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Gelehrter, Dichter und Komponist

Auf der heute für ihre Blumen bekannten Insel Reichenau lebten vor 1000 Jahren Benediktinermönche im Kloster Reichenau. Aus ihrer Mitte stammt der für seine bloße Gelehrsamkeit berühmt gewordene Hermann von Reichenau, genannt Hermann der Lahme.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Ob das "Salve Regina", die heute noch in jedem Benediktinerkloster gesungene Anrufung der Gottesmutter, wirklich von ihm stammt, ist umstritten. Aber für Hermann von Reichenau sprechen viele Indizien. Er war schließlich einer der begabtesten und gebildetsten Dichter seiner Zeit, die uns aus tausendjährigem Abstand in vielerlei Hinsicht fremd und rätselhaft ist. Dass wir jedoch über diesen Benediktinermönch auf der Klosterinsel Reichenau im Bodensee relativ viel wissen, verdankt sich vor allem seinem Schüler und Biografen Berthold, der ihn wie folgt beschrieb:

    "Er war derart durch die Grausamkeit der Natur an den Gliedmaßen verrenkt, dass er sich von der Stelle, auf die man ihn niedersetzte, nicht ohne Hilfe wieder wegbewegen, noch sich auf die eine oder die andere Seite wenden konnte."

    Ein Krüppel also, ein Schwerstbehinderter: Die überlieferte Symptomatik wird von heutigen Medizinern als jugendliche Form der ALS, der amyotrophen Lateralsklerose gedeutet – die Krankheit des englischen Physikers Stephen Hawking. Tatsächlich konnte sich auch Hermann nicht mündlich artikulieren, erwies sich aber mit Hilfe von Schrifttafeln als hellwacher Konversationspartner.

    "In einem Tragsessel von seinem Diener niedergesetzt, konnte er kaum gekrümmt sitzen zu irgendwelcher Tätigkeit. – In diesem Sessel war dieses nützliche und wundersame Werkzeug der göttlichen Vorsehung, wiewohl er gelähmt an Zunge, Lippen und Mund, nur gebrochene und kaum verständliche Töne langsam hervorbringen konnte, ein beredter und eifriger Verteidiger seiner Lehrsätze, munter und zierlich in der Rede, äußerst schlagfertig in der Gegenrede und zur Beantwortung von Fragen stets willfährig."

    Arno Borst:
    "Dass ein solcher Behinderter, ein Mensch, der nach den normalen, auch nach den mittelalterlichen Maßstäben zu nichts nütze gewesen ist, zum führenden Gelehrten seiner Zeit wird, und zwar anscheinend ohne dass um ihn herum eine sehr große Aufbruchsstimmung an Gelehrsamkeit geherrscht hätte, das kam mir so ungewöhnlich vor, dass ich nachfragen wollte. Was diese arithmetische Arbeit Hermanns mit seiner zum Beispiel musiktheoretischen zu tun hat, mit seiner astronomischen Tätigkeit, mit seiner Komposition von liturgischen Hymnen, mit der Abfassung eines Heiligenbuches. Wie kommt denn ein solcher Mensch dazu, in so vielen Feldern sich zu betätigen und wo liegt denn etwa die gemeinsame Wurzel?"

    Der vor sechs Jahren verstorbene Mittelalterforscher Arno Borst, der auch Hermanns Schriften herausgegeben hat, hielt den Reichenauer Mönch für ein Allroundgenie vom Schlage Leonardo da Vincis. Er dichtete und komponierte, er entwickelte sogar eine eigene Notenschrift, die sich jedoch gegen diejenige, die Guido von Arezzo fast gleichzeitig erfand, nicht durchsetzte; er machte den Abakus, das antike Rechenbrett populär, und er konstruierte eine mobile Sonnenuhr für Hirten, mit der sich auch Minuten – die Unterteilung der Stunde geht auf ihn zurück – messen lassen, wie er überhaupt von der Zeit im Großen und im Kleinen geradezu besessen war. Nicht von ungefähr verfasste er auch eine mit dem Jahr 901 beginnende Weltchronik. Deren Eintrag für das Jahr 1013 lautet:

    "Nach dem Ableben von Papst Sergius saß als 147. Papst zu Rom auf dem Heiligen Stuhle Benedikt VIII., ungefähr zwölf Jahre. Ich, Hermann, ward am 18. Juli geboren. König Heinrich geht mit der Armee nach Italien."

    Die Quellen seiner Geschichtsschreibung hatte Hermann im Hause. Das Kloster Reichenau, dessen erste Blütezeit schon zwei Jahrhunderte zurücklag, verfügte dank seiner berühmten Buchmaler- und -abschreiberschule über die größte Bibliothek der damaligen Welt. Es war die Elite-Universität schlechthin.

    Hier wurde der 7-jährige Hermann, Sohn eines schwäbischen Grafen, im September 1020 aufgenommen, wahrscheinlich weil seine Eltern das behinderte Kind loswerden wollten. Dass Abt Berno dem Knaben, der alsbald Hermannus Contractus, Hermann der Lahme, genannt wurde, besondere Fürsorge widmete, war alles andere als selbstverständlich; auch und gerade fromme Menschen sahen in Behinderten damals göttlich Gestrafte.

    Hermannus aber wurde in den verbleibenden 34 Jahren seines Lebens zu einem allseits geachteten Gelehrten, der schon in seiner Epoche eine frühe Vorahnung vom wissenschaftlichen Denken der Neuzeit hatte. Er starb am 24. September 1054.