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Extremismus
"Hass ist gesellschaftsfähig geworden"

Nicht nur Montagabends in Dresden ist sie zu beobachten: Es gebe sehr viel Verbitterung in der Mitte der Gesellschaft, sagte der Soziologe Heinz Bude im Deutschlandfunk. Bei diesen Menschen handele es sich nicht um Wut-, sondern um Hassbürger. Sie hätten gemeinsam mit einer anderen Gruppe so viel Potenzial wie die FPÖ oder der Front National.

Heinz Bude im Gespräch mit Peter Kapern | 14.10.2015
    Der Kasseler Soziologe Heinz Bude
    Der Kasseler Soziologe Heinz Bude (imago/Christian Thiel)
    Der Soziologe beziffert das "Verbitterungsmilieu" in Deutschland auf etwa zehn Prozent. "Das sind Leute, die nicht unbedingt arbeitslos geworden sind. Das sind in der Regel Leute, die relativ hoch gebildet sind; die sogar von sich in Anspruch nehmen, dass sie ein offenes Weltbild haben, aber von dem tiefen Gefühl geplagt sind, dass sie in ihrem Leben unter ihren Möglichkeiten geblieben sind aufgrund von Bedingungen, die sie selbst nicht haben kontrollieren können." Diese Gruppe befinde sich nicht auf einem sozialen Absturz, habe andererseits das Gefühl, in der Öffentlichkeit werde ihre Situation nicht thematisiert - "aber es werden die Arme aufgemacht für Leute, von denen wir überhaupt gar nicht wissen, was die eigentlich in unserem Land vorhaben".
    Die Angehörigen dieses Milieus seien bisher fälschlicherweise als Wutbürger bezeichnet worden, sagte der Soziologe. Dieses Phänomen habe es vor allem in der Arbeiterbewegung gegeben: "Wenn man wütend ist über ungerechte Verhältnisse, kann man sich in einem Kollektiv zusammenfinden und sagen, dagegen stehen wir auf." Die Verbitterten seien dagegen von Hass getrieben, der sich oft individuell, in Äußerungen im Netz zeigt und "gesellschaftsfähig geworden" sei. Solch ein Hassbürger setze sich "per Hass gegen ein System in Szene, von dem er sagt, die interessiert doch alle gar nicht, was mit mir eigentlich los ist".
    Dieses Milieu habe momentan "keinen Sprecher, der zum Ausdruck bringt, dies ist ein Problem, was in die öffentliche Diskussion hinein muss", sagt der Soziologe. Ein Beispiel für solch einen "autoritären Rebell" sei Jörg Haider in Österreich gewesen. Auch in Deutschland könne die Gruppe größer werden, wenn es einen "Kurzschluss" mit dem "Dienstleistungsproletariat" gebe - "das sind die Leute, die Ihnen die Pakete nach Hause bringen", sagte Bude. In dieser Gruppe gebe es ein großes Defizit an sozialer Anerkennung. Gemeinsam könnten beide Gruppen ein Stimmengewicht von 25 Prozent stellen.

    Das vollständige Interview lesen Sie hier:
    Peter Kapern: Nehmen wir als Beispiel mal die hübsche Stadt Meißen an der Elbe. Auch da wird seit Langem und regelmäßig gegen die Unterbringung von Flüchtlingen mobilisiert: Mit unerträglichen rassistischen Parolen und mit der Unterstützung von Menschen, die bislang eben nicht als rechtsextreme Rassisten galten. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke hat die Situation in Meißen im ARD-Fernsehen gerade so beschrieben:
    O-Ton Hajo Funke: "Das Klima in Meißen wird dominiert vom Mob, von denen, die sagen, die nicht, hier nicht, überhaupt nicht und sie werden sehen, was sie davon haben, wir werden sie jagen. Und insofern ist es eine Alltagsherrschaft des Mobs."
