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German Angst

"Die Deutschen haben Angst vor der Freiheit", bilanziert Wolfgang Herles. Daher legt sich das Land institutionelle und strukturelle Fesseln an. In seinem Buch "Neurose D" fordert Herles weniger Bürokratie, ein einfacheres Steuersystem und ein Wahlsystem, das klare Mehrheiten ermöglicht - ein Interview mit dem Schriftsteller und Journalisten.

Moderation: Shirin Sojitrawalla | 29.05.2008
    Shirin Sojitrawalla: Sie bescheinigen den Deutschen, ein neurotisches Volk zu sein. Wie kommen Sie zu diesem Befund, Wolfgang Herles?

    Wolfgang Herles: Eine Gesellschaft, die sich nicht von den tatsächlichen Ängsten bewegen lässt, sondern von den angenommenen, von den eingebildeten, von den Ängsten, auf die man sich fixiert, eine solche Gesellschaft ist neurotisch, so wie auch Individuen neurotisch sein können.

    Kleines Beispiel: Wer meint, die Rente mit 67 sei ein Sargnagel am Sozialstaat und darauf ganz fixiert reagiert, der täuscht sich natürlich, denn viel schlimmer ist die andere Gefahr, dass uns nämlich der ganze Sozialstaat um die Ohren fliegt angesichts der demografischen Veränderungen. Aber nein: Wir wollen nicht das Ganze sehen, sondern wir fixieren uns auf solche einzelnen Dinge.

    Sojitrawalla: Sie sprechen in dem Buch von der demografischen Zeitbombe und bescheinigen der Politik, dass sie sich den daraus zwingend ergebenen Konsequenzen verweigere. Was müsste denn Ihrer Meinung nach geschehen?

    Herles: Die Deutschen haben, und auch das ist neurotisch, Angst vor der Freiheit. Sie haben ja die Freiheit einige Male ordentlich missbraucht. Sie sind traumatisiert vom Missbrauch ihrer Freiheit. Ich habe ja eine Geschichte der Bundesrepublik geschrieben. Sie haben von Anfang an versucht, alles Mögliche zu machen, was die Freiheit behindert. Das fängt in der Verfassung an: Es gibt keine Volksentscheide, es gibt kein Wahlsystem, in dem irgendeine Partei auch wirklich klar gewinnen könnte.

    Man kontrolliert sich zu Tode, man hat ein Steuersystem, das viel zu kompliziert ist, eine Bürokratie, die viel zu kompliziert ist. Also, wir haben uns Fesseln angebunden, die sehr bequem sind. Die Fesseln spürt man nicht, so lange man sich nicht bewegt. Aber ein Land, das sich bewegen muss, und in diesem Zustand sind wir jetzt, spürt natürlich diese Fesseln und die müssen zwingend gelockert werden.

    Sojitrawalla: Aber was müsste konkret geschehen Ihrer Meinung nach?

    Herles: Also wir bräuchten dringend weniger Bürokratie, ein einfacheres Steuersystem. Alle Leute, die damit angekommen sind, sind in der Politik gescheitert. Wir müssten auch die Verfassung teilweise ändern. Wir bräuchten ein Wahlsystem, das klare Mehrheiten ermöglicht, zumal im Fünfparteiensystem, wo das eben sehr viel schwieriger ist, Koalitionen zu bilden. Wir müssten der Demokratie vertrauen.

    Also, wenn man jetzt nach Amerika sieht, Vorwahlen, das ist doch etwas wunderbares, da sieht man ja, wie Demokratie funktionieren kann und die Bevölkerung mitreißen kann. Heute haben wir in der SPD die Diskussion, ob man den nächsten Kanzlerkandidaten per Urwahl unter den Mitgliedern bestimmen lassen könnte und alle schreien Zeter und Mordio. Das ist das, was ich mit Angst vor der Freiheit meine.

    Sojitrawalla: Ein Knackpunkt, Sie haben es gerade erwähnt, ist das Verhältniswahlrecht, wie man gerade in Hessen sehen kann. Warum halten die Parteien in Deutschland so strikt daran fest?

    Herles: Der Grund ist, dass man mit dem Mehrheitswahlrecht immer einer Partei die ganze Macht gibt. Und das kommt aus dieser übertriebenen Angst der Deutschen vor der Einparteienherrschaft, vor der Diktatur, die wir gehabt haben. Man will das verhindern, man will auf gar keinen Fall, dass eine Partei sich durchsetzt.

    In den alten Demokratien, wo man keine Angst davor hat, dass die Demokratie flöten geht, wenn eine Partei allein regiert, da ist das selbstverständlich: in Amerika, in England, in Frankreich gibt es mehr Zutrauen in die Kraft der Demokratie, was einschließt, dass eine Partei, die nun einmal die Mehrheit hat, ihr Programm auch wirklich durchsetzen kann. Bei uns kann nie eine Partei durchsetzen, was sie möchte. Bei uns weiß der Wähler ja nicht einmal, welche Koalition zustande kommen wird, wenn er irgendeine Partei wählt.

    Sojitrawalla: Aber sehen Sie reelle Chancen, dass die Deutschen Ihr Wahlsystem ändern? Selbst Roman Herzog hat das ja kürzlich gefordert.

    Herles: Das ist wieder typisch. Roman Herzog ist ja nicht irgendwer, er war Verfassungsgerichtspräsident und einer der großen Verfassungsrechtler, aber seine Vorschläge sind noch nicht einmal diskutiert worden. Schon am Tag danach war die Diskussion zu Ende. Das zeigt, da ist wirklich eine nicht mehr ganz normale Ängstlichkeit, Tabus zu brechen. Bei uns darf nur noch im Rahmen ganz bestimmter Dogmen diskutiert werden.

