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Formale Meisterwerke der Fotografie

Im Mannheimer Riss Engelhorn Museum wird die Gernsheim Collection gezeigt mit Meilensteinen der Fotogeschichte. Und auch mit einem Sensationsbild, das nur selten gezeigt wird: der ersten offiziellen Fotografie der Kulturgeschichte mit Joseph Nicephore Niepces Blick aus dem Fenster bei Le Gras von 1826.

Von Christian Gampert | 08.09.2012
    Die Ausstellung ist inszeniert wie eine langsame Annäherung ans Allerheiligste: Über die verschiedenen Kapitel und Bildgenres wie Porträt, Stillleben, Bildjournalismus, Dokumentarismus, Ethnofotografie, Stadt und Landschaft geht man dem Anfang des Mediums entgegen, der ersten Fotografie der Welt – dem "Blick aus dem Fenster in Le Gras" von Joseph Nicéphore Niépce aus dem Jahr 1826.

    Es handelt sich um eine Heliografie - zu Deutsch: Sonnenzeichnung -, die im letzten, stark abgedunkelten Raum wie auf einem Hauptaltar zentral dargeboten wird.

    Wenn man ganz ehrlich ist, muss man zugeben, dass man zunächst gar nicht so viel sieht. Es bedarf der meditativen Versenkung, man muss den richtigen Blickwinkel finden, leicht seitlich von oben zumeist, um die schemenhaften Umrisse eines Gehöfts zu erkennen. Das Motiv ist als "Direktpositiv" auf einer Zinnplatte fixiert, erklärt Kuratorin Stephanie Oeben.

    "Diese Zinnplatte hat Niepce mit Asphalt beschichtet und dann dem Sonnenlicht ausgesetzt in einer Kamera. Und das Sonnenlicht hat eben den Asphalt ausgehärtet. Und die nicht belichteten Stellen konnten aber hinterher wieder in einer Lösung aus Terpentin und Lavendelöl abgewaschen werden. Und das ist eben dieses Direktpositiv, das nicht vervielfältigt werden kann, und das sehen wir hier in der Ausstellung."

    In der Digitalepoche wirkt so etwas wie ein Relikt aus uralten Zeiten. Und es stellt sich beim Betrachter dann doch so etwas wie Demut und Achtung ein vor diesem Erfindergeist, der die Welt auf Platte bannt.

    Von solchen Gefühlen müssen auch Helmut und Alison Gernsheim beseelt gewesen sein, deren Sammlung historischer Fotografie hier als Konzentrat dargeboten wird. Der als sogenannter Halbjude nach England emigrierte Helmut Gernsheim machte die Heliografie von Niépce 1952 nach jahrelanger Recherche in einem Schrankkoffer in London ausfindig. Und konnte nachweisen, dass sie zwölf Jahre älter war als die erste Daguerrotypie, die bis dahin als Beginn der Fotogeschichte galt.

    Gernsheim selber war ausgebildeter Fotograf, eine wunderbare, übrigens von Aby Warburg in Auftrag gegebene, sich schneckenartig verengende Wendeltreppenansicht aus der Saint-Pauls-Cathedral ist als Beispiel seiner Arbeit ausgestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber wurde das Ehepaar Gernsheim derart vom Sammelfieber ergriffen, dass die beiden wirklich massenhaft historische Fotografien kauften, die damals noch billig zu haben waren.

    Allerdings hatten die Sammler einen unbestechlichen Blick: Sie erwarben, vom Piktorialismus bis zu Sachfotografie, Sozialfotografie und Dokumentarismus, nur beste Konvolute epochespezifischer Bildgestaltung.

    Ihre rund 35.000 historischen Originalfotos verkauften die beiden 1963 an die Universität Texas. Die von Helmut Gernsheim später gesammelte zeitgenössische Fotografie kam nach seinem Tod mit etwa 5000 Exemplaren an das Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum.

    Dort präsentieren nun die Kuratoren Claude Sui und Stephanie Oeben eine Auswahl aus beiden Sammlungsteilen. Und natürlich ist das nur die Spitze des Eisbergs: Es werden hier ausschließlich formale Meisterwerke ausgestellt, von Gustave Le Grays piktorialer "Brigg auf dem Wasser" von 1856 bis zu Herbert Pontings gestochenem scharfem Segelschiff an der Packeisgrenze von 1910. Von den Künstlerporträts bis zu den Studien von Arbeitslosen und Depravierten, von Neuentdeckungen aus der Architektur-, Landschafts- und sogar Modefotografie bis zu Klassikern wie Alfred Eisenstaedts Kuss auf dem Times Square in New York von 1945. Die Farbfotografie kommt nur ganz am Rande vor, aber auch sie in hervorragenden Beispielen, etwa Dean Chamberlains fanalhafter, lichtmalerischer Pflanzenfotografie.

    Sowieso liest sich die Künstlerliste wie ein Kompendium der Fotogeschichte. Und das will diese Ausstellung ja auch sein. Problematisch ist allenfalls die Art der Präsentation: Es wurde nach Themen gehängt, also Porträt, Landschaft, inszenierte Fotografie, Theaterfotografie. So kommt es, dass innerhalb der einzelnen Abteilungen die Epochen und Stile wild gemischt sind, sich aber reizvolle Querverbindungen ergeben. Für den Betrachter ist das anstrengend, aber ein bisschen Arbeit darf man in diese Ausstellung durchaus investieren.