    Kapern: Der Verfassungsschutz von Sachsen-Anhalt hat da eine besorgniserregende Sache festgestellt, nicht untermauert durch eine empirische Studie, aber durch allerlei Alltagsbeobachtungen, wie es in der Behörde heißt. Und diese Feststellung lautet: Das Bürgertum verliert seine Scheu vor Extremisten. Die Grenze zwischen rechtschaffenden Bürgern und rechtsextremen Organisationen, die löst sich auf. Gibt es dafür auch wissenschaftliche Belege und wenn ja, was bedeutet so eine Entwicklung? - Am Telefon ist Professor Heinz Bude, Soziologe an der Universität in Kassel. Guten Morgen.
    Heinz Bude: Guten Morgen, Herr Kapern.
    "Wir haben ein stabiles Verbitterungsmilieu"
    Kapern: Herr Bude, welcher Teil des Bürgertums begibt sich da in das Lager der Rechtsextremen?
    Bude: Ich glaube, wir haben etwas, was in der Mitte unserer Gesellschaft passiert, was uns noch nicht so ganz klar geworden ist, nämlich wir haben sehr viel Verbitterung in der Mitte unserer Gesellschaft. Ich könnte geradezu sagen, wir haben ein Verbitterungsmilieu, was relativ stabil ist. Ich rede von ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung. Das sind Leute, die nicht unbedingt arbeitslos geworden sind. Das sind in der Regel Leute, die relativ hoch gebildet sind, die sogar von sich in Anspruch nehmen, dass sie ein offenes Weltbild haben, aber von dem tiefen Gefühl geplagt sind, dass sie in ihrem Leben unter ihren Möglichkeiten geblieben sind aufgrund von Bedingungen, die sie selbst nicht haben kontrollieren können.
    Denken Sie beispielsweise an einen 52-jährigen Ingenieur aus einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Automobilzulieferers, der quasi von einem neuen 35-Jährigen gesagt kriegt, was er zu tun und zu lassen hat, und möglicherweise in eine andere Gruppe hinein gestellt wird. Das heißt, da geht es gar nicht darum, dass das Leute sind, die quasi auf dem sozialen Absturz sich befinden, sondern das Gefühl haben, mir passieren schlimme Dinge, von denen in der Öffentlichkeit keiner redet. Das sind auch Leute, die quasi so eine Art, wie sagt man in der Alltagssprache, so was wie einen "Hals kriegen", wenn sie hören, in Deutschland gehe es so gut, es würden so und so viele neue Arbeitsplätze geschaffen und wir hätten ein Produktionsmodell, was in Europa einzigartig sei.
    Alle die sagen, das stimmt doch alles nicht, das ist ein großer Lügendiskurs, das ist eine Wirklichkeitsverweigerung seitens der Medien, seitens der Politik, und dann machen die auch noch die Arme auf für Leute, die in unser Land kommen wollen und bei denen überhaupt nicht gefragt wird, haben die eine Berechtigung dazu, wollen die eigentlich uns nur ausnehmen, also fast so eine Art von existenziellem Neid, der sagt, über meine Situation redet kein Mensch, aber es werden die Arme aufgemacht für Leute, von denen wir überhaupt gar nicht wissen, was die eigentlich in unserem Lande vorhaben.
    Hass ist legitime Äußerung der Öffentlichkeit geworden
    Kapern: Die einen sagen, Herr Bude, die Leute, die Sie da gerade skizziert haben, die seien von Hass getrieben. Die anderen bezeichnen solche Leute als Wutbürger. Macht das einen Unterschied?
    Bude: Ja, das macht einen ganz großen Unterschied. Ich glaube, natürlich ist man in der Affektenlehre immer so ein bisschen begrifflich unklar. Aber machen wir mal den wichtigen Unterschied zwischen Wut und Hass. Wut ist ein kollektivierendes Phänomen. Wir kennen das im Grunde aus der langen Tradition der Arbeiterbewegung. Wenn man wütend ist über ungerechte Verhältnisse, kann man sich in einem Kollektiv zusammenfinden und sagen, dagegen stehen wir auf, oft sogar noch in der Vorstellung, wir sind zwar im Augenblick die letzten, aber es wird ein Tag kommen, an dem wir die ersten sein werden.