    Sojitrawalla: Sie resümieren in Ihrem Buch die deutsche Geschichte nach 1945 und machen auch deutlich, dass sich insbesondere um den ersten Kanzler, Adenauer, manch eine Legende rankt. Wie erklären Sie sich das?

    Herles: Das ist auch so eine Lebenslüge der alten Bundesrepublik, zu sagen: Wir sind für die Wiedervereinigung. Adenauer wollte genau das Gegenteil, er wollte den Deutschen den Nationalstaat austreiben. Er wusste ja, das war die eigentliche Ursache der Katastrophe, Hitler war ja nicht als Meteor vom Himmel gefallen, es gab ja eine Vorgeschichte.

    Also wollte er ihnen den Nationalismus austreiben und war froh um die Teilung. Er war froh, denn nur durch die Teilung konnte er die Deutschen, zumindest im Westen, europäisieren. Aber die Propaganda war natürlich genau anders. Die Sonntagsreden auch von Adenauer hießen immer: Deutschland, Deutschland, wir wollen die Einheit, wir werden nicht Ruhe geben, bis die Einheit vollendet ist. Alles Lüge.

    Sojitrawalla: Sie werfen den Deutschen ja einen Mangel an Liberalität und Wirtschaftsfeindlichkeit vor. Ist die FDP die Partei der Zukunft?

    Herles: "Sicher nicht, das liegt aber an dem Zustand der FDP. Der Liberalismus ist ja mehr als eine Partei. Aber ich bin schon der Meinung, das ist sozusagen die zweite Lebenslüge der Deutschen, hat auch damit zu tun, dass man glaubte, man müsse die Deutschen auch mit materiellen Dingen für die Demokratie gewinnen. Und so wurde die Illusion geboren, die ja auch eine Weile funktioniert hat, dass die Deutschen eine beinahe klassenlose, dem Volkswohl unterworfene Republik werden.

    Das hat funktioniert ziemlich genau bis Ende der siebziger Jahre, dann war es vorbei. Und nun kommt die zweite Illusion hinzu: Die Wiedervereinigung sei herstellbar, ohne dass es viel koste, ohne dass die Bonner Republik zugrunde gehen muss. Natürlich ist sie zugrunde gegangen, auch durch die Wiedervereinigung. Aber diese alte Illusion schleppt sich bis in die Politik unserer Tage. Denn wenn Sie sich die Parteiprogramme anschauen, das sind ja alles noch Ideale der alten Bonner Republik.

    Sojitrawalla: Sie schreiben, dass Links-links-Bündnisse noch nur in den ostdeutschen Ländern vorstellbar seien. War die Politik da schneller, als Sie dachten?

    Herles: Na ja, das Buch ist angedruckt worden vor Frau Ypsilantis Kehrtwende. Aber dass das als Möglichkeit im Raum steht, das war mir schon klar. Wir werden, glaube ich, damit rechnen müssen, dass es noch mehr Parteien gibt als heute. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sich die konservativ bürgerliche Seite auch aufspaltet. Wie das passieren wird, das kann man nicht sagen.

    Viele der Leute, die heute links wählen, wählen beim nächsten Mal wieder NPD. Ich glaube, dass auch die rechte Volkspartei gespalten ist zwischen Traditionalisten und Modernisierern. Also, die Merz-CDU, die gibt es im Moment gar nicht, aber irgendwann wird die sich zu Wort melden.

    Sojitrawalla: Wenn Deutschland so neurotisch ist, wie neurotisch ist dann Wolfgang Herles?

    Herles: Also, Neurotizismus ist eine Dimension der Persönlichkeit, die jeder hat. Jedes Individuum, aber auch jede Organisation hat eine Neigung zu einem bestimmten Neurotizismus. Gefährlich wird es nur, wenn sich ein neurotischer Stil durchsetzt und besonders dominant wird.

    Und ich behaupte, die deutsche Gesellschaft ist schizophren, sie weiß nicht, welchen Weg sie gehen will. Sie ist immer hin- und hergerissen, sie will immer alles oder nichts. Und sie ist zwanghaft, sie will immer alles perfekt, sie will immer alles ganz genau, sie ist nicht frei genug, quer zu denken. Querdenker haben es in unserer Gesellschaft besonders schwer, in der Politik am aller schwersten. Das sind schon Neurotizismen, aber dafür kriegen sie nichts von der Krankenkasse. Neurosen gelten nicht als Krankheit, sondern als Veranlagung. Jedes Land hat seine eigenen Neurosen, jedes Individuum hat seine eigenen Neurosen. Und natürlich spielen die individuellen Neurosen am Wahltag in der Wahlkabine eine Rolle, das ist klar. Ich gebe meine Stimme auch ab aufgrund meiner Ängste, die ich mit in die Wahlkabine schleppe. Und die schlechten Politiker spielen mit den Ängsten ihrer Wähler. Die guten Politiker versuchen, ihnen diese Ängste zu nehmen.

    Sojitrawalla: Gibt es auch neurosenfreie Staaten?

    Herles: Ich glaube nicht, dass es das gibt. Das ist eine Illusion, eine Utopie. Nehmen wir ein anderes Land, die USA. Ich sagte, diese Neurosen kommen aus Traumata der Vergangenheit. Wir haben Gott sei Dank nicht die Neurosen der Amerikaner, wie haben andere, die eben aus unserer Geschichte kommen und deswegen erzähle ich ja die Geschichte der Bundesrepublik, weil ich glaube, das alles kann man nur verstehen, wenn man auch die Geschichte der Deutschen versteht.

    Wolfgang Herles: Neurose D
    Eine andere Geschichte Deutschlands
    Piper. 299 Seiten, 19,90 Euro
    Wolfgang Herles: Neurose D
    Wolfgang Herles: Neurose D (Piper Verlag)