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Fortschritt als permanenter Rückschritt

Paul Virilios Essay "Die panische Stadt" gipfelt in der These, "dass die Stadt die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war". Die Metropole sei die "Zeitgenossin unserer Fortschrittsdesaster".

Von Klaus Englert | 07.04.2008
    Der Philosoph und Architekt Paul Virilio stimmt in seinem neuen Buch "Die panische Stadt" den Abgesang auf die europäische Stadt an. Es ist nicht lange her, als sie noch als wichtige zivilisatorische Errungenschaft, als Ort des sozialen Ausgleichs, als öffentlicher Raum für alle - für Arm und Reich, für Alt und Jung - galt. Für den Niedergang der europäischen Stadt wird allgemein das aufkommende "städtische Management" verantwortlich gemacht, über dessen Wohl und Wehe vornehmlich global agierende Immobilienspekulanten entscheiden. Kommunale Stadtplanung zieht sich zurück und überlässt das Feld mehr und mehr international agierenden developern.

    Paul Virilio versucht nun die Akzente weiter zu verschieben. Sein Essay "Die panische Stadt", dem eine bessere deutsche Übersetzung dringend zu wünschen wäre, gipfelt in der These, "dass die Stadt die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war". Weiter: "Die Metropole ist die Zeitgenossin unserer Fortschrittsdesaster." Diese Aussage bleibt natürlich erklärungsbedürftig, vor allem weil sie von einem Architekten stammt, der von 1972 bis 1975 Studienleiter an der Pariser "École spéciale d'architecture" war. Virilio beklagt weniger den Klammergriff privater Investoren, den sie um die Städte legen. Er diagnostiziert eine "krankhafte Regression der Stadt", die offenbar tiefer reicht als das Krebsgeschwür des Spekulantentums. Sie machte sich bereits unter dem legendären Pariser Stadtpräfekten Baron Haussmann bemerkbar, der vor 150 Jahren breite Schneisen durch die wuselige und dunkle Altstadt der französischen Kapitale schlug. Haussmanns Strategie sieht Virilio in einer Politik der "tabula rasa", die er 90 Jahre später in den Äußerungen der Schriftstellerin Elsa Triolet wiederfindet, die über das kriegszerstörte Berlin bemerkte:

    "Man müßte reinen Tisch machen, alles platt machen, ausputzen, desinfizieren und dann, als hätte noch nie etwas an diesem Ort gestanden, alles von vorn anfangen. In Fällen wie diesem könnte vielleicht sogar die Atombombe ihre Nützlichkeit erweisen."

    Im 20. Jahrhundert ist die Stadt nicht mehr einfach der Ort zivilisatorischen Fortschritts, sie wird zur Zielscheibe militärischer Vernichtungsschläge. Dafür stehen Belgrad, Beirut, Ramalah und neuerdings die irakischen Städte Mossul und Kerbala, die unweit der Zentren der frühen Hochkulturen von Ninive und Babylon liegen. Die Missachtung städtischer Zivilisation findet sich überall. Die "krankhafte Regression der Stadt" sieht Virilio vor allem in Nordamerika, wo sich 30 Millionen Menschen, angeblich wegen mangelnder sozialer Sicherheiten, in ihre Privatstädte - ihre "gated communities" - eingeschlossen haben, beschützt von Elektrozäunen, Kameras und Wachpersonal. Aber auch in Frankreich registriert Virilio eine rapide Zunahme von Überwachungskameras an öffentlichen Orten.

