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EU-Politiker: Großbritannien ist nicht mehr ordentliches Mitglied der Union

Großbritannien nehme eigentlich nur noch am Binnenmarkt der Europäischen Union teil, sagt der EU-Abgeordnete Jo Leinen (SPD). Er erwartet Probleme für den Rechtsraum Europa, denn künftige EU-Gesetze müssten für alle 27 Mitgliedsländer gelten - und nicht nur die reformwilligen 26.

Jo Leinen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.12.2011
    Christoph Heinemann: Der Euro hat sich zu Wochenbeginn trotz leichter Verluste über der Marke von 1,33 Dollar gehalten. Am Morgen kostete die Gemeinschaftswährung 1,3350 Dollar und damit etwas weniger als am Freitagabend. Trotz der Beschlüsse des EU-Gipfels von vergangener Woche bleibt die Lage an den Finanzmärkten wechselhaft. Nicht wenige Experten bezweifeln, dass eine verschärfte Haushaltskontrolle die kurzfristigen Probleme im Währungsraum lösen können wird. Die Ratingagentur Moody's bekräftigte, die Bewertung aller EU-Staaten Anfang 2012 einer genauen Prüfung unterziehen zu wollen. "Prosit Neujahr", können wir da nur sagen. Auch politisch wird über die Ergebnisse des Gipfels weiter gestritten.
    David Cameron wird sich heute im britischen Unterhaus für sein Nein feiern lassen, oder er will es zumindest. Er gibt eine Regierungserklärung ab. Der Premierminister hatte in Brüssel im übertragenen Sinne seine Handtasche auf den Tisch gehauen. Seine Regierung will Vertragsänderungen nicht zustimmen. Das entspricht zwar der Meinung der Mehrheit im Inselreich, politisch weht Cameron der Wind dennoch ins Gesicht.
    Jo Leinen ist SPD-Europapolitiker, studierter Jurist – das wird im Verlauf des Gespräches auch noch wichtig sein. Guten Tag erstmal.

    Jo Leinen: Hallo, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Leinen, der englische Politikwissenschaftler Antony Glees – wir haben ihn eben gehört – hält einen Austritt Großbritanniens mittelfristig aus der Europäischen Union für möglich, ähnlich hatte sich ja Ihr Parteifreund Martin Schulz geäußert. Rechnen Sie auch damit? Nimmt Cameron gerade Anlauf für den Absprung?

    Leinen: Nun, wir kommen immer näher einer privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen Union, ein Thema, was man eigentlich für die Türkei diskutiert hat. Ich will erinnern, dass Großbritannien die Charta der europäischen Grundrechte nicht ratifiziert hat, sie machen beim Schengen-Abkommen nicht mit, sie haben bei der Justiz- und Innenpolitik Ausnahmen, sie haben beim Euro nicht mitgemacht, und wenn jetzt die Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht mitgemacht wird, dann bleibt ja nur noch ein kleiner Rest, der Binnenmarkt, der vollendet ist, und das ist keine ordentliche Mitgliedschaft mehr in der Europäischen Union.

    Heinemann: Wie viel a la carte ist noch möglich?

    Leinen: Die EU ist größer geworden, wir haben uns ja daran gewöhnt, dass nicht alle alles zur gleichen Zeit machen. Das ist auch akzeptiert. Aber Großbritannien will ja mehr. Sie wollen ja nicht später mitmachen, sondern überhaupt nicht mitmachen, und das schafft also schon Probleme für den Rechtsraum Europa, weil wenn wir in Brüssel oder in Straßburg Gesetze machen, gelten die eigentlich für alle 27 und nicht nur für 26.

    Heinemann: Sollte Kontinentaleuropa den Briten jetzt die Pistole auf die Brust setzen, sagen, "Freunde, es reicht"?

    Leinen: Nun, ich glaube, dieser Fehltritt von Cameron, der richtet sich selbst. Ich bin sicher, dass in den kommenden Wochen auf der Insel, in London eine kräftige Debatte losgehen wird. Die Europagegner haben gejubelt am Freitag, aber sie sitzen nicht am längeren Hebel. Ich glaube, es ist absolut nicht im Interesse Großbritanniens, sich in Europa zu isolieren. Sie haben jetzt schon viel Kredit verloren, viel Einfluss verloren. Ich denke, die Briten sind pragmatisch genug, dass sie den letzten Schritt, Austritt aus der EU, dann doch nicht machen.

    Heinemann: Ziel des EU-Gipfels war es, den Euro zu festigen. Ist die Gemeinschaftswährung seit Freitag stabiler?

