle der Mitgliedsstaaten, in den nächsten zwei bis drei Jahren kommen muss. Nur dann ist das auch ein Signal an die Märkte, dass Europa endgültig den Weg einer Schuldenfalle geht. Das heißt, die Debatte darf nicht ins nächste Jahrzehnt führen, die muss in den nächsten zwei bis drei Jahren zu ganz konkreten Änderungen der europäischen Regeln führen.

    Schulz: Ist das dann für Deutschland auch eine realistische Perspektive mit den Widerständen, die kommen - aus dem Bundestag, vom Bundesverfassungsgericht?

    Oettinger: Nein. Die Richter in Karlsruhe wehren sich ja nicht gegen die Übertragung von Kompetenzen nach Brüssel, sondern sie sagen, dies bedarf dann gegebenenfalls einer Grundgesetzänderung. Das heißt, die entsprechenden verfassungsrechtlichen Grundlagen in Deutschland müssen dafür geschaffen werden. Die Mütter und Väter von Herrenchiemsee konnten im Jahre 1948 nicht ahnen, wie sich Europa verändert, dass es eine gemeinsame Währung gibt, einen Binnenmarkt, dass 27 europäische Staaten immer mehr gemeinsam Wirtschaftspolitik betreiben. Das heißt, es geht jetzt darum, die deutschen Grundregeln gegebenenfalls fit zu machen für Europa von morgen.

    Schulz: Und da sind wir auch bei dem Gedankenspiel, das Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ja Anfang der Woche ins Spiel gebracht hat, nämlich die Volksabstimmung nach Artikel 146. Eine neue Verfassung, die komme, so die Aussage von Wolfgang Schäuble, vielleicht früher als manch einer denke. Ist das genau das Szenario, das Sie meinen?

    Oettinger: Es geht um die Frage, wie weit übertragen wir Kompetenzen nach Europa. Viele Kompetenzen in Europa, die wir bisher übertragen haben, gingen auf der Grundlage des geltenden Grundgesetzes. Jetzt für den ESM brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. All dies ist mit dem geltenden Grundgesetz möglich. Wenn es weitergeht, wenn zum Beispiel Haushaltskompetenzen nach Brüssel übertragen werden, wenn der Gesetzgeber einwilligen will, dass den Mitgliedsstaaten auch klare Vorgaben gemacht werden können, wie man einen Haushalt aufstellt, oder gar ein europäischer Finanzminister, dann kann es auch zu der entscheidenden Frage kommen, ob und wie man durch Volksentscheid die rechtlichen Grundlagen in Deutschland schaffen kann.

    Schulz: Welchen Zeitraum könnten Sie sich dafür vorstellen?

    Oettinger: Auch dies darf nicht erst in zehn Jahren geschehen. Wenn es wirksam sein soll und wenn wir die Währungsunion wirksam durch eine Wirtschafts- und Politikunion ergänzen wollen, mit klaren Rechten und Pflichten und Kontrollen auf europäischer Ebene, dann ist auch dies eine Aufgabe der nächsten zwei bis fünf Jahre.

    Schulz: Und das ist, um das noch mal klarzustellen, aus Ihrer Sicht auch die Perspektive für eine mögliche Abstimmung nach Artikel 146 Grundgesetz?

    Oettinger: Das müssen die Regierungschefs entscheiden. Mit Sicherheit ist im Augenblick da jeder vorsichtig. Aber noch mal: Wenn wir überzeugt sind, dass die Währung stabil gemacht werden kann durch eine Wirtschaftsregierung, durch gemeinsame Haushaltspolitik, dann muss die Grundlage in den Mitgliedsstaaten dafür geschaffen werden und dann ist gegebenenfalls auch eine Befragung der Bürger notwendig. Schauen Sie, Irland hat vor wenigen Wochen ein Referendum gemacht, weil dort der ESM nur mit Volksentscheid möglich ist. Insoweit ist ja ein Volksentscheid nichts Undenkbares.

    Schulz: Und wenn wir jetzt insgesamt noch mal aufs Szenario schauen - wir setzen voraus, dass dieser erste Schritt, dieses politische Zusammenrücken, dass das gelingt, dass dann möglicherweise die Voraussetzungen auch für eine gemeinschuldnerische Haftung liegen -, was meinen Sie, welcher Zeitraum ist da realistisch?

    Oettinger: Also ich glaube, klar sollte sein, Altschulden hat jeder Mitgliedsstaat und haben seine Steuerzahler alleine zu verantworten und auch zu tilgen. Da ist Griechenland die Ausnahme. Das wurde immer erklärt und auch Länder wie Portugal oder Irland akzeptieren hier, dass sie ihre eigenen Schulden mit den Zinslasten bedienen und auch tilgen müssen. Irland und Portugal sind ja auf einem durchaus guten Wege. Aber für die Zukunft kann es sein, dass wir stärker unsere Haushalte gemeinsam organisieren und dass wir auch unsere Haftung vergemeinschaften. Das halte ich für sehr wohl denkbar und damit kann auch neues Vertrauen in den Märkten für die Glaubwürdigkeit und Bonität der europäischen Mitgliedsstaaten entstehen.

    Schulz: Aber wenn sich alle darüber einig sind, dass diese gemeinschaftliche Haftung kommen wird früher oder später, wäre es dann nicht vernünftig, diesen Widerstand jetzt schneller aufzugeben?

    Oettinger: Wenn Deutschland sein Faustpfand jetzt abgibt, bekommt es das, was Deutschland braucht, nämlich stringente Haushaltspolitik, Kontrolle über die Haushalte, gegebenenfalls europäische Einwirkung auf die Haushalte der Mitgliedsstaaten viel, viel weniger. Das Ganze ist ein Vorgang, wo beides gleichzeitig, in Schritten gleichzeitig kommen muss, und deswegen ist Deutschland zurecht im Augenblick vorsichtig und erwartet, dass die anderen Mitgliedsstaaten erst einmal erklären, ob und wie sie zur Kompetenzübertragung bereit sind.

    Schulz: Und das waren Einschätzungen und Informationen heute in den "Informationen am Morgen" von EU-Kommissar Günther Oettinger hier im Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank.

    Oettinger: Einen guten Tag.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.