    Hass ist individuell. Hass ploppt sozusagen auf. Hass ist etwas, was Sie in einer Hassäußerung zeigen können, beispielsweise im Netz, und dann verschwinden Sie immer wieder hinter dieser Äußerung. International nennen wir das "hate speed" und es ist ja ein sehr interessantes Phänomen, dass die Kategorie des Hasses mittlerweile, wenn Sie so wollen, gesellschaftsfähig geworden ist. Es gibt in Berlin ein Magazin, das heißt "Hate". Das nennt sich ein "Magazin für Lebensstil und soziale Relevanz". Das ist eher von einer linken Seite, aber es ist interessant, dass die Kategorie Hass zu einer möglichen Äußerung, einer legitimen Äußerung der Öffentlichkeit werden kann und man sagen kann, man muss doch irgendwann auch mal seinen Hass - und jetzt kommt die wichtige Kategorie - auf das System selber projizieren. Also der Individuelle, der das Gefühl hat, ihm ist unrecht getan worden, er ist immer unter seinen Möglichkeiten geblieben, über seine Probleme redet man nicht, der setzt sich per Hass gegen ein System in Szene, von dem er sagt, die interessiert doch alle überhaupt nicht, was mit mir eigentlich los ist.
    Ein heimatloses Unbehagen geht durch die Gesellschaft
    Kapern: Gleichwohl, Her Bude, bei diesem imaginierten Ingenieur, von dem Sie eingangs gesprochen haben, da hat man den Eindruck, dass er von einem, wie soll man sagen, vagabundierenden Hass getrieben ist. Diesen Eindruck haben wir hier jedenfalls im Deutschlandfunk, in vielen Medien existiert er, weil sich die brachiale Ablehnung des Journalismus, die ja auch mit dem Begriff der Lügenpresse einhergeht, immer wieder gegen andere aktuelle Themen richtet, immer wieder in besonderen thematischen Situationen auftritt. Mal ist es die Unterstützung für Wladimir Putin, mal ist es die Homophobie, die da aus den Hörerbriefen ganz stark spricht, und jetzt die Ausländerfeindlichkeit. Kann man das wirklich auf den Punkt der Systemkritik bringen, diesen vagabundierenden Hass?
    Bude: Ich würde sagen, Systemkritik taucht dann immer sofort auf in den Hassäußerungen. Es ist aber - insofern haben Sie recht - so etwas wie ein heimatloses Unbehagen, was durch die Gesellschaft geht. Heimatlos deshalb, weil es keine kollektivierende Adresse für dieses Unbehagen gibt. Es gibt keinen Sprecher, der zum Ausdruck bringt, dies ist ein Problem, was in die öffentliche Diskussion hinein muss. Das kann man als positiv ansehen, denn wir haben im Augenblick keinen autoritären Rebell, der sagt, ich kenne eure Probleme, ich rede für euch und die anderen wissen gar nicht, was mit euch los ist. Das ist quasi das Haider-Phänomen. Haider war da sehr groß in Österreich mit, als er gesagt hat, ich bin der, der für euch redet.
    Das haben wir in Deutschland nicht, das ist sehr angenehm. Aber es gibt dieses, wie Sie sagen, vagabundierende Gefühl, das sich oft auch - und deshalb sage ich Systemkritik - mit merkwürdigen antikapitalistischen Motiven vermengt. Das haben Sie bei diesem merkwürdigen Putinismus, der in Deutschland eine Rolle spielt und diese Vorstellung, dass man auch das Land verteidigen muss gegen irgendetwas, was nicht nur von außen kommt, sondern auch von innen das Land kaputt macht, nämlich die Medien, nämlich die Systempolitik.
    Verbündung von Verbitterten und Dienstleistungsproletariern ist gefährlich
    Kapern: Sagen Sie, Herr Bude, gibt es einen Punkt, an dem die Systemkritik, die Sie da ausgemacht haben, definiert haben, auch systemgefährdend werden kann?
