Samstag, 27. April 2024

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Film "Imagine"
Schule der Blinden

Andrzej Jakimowski erzählt in seinem aktuellen Film von dem Blindenlehrer Ian, der macht mit seinen Schülern ungewöhnliche Ausflüge in Alltagswelten. Der polnische Filmemacher zeigt, wie man mit den Ohren sieht.

Von Josef Schnelle | 02.01.2014
    "Haben Sie geklopft?" – "Nein, aber ich habe kurz darüber nachgedacht." – "Dr. Barillo hat Ihre Arbeit in den höchsten Tönen gelobt. Bitte berücksichtigen Sie, dass Sie Orientierung nicht alleine unterrichten können. Das ist sehr wichtig für die Sicherheit der Patienten."
    Der Blindenlehrer Ian tritt eine neue Stelle an. Seine Methoden sind eher unkonventionell und die Ansage des Schuldirektors hat einen Grund. Ian setzt auf die Kreativität des Hörens. Schließlich bildet das Hören die ganze Welt zwar anders, aber doch genauso vollständig ab wie das Sehen. Man muss den akustischen Zugang zur Welt nur ganz neu lernen wie eine unbekannte Sprache. Und so wird Ian auf Schüler losgelassen, die es gewohnt sind, sich mit Blindenstock und Demutsgesten durch ihr Behindertenleben durchzuschlagen. Doch vor der Begeisterung kommt die Skepsis. Und so spielen die jungen Schüler ihrem Lehrer erst einmal einen bösen Streich – mit einer Schnur, die er natürlich weder sehen noch ahnen kann und über die er stürzen muss. Ian ist enttäuscht von ihnen, will er doch seinen Schülern eine ganz neue Welt öffnen.
    "Warum?" – "Wir wollten wissen, ob Sie einen Stock benutzen, wenn niemand hinsieht." – "Woher soll ich denn wissen, dass niemand hinsieht. Ich bin blind. Und wieso benutzen Sie keinen Stock?. – "Blinde brauchen keinen Stock. Es sei denn, sie können sonst nicht laufen." – "Mit einem Stock wären Sie nicht gefallen." – "Aber ich habe euch gesagt, dass ich keinen benutze."
    Ungewöhnlicher Lehrer
    Bald werden Sie ihrem Lehrer in diesem Film von Andrzej Jakimowski alles glauben, ihm folgen wie Jünger einer neuen Glaubensrichtung. Ian macht mit ihnen ungewöhnliche Ausflüge in normale Alltagswelten, was sie sich zuvor alleine nie getraut hätten, und er gibt ihnen vor allem ein ganz neues Selbstbewusstsein und unerwartetes Weltverständnis. Bis dahin würde es sich nur um einen neuen Film des Genres von ungewöhnlichen Lehrern handeln, die ihre Schüler für Musik, Literatur oder Kunst begeistern. Doch die Welt der Blinden, die ohne Stock allein auf die Vorstellungskraft angewiesen sind, stellt den Film vor immer neue Darstellungsprobleme.
    Abenteuertour durch Einkaufsstraße
    Kann man filmisch wirklich den Blickwinkel der Blinden einnehmen? Alles ändert sich als Ian Eva kennenlernt, eine zaghafte mutlose Patientin. Ian überzeugt die erwachsene Frau, gespielt von der deutschen Schauspielerin Alexandra Maria Lara, ihm zu vertrauen. Für ein kurzes Blinzeln der Freiheit und ein paar Stöckelschuhe aus dem Schuhladen und begibt sie sich mit Ian auf eine Abenteuertour in eine belebte Einkaufsstraße. Schon wenige 100 Meter sind dabei ein großes Wagnis.
    "Eva, lass Dich von niemandem anrempeln. Komm mit. Fußgänger weichen Hindernissen aus, die direkt auf sie zukommen. Du musst nur Deinen Kurs schön halten."
    Wenn ein Schiff zu einer Mauer wird
    Der junge polnische Regisseur Andrzej Jakimowski, Vertreter einer ganz neuen Generation des traditionsreichen polnischen Kinos, hat sich mit diesem Film mutig und selbstgewiss auf eine ungewöhnliche Fährte des Kinos getraut. Wir, die Zuschauer, sehen scheinbar alles und können den Blinden doch nur dabei zuschauen, wie sie die Dominanz unserer visuellen Lebensweise mit Witz und Selbstvertrauen aushebeln. Ist Hören vielleicht das bessere Sehen? Die Lebens- und Liebeswelten, die man dann betritt, sind hingegen gar nicht so unterschiedlich zu den gängigen Kinokonventionen. Jakimowskis Film über den pädagogischen Eros, muss natürlich im Süden in Lissabon spielen, dort, wo das Leben und seine Experimente leicht sind. Am Ende zählt, das erklärt übrigens auch den Titel des Films, allein die Vorstellungskraft. Da wird ein Schiff zur großen Mauer und zu einer ganz besonderen Herausforderung für das Hören.
    "Was hörst Du?" – "Eine Mauer." – "Es ist eine sehr hohe Mauer. Es ist ein gewaltiges Schiff." – "Nein, Nein Nein. Ich hör nicht, dass es ein Schiff ist." – "Doch das hörst Du. Stell Dir vor, dass es zu Dir spricht. Zuerst musst Du es Dir vorstellen. Dann wird es auch sprechen und Du wirst es hören."