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Flucht vor dem IS
Der Exodus der Christen vom Nordsinai

Die Terrormiliz "Islamischer Staat" hat angekündigt, ihre Angriffe auf die christliche Minderheit in Ägypten zu verstärken. Seitdem fliehen die Menschen aus dem Nordsinai. Und trauern den Zeiten nach, als sie gut und vertrauensvoll mit ihren muslimischen Nachbarn in ihrer alten Heimat zusammenlebten.

Von Jürgen Stryjak | 18.03.2017
    In einer evangelischen Kirche in Ismailia untergebrachte Frauen.
    In einer evangelischen Kirche in Ismailia untergebrachte Frauen. (Momen SAMIR / AFP)
    Auf dem Hof der evangelischen Kirche in Ismailiyya sitzen Schulkinder in der Frühlingssonne, sie lachen, trinken Cola und machen ihre Hausaufgaben. Die Kinder gehören zu Familien, die in Todesangst aus ihrer Heimatstadt geflohen sind, aus dem 200 Kilometer entfernten Al-Arish.
    Zu den Geflüchteten gehört auch die Witwe Magda Boutrus, die mit ihrer Familie fast 40 Jahre lang in Al-Arish lebte – bis ihr Sohn Wael am 30. Januar ermordet wurde. Damals stürmten Männer in seinen Krämerladen und töteten Wael kaltblütig. Die Flucht war für Magda Boutrus ein Abschied für immer.
    "Zu wem soll ich zurückkehren? Ich hatte dort einen Sohn, der sich um mich kümmerte, der mir Medizin holte, wenn ich krank war, und mich tröstete. Das ist vorbei. Nie wieder werde ich Al-Arish betreten. Die Stadt hat mir meinen Sohn genommen. Es gibt kein Zurück mehr."
    Es waren keine Morde, sondern Hinrichtungen
    Die Attentäter gehören zu einer Terrorgruppe, die im Norden der Halbinsel operiert, in und um Al-Arish, in der Nähe zum Gaza-Streifen. Die Gruppe hat sich 2014 dem so genannten "Islamischen Staat" angeschlossen.
    Als Wael ermordet wurde, war seine Mutter im Obergeschoss des Hauses, in dem sich auch der Krämerladen befindet.
    "Abends um halb neun kamen vier vermummte Männer in den Laden. Einer postierte sich draußen auf der Straße, ein zweiter am Eingang. Die beiden anderen zerrten meine Schwiegertochter auf die Straße, und dann schossen sie mit einer Kalashnikov auf meinen Sohn, sechs Kugeln, sie haben ein Sieb aus ihm gemacht. Danach nahmen sie sich Getränke aus dem Kühlschrank und Kartoffelchips. Sie haben gegessen und getrunken, als ob nichts gewesen wäre."
    Stunden später flohen Magda Boutrus und die Familie in Panik aus der Stadt, nur mit den Sachen, die sie auf dem Leib hatten.
    Im Januar und Februar ermordeten die Terroristen mindestens sieben ägyptische Christen in dem Ort. Es waren keine Morde, sondern Hinrichtungen.
    Dieses Miteinander ist Vergangenheit
    Alle befragten christlichen Flüchtlinge schwärmen vom Verhältnis zu ihren muslimischen Nachbarn. Es hat offenbar auch in Al-Arish einen Alltag gegeben, der noch nicht von Politik, radikalen Ideologien und von den Extremisten vergiftet worden war.
    "Unser Verhältnis war so gut, das kann man sich gar nicht vorstellen. An Festtagen haben sie uns Fleisch und Gebäck gebracht. Als mein Enkelkind einen Unfall hatte, haben ihn die Muslime im Krankenhaus besucht und uns Hilfe angeboten."
    Doch dieses Miteinander ist Vergangenheit. Nach Angaben der Behörden sollen bis Anfang März rund 250 christliche Familien Al-Arish verlassen haben. Vermutlich sind aber inzwischen fast alle der insgesamt rund 2.500 Christen geflohen. Als die IS-Terroristen Mitte Februar damit begannen anti-christliche Drohbotschaften zu verbreiten, da entstand Panik.
    Die geflohenen Christen gehören fast ausnahmslos der orthodoxen Koptischen Kirche an. Trotzdem sind die ersten 195 Familien zur kleinen Evangelischen Gemeinde in Ismailiyya gekommen. Wie sollen wir den fast 200 Familien helfen, fragte sich damals Nabil Shokrallah, der Pfarrer.
    "Als ich zur Kirche fuhr, um die ersten Flüchtlinge zu versorgen, da hatte ich von Zuhause vier Decken mitgenommen und ins Auto gepackt. Da liegen sie immer noch. Der Herr hat uns alles geschickt, was wir brauchen."
    Die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung sei überwältigend gewesen. Auch der Staat hat inzwischen reagiert. Er hat rund 100 Arbeitsplätze organisiert und die ersten 120 Wohnungen bereitgestellt.
    Das Grundvertrauen ist weg
    Wenn dieser Kopte allerdings Recht hat, dann sind damit die meisten der aus Al-Arish geflüchteten Christen längst noch nicht versorgt. Ihre Zahl sei einfach zu hoch. Der Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte, kehrt immer noch regelmäßig nach Al-Arish zurück. Er sagt, dass von ursprünglich 540 koptischen Familien nur noch sieben in der Stadt geblieben seien.
    An eine Rückkehr der Christen in ihre Heimatstadt glaubt er nicht.
    "Nach den ersten Morden kamen Muslime zu mir und sagten: Komm in mein Haus, wenn du Angst hast. Andere haben gefragt: Worauf wartest du? Wäre es nicht besser, wenn Du Deine Familie nimmst und sie in Sicherheit bringst? Aber ich habe nie wirklich gewusst, ob sie sich Sorgen machen oder ob sie froh sind, wenn sie dich los sind."
    Das Grundvertrauen ist also weg.
    In der Jugendherberge von Ismailiyya wurden Dutzende der aus Al-Arish geflüchteten Familien untergebracht. Zu ihnen gehört auch die Familie von Rami Makram. Der 37-jährige Taxifahrer glaubt nicht, dass Armee und Polizei derzeit gegen die Extremisten in seiner Heimatstadt eine Chance haben.
    "Man kämpft gegen Unbekannte. Sie leben mitten unter uns. Sie tragen normale Kleidung und kommen unentdeckt durch die Checkpoints. Zwischendurch töten sie, und danach tarnen sie sich wieder. Die Terroristen, die Wael ermordeten, haben in aller Ruhe Softdrinks getrunken und Chips gegessen, als wollten sie damit sagen: ‚Wir fürchten uns weder vor euch, noch vor der Polizei.‘"
    Vielleicht würden die ermordeten Christen, wie zum Beispiel der Händler Wael, noch leben, wenn sie eher weggegangen wären.
    "Wael war einer meiner besten Freunde. Vor zwei Jahren hatte er schon einmal eine Drohung bekommen. Wir haben ihm damals geraten wegzugehen. Aber er hatte es abgelehnt."