Archiv

Geologie
Wie Gesteinslawinen zu Sturzströmen werden

Wenn man Sand auf einen Tisch streut und diesen dann leicht schräg stellt, rutschen die Sandkörner nur ein kleines Stück hinunter. Klopft man allerdings zusätzlich ein wenig auf die Tischplatte, kommt der Sand viel weiter ins Rutschen. Einen ganz ähnlichen Effekt kann es bei großen Gesteinslawinen geben.

Von Lucian Haas |
    Erdrutsch im Umfeld einer Jade-Mine in Hpakhant bei Kachin/Myanmar am 22.11.2015.
    Ein Erdrutsch in der Nähe von Myanmar - Sturzströme sind meist noch schwerwiegender. (AFP PHOTO)
    Ein fulminanter Erdrutsch in den kanadischen Rocky Mountains. Tausende Tonnen Gestein rauschen den Hang hinunter und fließen auch im flachen Talboden noch kilometerweit voran. Geologen wie Brandon Johnson von der Brown University in Rhode Island nennen solche Ereignisse Sturzströme.
    Brandon Johnson: "Sturzströme sind weit reichende Erdrutsche. Sie ähneln Flüssen aus Gestein, bei denen das Geröll wie Wasser dahinfließt."
    Sturzströme haben eine Besonderheit. Normalerweise gilt für Erdrutsche die Daumenregel, dass der Ausfluss im Flachen etwa doppelt so weit reicht wie die ursprüngliche Fallhöhe. Rutschen Gesteinsmassen 300 Meter einen Hang hinunter, läuft die Gesteinslawine nach 600 Metern im Tal aus. Bei Sturzströmen ist das anders. Hier fließen die Felsmassen wasserfallartig viel weiter ins Flache hinaus, bis zum Zehn- bis Zwanzigfachen der Fallhöhe. Wie es dazu kommt, dafür gab es bisher nur unzureichende Erklärungen.
    Johnson: "Eine der ersten Hypothesen war, dass die Erdrutsche Luft unter sich einfangen und darauf weiterrutschen wie ein Luftkissenfahrzeug. Andere Theorien rechneten damit, dass schmelzendes Eis oder andere Flüssigkeiten am Untergrund als Schmiermittel dienen. Und dann gibt es noch die Idee, dass einfach eine besondere Form des granularen Fließens die Gesteinsbrocken wie eine Flüssigkeit vorankommen lässt."
    Erklärung: Druckwellen und -reibung
    Keine der Theorien konnte allerdings schlüssig erklären, warum es unter ähnlichen Bedingungen nur manchmal tatsächlich zu solchen Sturzströmen kommt. Brandon Johnson hat jetzt eine Spur gefunden. Er berechnete in einer komplexen Computersimulation, welche Kräfte auf Tausende von Felsblöcken in einem Erdrutsch wirken – wie sie rutschen, aneinander reiben und sich gegenseitig stoßen. Dabei stieß er auf ein akustisches Phänomen.
    Johnson: "Im abrutschenden Gestein bilden sich Druckwellen und -schwankungen. Man muss sich das so vorstellen, dass alle Steine vibrieren. Auf diese Weise reduziert sich deren Reibung während des Ausfließens."
    Akustische Fluidisierung
    Akustische Fluidisierung ist der Fachbegriff für diesen Vorgang. Schon vor fast 40 Jahren hatte der Geologe Jay Melosh dies als eine weitere Hypothese zur Erklärung der Sturzströme formuliert. Demnach prallen die vielen Gesteinsbrocken ständig wie Billardkugeln aneinander. Im gesamten Erdrutsch entstehen dabei Druckwellen, die sich wie Schall im Gestein fortpflanzen und mit ihrer Energie die Massen in Bewegung halten. Jay Melosh konnte seine Theorie damals allerdings nicht belegen. Erst mit der heutigen Leistung von Supercomputern ist es möglich, entsprechende Berechnungen zu machen. Brandon Johnson fand mit seiner Studie nun auch Hinweise darauf, welche Voraussetzungen herrschen müssen, damit aus einem simplen Erdrutsch ein akustisch verflüssigter Sturzstrom wird.
    Johnson: "Das Überraschendste für mich war, dass ein Erdrutsch offenbar nur ausreichend groß sein muss, damit er zum Sturzstrom wird. Unseren Berechnungen nach muss die Lawine dafür mehr als eine Million Kubikmeter Gestein umfassen. Das Modell zeigt: Kommen genug Gesteinsmassen zusammen, können die Druckwellen darin mit einem Mal stark genug werden, um fluidisierend zu wirken."
    Nach Einschätzung von Experten wird es im Zuge des Klimawandels und auftauender Permafrostböden in Zukunft häufiger große Felsstürze und Erdrutsche in Hochgebirgen geben. Das Modell von Brandon Johnson könnte dazu beitragen, das lokale Risiko von verheerenden Sturzströmen besser einschätzen zu können.