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Film-Uraufführung vor 50 Jahren
Geburtsstunde des militanten Kinos in Lateinamerika

"Die Feuer der Stunde" von Fernando Solanas war die erste revolutionäre, filmische Antwort auf die sich ausbreitenden Diktaturen in Lateinamerika. Durch seine originäre Form als Essay, Dokument und Agitation veränderte er das politische Kino des Kontinents. Er wurde in 70 Ländern gezeigt und erhielt zahlreiche Preise.

Von Peter B. Schumann | 02.06.2018
    Fernando E. Solanas steht vor Palmen bei den Cannes Filmfestspielen 2015
    Der Regisseur Fernando E. Solanas (imago stock & people)
    "Lateinamerika: Kontinent im Kriegszustand. Für die herrschende Klasse: ein Unterdrückungskrieg. Für die unterdrückten Völker ein Befreiungskrieg."
    Mit dieser Botschaft beginnt einer der berühmtesten Filme Lateinamerikas: "La Hora de los Hornos" / "Die Stunde der Feuer" von Fernando Solanas. Er traf den Nerv der 68er-Generation, die in vielen Ländern gegen erstarrte, autoritäre Gesellschaftsstrukturen und einen repressiven Staatsapparat rebellierte. In Italien, auf dem Filmfestival in Pesaro, fand am 2. Juni 1968 seine Uraufführung statt. Kurz danach zeigten ihn die "Freunde der Deutschen Kinemathek" in Berlin. In Argentinien ist er gedreht worden. Er konnte jedoch dort lange nicht gezeigt werden, denn es herrschte Diktatur. Fernando Solanas:
    "Damals erkannte meine Generation die Notwendigkeit, unsere Geschichte kritisch zu überdenken. Hinzu kamen die Kubanische Revolution, Che Guevara, Lumumba in Afrika: antikoloniale Ideen. Es war eine nationale Bewusstseinsbildung mit dem Ziel einer nationalen Befreiung. Deshalb hielt ich es für notwendig, den politisch-historischen Prozess dieser Zeit zu dokumentieren."
    4,5 Stunden dauert das Werk, das Fernando Solanas zusammen mit dem Co-Autor Octavio Getino konzipierte. Im ersten Teil "Neokolonialismus und Gewalt" wird die Ausbeutung Argentiniens als Beispiel für Lateinamerika analysiert. Der zweite Teil "Chronik des Peronismus" schildert den Aufstieg von General Perón an die Macht und die Ausbreitung der bis heute wichtigsten Massenbewegung Argentiniens sowie den Widerstand nach seinem Sturz. Der dritte Teil "Gewalt und Befreiung" ist pure Agitation: ein Aufruf zum bewaffneten Kampf.
    Das Handwerk der perfekten Bildgestaltung
    Fernando Solanas wurde 1936 als Sohn einer bürgerlichen Familie in Buenos Aires geboren. Ein Jahrzehnt später erschien Perón auf der politischen Bildfläche und prägte das Argentinien seiner Jugend. Solanas studierte Kunst, Musik und Theater, bis er sich ab 1965 den Film zu eigen machte, wenn auch zunächst nur als erfolgreicher Werbefilmregisseur. Hier lernte er das Handwerk der perfekten Bildgestaltung, das "La Hora de los Hornos" und seine späteren Dokumentar- und Spielfilme auszeichnet.
    Über weite Strecken besteht der Film aus einem ruhig dahinfließenden Strom von erschreckenden Bild- und Tondokumenten und einem sachlichen Kommentar.
    Doch immer wieder lässt Fernando Solanas Bild und Ton in wilden Collagen explodieren und packt den Zuschauer auf emotionale Weise – wie in dieser Sequenz. Hier unterschneidet er Aufnahmen von US-amerikanischen Gräueltaten an der vietnamesischen Zivilbevölkerung mit Fotos von der herrschenden Klasse in den USA.
    Befreiung des Kinos von seinen kommerziellen Fesseln
    Cine Liberación / Kino-Befreiung nannte sich alsbald die Gruppe um Solanas. Und darum ging es ihr: um die Befreiung des Kinos von seinen kommerziellen Fesseln und um die Befreiung Argentiniens von der Militärdiktatur sowie der Dritten Welt vom Neokolonialismus. Es war die Geburtsstunde des militanten Kinos in Lateinamerika, die Revolutionierung des Filmemachens. Darin liegt die bleibende Bedeutung dieses dokumentarischen Epos. Denn über die politische Zielrichtung ist längst die Zeit hinweggegangen. Das ist auch Fernando Solanas bewusst.
    "Die Stunde der Feuer stellt ein Stück Geschichte dar, zum Beispiel die des Peronismus. Die Teile, die sich auf die Revolution beziehen, haben keine Bedeutung mehr: Der bewaffnete Kampf ist vorbei. In Argentinien herrscht Demokratie, wir können debattieren und demons-trieren. Die Regierung ist zwar miserabel, korrupt und reaktionär, aber niemand käme auf die Idee, sie mit Gewalt zu stürzen. Die Stunde der Feuer kann man nur noch im historischen Kontext bewerten."
    Ein revolutionärer Film ist zum Klassiker geworden. Und zu einem Dokument bleibender Mahnung, des fortdauernden Aufbegehrens gegen all jene Probleme, deren Verursacher heute wie damals die gleichen sind.