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Flüchtlingsroute ab Alexandria
Überfahrt auf Pump

In dieser Woche sind schon wieder Schiffe mit Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Italien gesunken. Die neue Tragödie im Mittelmeer zeigt, dass andere Flüchtlingsrouten weiter genutzt werden, trotz der Blockade der Balkanroute. In der Hafenstadt Alexandria, das wie eine Art "Klein-Damaskus" wirkt, beginnt die ägyptische Route.

Von Sabine Rossi |
    Drei Jungen angeln am Mittelmeer in Ägypten
    Am Mittelmeer in der Hafenstadt Alexandria, Ägypten (Wafaa El-Badry)
    Der Stadtteil "Sechster Oktober" in der nordägyptischen Stadt Alexandria könnte auch "Klein-Damaskus" heißen. Hier leben viele Menschen aus Syrien. In den Geschäften gibt es syrisches Gebäck, syrische Schawarma, syrische Falafel.

    Abu Nimr hat vor einem Jahr seine Frau und zwei Töchter über das Mittelmeer geschickt. Ihr Boot nahm von Ägypten aus Kurs auf Italien, just zu der Zeit, als im Kanal von Sizilien ein völlig überfülltes Schiff sank – eines der schlimmsten Bootsunglücke im Mittelmeer. Im Fernsehen sah Abu Nimr die Berichte und hörte von den hunderten Toten und Vermissten.
    Farbfoto eines Mannes von hinten vor einem Fenster, der Syrer Abu Nimr, Flüchtling in Alexandria, Ägypten
    Der Syrer, Abu Nimr, Flüchtling in Alexandria, Ägypten (Anne Allmeling )
    "Ich bin fast verrückt geworden. Mein Kopf war so schwer. Ich habe im Internet gesucht, auf Facebook, bis ich wusste, dass sie am Leben waren und dass es nicht ihr Boot war, das gesunken ist."
    Mit Zinsen zurückzahlen
    Alexandria, von wo Abu Nimrs Frau und Töchter aufgebrochen sind, ist die Drehscheibe für Schlepper und Schleuser in Ägypten. Hier organisieren sie ihr Geschäft. Die Boote mit den Flüchtlingen legen in kleinen Orten und Buchten östlich von Alexandria ab. Im Nildelta, dort, wo Polizei und Sicherheitskräfte nicht so präsent sind. Abu Nimr hat sich das Geld für die Überfahrt seiner Frau und der Töchter geliehen. Mit Zinsen muss er es zurückzahlen.
    "Wenn sie für dich 4000 Dollar bezahlen, musst du ihnen 5000 Dollar zurückgeben. Sie zahlen hier für dich und sammeln das Geld in Europa ein. Da haben sie Verwandte, um sicherzustellen, dass sie ihr Geld auch später bekommen."
    Mit 5000 Dollar steht Abu Nimr in der Schuld seiner Gläubiger. Für seine Frau und die ältere Tochter musste er bezahlen. Die jüngste Tochter war noch so klein, dass ihre Überfahrt gratis war.
    Das System sei ausgeklügelt, sagt Muhammad al-Kashef von der "Ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte". Für die Nichtregierungsorganisation berät er Flüchtlinge in Alexandria. Hin und wieder besucht er Abu Nimr.
    "Die Syrer bezahlen für die Fahrt nicht vorab. Sie hinterlassen das Geld bei einer dritten Person. Die gibt es erst weiter, wenn die Flüchtlinge an den Küsten Europas angekommen sind."
    Farbfoto eines Mannes mit Handy, der mit einer Frau skypt, Alexandria, Ägypten
    Der Syrer Abu Nimr, Flüchtling in Alexandria, Ägypten, skypt mit seiner Frau, die schon in Deutschland ist (Anne Allmeling )
    Ein Bürgschaftssystem, mit dem die Schlepper auf langfristige Aufträge setzen. Es spricht sich herum, wenn die Flüchtlinge unbeschadet in Europa ankommen – und das bringt neue Kunden. Von den Hintermännern, die an dem Geschäft mit der Flucht verdienen, ist wenig bekannt. In Alexandria kursieren ihre Decknamen. Ihnen untergeordnet sind Schlepper, Schleuser und Vermittler, sagt Muhammad al-Kashef, bis hinunter in die diversen Flüchtlingsgemeinschaften.
    "Das Schleppernetz in Ägypten besteht aus einem Makler, der aus den Reihen der Flüchtlinge selbst kommt und unter ihnen lebt. Ihm kommen viele Aufgaben zu. Er schaut nach, wer fahren möchte. ... Dann bringt er die Flüchtlinge mit den zuständigen Vermittlern zusammen."
    Jede Flüchtlingsgemeinschaft hat ihre eigenen Makler: Somalier, Eritrea, Äthiopier und Sudanesen. Die Zahl der Syrer hat zuletzt abgenommen, denn sie erhalten seit gut zwei Jahren keine Visa mehr für Ägypten.
    Für zehn Flüchtlinge, die ein Makler an einen Schlepper vermittelt, erhalte er selbst einen Platz auf einem Boot, sagt Muhammad al-Kashef. Manch einer versuche so, seine Familie nach Europa zu schicken.
    Ägyptens Polizei und die Armee sind in und um Alexandria wachsam, ebenso an den Landesgrenzen zu Libyen und zum Sudan. Sie fürchten, dass mit den Flüchtlingen auch Terroristen ins Land kommen. Beinahe täglich berichten ägyptische Medien, dass Polizei und Küstenwache Flüchtlingsboote aufgegriffen haben. Mal haben sie 20 Menschen in Gewahrsam genommen, mal sind es 60.
    Für Abu Nimr ist an eine Fahrt mit dem Boot nach Europa nicht zu denken. In seiner Heimat Syrien hatten Unbekannte auf ihn geschossen. Nur knapp hat er überlebt; noch immer hat er Projektile im Körper und muss regelmäßig zum Arzt.
    Seine Frau und die beiden Töchter leben inzwischen in Deutschland. Dorthin reisten sie weiter, nachdem ihr Boot die Küste Italiens erreicht hatte. Nach Griechenland starten von Ägypten aus deutlich weniger Boote als nach Italien, auch wenn die griechischen Inseln sehr viel näher sind. Die Flüchtlinge haben gehört, dass die Reise über die Balkanroute so gut wie unmöglich ist. Und in Griechenland selbst könne doch keiner leben, sagt Abu Nimr.