    Leinen: Nun, es sind Ziele vorgenommen worden; wenn die erfüllt werden, ist der Euro noch stabiler. Aber die müssen erst mal umgesetzt werden, und der Teufel kann da im Detail liegen. Diese Konstruktion, die als zweitbeste Lösung, als Notbehelf gewählt werden musste, dieser intergouvernementale Vertrag, der hat es noch in sich. Da sind also noch Haken und Ösen.

    Heinemann: Welche?

    Leinen: Ja er muss erst mal zustande kommen, er muss ratifiziert werden in den 26 dann Mitgliedsländern und es ist ja beabsichtigt, dass die Gemeinschaftsinstitutionen für diese Fiskalunion genutzt werden, und da könnte wieder Großbritannien ins Spiel kommen, weil, das ist dann in dem Fall so auch in den Verträgen nicht vorgesehen. Da müsste Großbritannien wieder mitspielen.

    Heinemann: Herr Leinen, wenn die EU-Kommission oder der Währungskommissar – Sie sprachen eben vom Teufel im Detail – künftig in der Haushaltsplanung des Bundesfinanzministers und des Bundestages herumstreichen darf, dann löst das zumindest bei Bundestagspräsident Norbert Lammert Sorgen aus über die Verfassungsmäßigkeit des ganzen Verfahrens. Erwarten Sie Probleme?

    Leinen: Der Deutsche Bundestag wird immer noch die letzte Entscheidung über den Haushalt haben, aber es gibt ein Korsett, es gibt einen Rahmen, in den sich die Haushalte der EU in Zukunft einfügen müssen. Sonst hat das Ganze ja keinen Sinn. Und es wird ja so sein, dass die Europäische Kommission mit dem entsprechenden Mitgliedsland, also mit der Bundesrepublik Deutschland, eine Haushaltsvereinbarung macht und bei den Ländern, die unter Kuratel stehen, auch eine Sanierungsvereinbarung. Und sollte sich das Land nicht an diese Vereinbarung halten, könnte die Kommission in Brüssel dieses Land vor dem EuGH verklagen. Also verklagt würde nicht das jeweilige nationale Parlament, sondern das jeweilige Mitgliedsland, und wie dann die Sanierungen durchgeführt werden, bleibt natürlich den Institutionen des Landes überlassen. Das ist wiederum die Regierung oder das Parlament. Also hier wird natürlich ein krummer Umweg gewählt, weil der gerade Weg nicht möglich ist. Man wird sehen, ob das juristisch hält.

    Heinemann: Teilen Sie Norbert Lammerts Bedenken?

    Leinen: Herr Lammert hat ja selber schon gesagt, wir müssen bei dieser Notlage, in der sich Europa befindet, auch flexibel sein, wir müssen auch Zugeständnisse machen, dass vor allen Dingen die überschuldeten Länder sich überwachen lassen. Die Letztentscheidung – ich glaube, darum geht es dem Bundestagspräsidenten und müsste es jedem Parlamentspräsidenten gehen -, die Letztentscheidung bleibt bei der Abgeordnetenkammer, bei der Bürgerkammer des jeweiligen Landes. Wenn so ein Land nicht mitmacht, weil die Bürgerkammer Nein sagt, dann haben wir allerdings andere Probleme. Dann kann es Sanktionen gegen das Land geben mit Stimmrechtsentzug oder auch der Kappung von Zuschüssen. Aber das ist dann die politische Ebene und nicht die rein juristische Ebene. Wer ist zuständig für den Haushalt eines Landes? Das ist und bleibt das jeweilige Parlament.

    Heinemann: Wenn entscheidende Fragen zwischen den EU-Staaten durch völkerrechtliche Verträge geregelt werden, dann schauen Bundestag und Bundesrat doch in die Röhre.

    Leinen: Ja in der Tat, das ist bei allen völkerrechtlichen Verträgen so, dass die Exekutive handelt. In diesem Falle, wenn ich das richtig gesehen habe, sollen ja die Gemeinschaftsinstitutionen gestärkt werden, also die Kommission soll handeln, und die Gemeinschaftsgesetzgebung soll weiter arbeiten. Das heißt, es wäre immerhin das Europäische Parlament dabei, aber richtigerweise nicht die nationalen Parlamente und auch nicht der Bundesrat. Das ist richtig so, aber das war der Beschluss des Gipfels in Brüssel, wir wollen mehr Europa, wir wollen die Gemeinschaftsmethode stärken. Das geht jetzt nicht auf direktem Wege, weil Großbritannien nicht mitmacht, aber auf indirektem Wege soll es dabei bleiben, dass Kommission, Parlament und Gerichtshof handlungsfähig sind und für die Fiskalunion auch handeln. Insofern wäre die politische Kontrolle, die parlamentarische Kontrolle durch die Bürgerkammer in der EU, durch das Europäische Parlament gewährleistet.

    Heinemann: Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Leinen: Auf Wiederhören!

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