    Die Heraufkunft der "panischen Städte", die sich von der chaotischen Welt abschließen, nennt Paul Virilio in einem Atemzug mit der "hysterischen Globalisierung". Denn bewehrte Privatstädte und Shopping-Malls sind längst nicht mehr eine amerikanische Besonderheit. Und so erwähnt Virilio auch das irrwitzige Vorhaben der Regierung von Dubai, im Persischen Golf ein Archipel aus 300 künstlichen Inseln zu errichten: "The World" - so der Name des Megaprojekts - soll die Erde en miniature für die Superreichen der Welt wieder entstehen lassen. Virilio meinte vor drei Jahren noch, die Kosten dieses "Luxus-Gulag" beliefen sich auf 1,8 Milliarden Dollar. Mittlerweile sind sie bereits auf 7,8 Milliarden Dollar emporgeschnellt. Selbst renommierte europäische Architekten beteiligen sich an solch irrsinnigen Gigantomanien. So plant derzeit der Holländer Erick van Egeraat auf Wunsch Präsident Putins eine zusammengeschrumpfte Kopie von "The World" fürs Schwarze Meer: Die künstliche Inselgruppe, ein Privatressort für Russlands Wirtschaftsoligarchie, soll "Federation Island" heißen und dabei den Grundriss der Russischen Föderation abbilden.

    Paul Virilio untersucht nicht nur, wie der physische Stadtkörper zusehends technologischer Kontrolle ausgesetzt, und wie die "panische Stadt" erst durch die Strategien der Panikvermeidung erzeugt wird. Wie in seinen früheren Büchern widmet sich Virilio vor allem der allseitigen massenmedialen Konditionierung, jener geistigen Gleichschaltung, die in der "Militarisierung der Information" nach dem 11. September 2001 gipfelt. Virilio geht es in seinem Essay folglich um eine doppelte Zurichtung: um die moderne Stadt im Zugriff höchst effektiver Kontroll- und Vernichtungstechniken. Schließlich um den Bürger, der den austauschbaren Fernsehbildern der heutigen Massenmedien ausgesetzt ist. Diese bewirken - darauf kommt Virilio immer wieder zurück -, dass die individuellen Gefühle gleichgeschaltet und die öffentlichen Meinungen standardisiert werden.

    Gibt es einen Ausweg aus der "panischen Stadt"? Einen Ausweg aus der medientechnischen Konditionierung der Individuen? Der Fortschrittspessimist Virilio sieht ihn nur im gänzlich unvorhersehbaren und unprogrammierbaren Ereignis:

    "Heute, wo die Übermacht der Massenmedien alle Vorbilder und Muster in Echtzeit einholt, kann das Ereignis einzig ein Kontinuitätsbruch sein, ein unzeitgemäßer Unfall, der die Monotonie einer Gesellschaft durchbricht, in der die Gleichschaltung der Meinungen geschickt die Standardisierung der Produktion ergänzt."

    Gibt es wirklich ein Ereignis, das die Bedrohung der Städte aufzuhalten vermag? In seinem Essay beruft sich Virilio auf den Brief von 27 israelischen Piloten, die sich ausdrücklich gegen die militärische "Anti-Stadt-Strategie" wandten und die Luftangriffe auf palästinensische Siedlungen aufkündigten. Und was wäre ein Ereignis in den Massenmedien? Paul Virilio schweigt sich dazu aus. Das ist allzu verständlich, spricht er doch undifferenziert von einem "Fernsehterror", der einen "globalen Totalitarismus" erzeugt. Leider übersieht Virilio bei seiner pauschalen Verdammung der Kommunikationstechnologien, dass die neuen Medien durchaus auch schöpferische Möglichkeiten bieten. Ein anderer Pariser Philosoph, der bereits verstorbene Jacques Derrida, hat einmal in einem Fernsehgespräch die Hoffnung geäußert, der deutsch-französische Sender Arte könne sich vielleicht einmal jenseits von Quoten- und Kommerzdruck entwickeln und eine Vielfalt von Idiomen erzeugen. Seine Ausführung beschloss er mit den Worten:

    "Man muss das scheinbar Unmögliche möglich machen. Man muss versuchen, im Fernsehen Dinge zu machen, mit denen man auf die Nase fallen kann."


    Paul Virilio: Panische Stadt
    Aus dem Französischen von Maximilian Probst
    Passagen-Verlag, Wien
    147 Seiten, 19,90 Euro