    Bude: Sie kann dann systemgefährdend werden, wenn es eine Art von Kurzschluss gibt zwischen denjenigen, über die wir jetzt gar nicht geredet haben, die eine Art von neuer Proletarität in unserer Gesellschaft bilden, die ich zum Dienstleistungsproletariat rechnen würde. Das sind die Leute, die Ihnen die Pakete nach Hause bringen. Die haben das Gefühl, dass in ihrer Leistungsfähigkeit einfach durch das, was sie an Geld bekommen, was sie an sozialer Anerkennung bekommen, ein großes Defizit existiert. Das sind meistens Nichtwähler, die sich für Politik fast gar nicht interessieren. Wenn sich die kurzschließen mit diesen Enttäuschten und Verbitterten aus der sozialen Mitte unserer Gesellschaft und im Grunde die Botschaft haben, uns wird ein falsches Bild der deutschen Gesellschaft gezeichnet, wir sind keine starke Gesellschaft, wir sind keine Gesellschaft von großem Erfolg, sondern wir sind eine Gesellschaft, die die Leute beleidigt und mit Füßen tritt, und wenn dann ein autoritärer Rebell, wie ich ihn eben genannt habe, als Formel auftritt, ich rede für euch und ich weiß, was Sache ist, dann, fürchte ich, gibt es ein Potenzial, das dann immerhin eins von etwa 25 Prozent wäre, wenn man das Dienstleistungsproletariat dazuzählen würde, was eine Front-National-Dimension hätte.
    Stimmungsmehrheit in Deutschland ist auf Solidarität gepolt
    Kapern: Wie weit sind wir von einer solchen Situation der Kombination dieser Potenziale der Unzufriedenen und zu kurz gekommenen, wie weit sind wir von einer solchen Situation der Zusammenbindung dieser beiden Potenziale entfernt?
    Bude: Wir sind weit davon entfernt, weil es eine ganz wichtige Kategorie gibt, die noch zum Positiven ausschlägt. Da denkt man immer, das sei so was Fluides, Nebulöses. Es ist aber sehr wichtig. Das ist die Kategorie der Stimmung. Die Stimmung in Deutschland von den stimmungstragenden Gruppen ist eindeutig die: Wir können uns Solidarität leisten, wir können die Arme öffnen für Leute, die wir nicht kennen, weil wir uns stark genug in uns selber fühlen. Das ist die starke Stimmungsdominanz in unserer Gesellschaft. Alle, von denen ich jetzt gerade gesprochen habe, befinden sich in einer Art von Schweigespirale. Das ist ein Begriff, den Elisabeth Noelle-Neumann vor vielen Jahren aufgebracht hat. Ich glaube, das ist die interessante Situation. Wir haben eine ...
    Kapern: Das ist aber, wenn ich da mal kurz zwischengehen darf, Herr Bude, eine sehr laute Schweigespirale, wenn man mal die Mikrofone auf die Straßen in Dresden Montagsabends hält.
    Bude: Richtig! Aber auch in Dresden sind es nicht Leute, die die Stimmung in der Stadt dominieren. Es sind Leute, die als Mob auftreten - da hat Herr Funke recht -, die etwas Beängstigendes haben, wenn man das sieht, aber sie sind nicht die dominanten Kräfte. Es wird dann problematisch - Sie können das in Sachsen im Augenblick sehr schön studieren an der schwierigen Situation des Ministerpräsidenten, der plötzlich so ein Stimmungselement in seiner eigenen Partei hat, durch den Fraktionsvorsitzenden der CDU in Sachsen. Dann wird es plötzlich unklar und da können Sie sehr schön sehen, wie diese beiden Stimmungstendenzen plötzlich in eine Art Konkurrenzsituation kommen und es dann plötzlich zu einer Stimmungslabilität kommt.
    Kapern: Heinz Bude, Soziologe an der Universität in Kassel, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Bude, vielen herzlichen Dank für Ihre Erläuterungen heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
    Bude: Ich danke Ihnen, Herr Kapern.
    Kapern: Einen schönen Tag und auf Wiederhören.
    Bude: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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