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Geschichte
Warum Amerikas Kriege so häufig schiefgehen

Die Kriege der USA enden häufig nicht mit gewünschtem Ergebnis - und nicht zum offiziellen Termin. Hannes Stein sieht darin ein Muster. Schon der amerikanische Bürgerkrieg habe nicht 1865 geendet, sondern sei durch die Terrororganisation Ku-Klux-Klan fortgesetzt worden. Ähnliches sei in Vietnam und im Irak geschehen. Letztlich siegten jene, die gerade kapituliert hätten. Daraus könne man lernen, so Stein, dass es mitunter sehr fatal sei, Verbündeter der USA zu sein.

Von Hannes Stein | 27.09.2015
    Golfkrieg von 1991 - US-Streitkräfte: Ein amerikanischer Schützenpanzer vor brennenden Ölfeldern nahe der kuwaitisch-irakischen Grenze am 2.3.1991. Die Golfkrise hatte am 2.8.1990 mit dem Einmarsch irakischer Truppen nach Kuwait begonnen. Der UN-Sicherheitsrat forderte daraufhin am 29.11.1990 den Irak auf, seine Truppen bis zum 15.1.1991 aus Kuwait zurückzuziehen. Nach Ablauf des UN-Ultimatums begannen am 17.1.1991 alliierte Streitkräfte unter der Führung der USA mit der Bombardierung Bagdads. Der Golfkrieg endete nach dem Einlenken Iraks am 28.2. 1991 mit der Einstellung aller Kampfhandlungen. Am 20..3.2003 haben amerikanische und britische Truppen einen neuen Krieg gegen den Irak begonnen.
    Ein amerikanischer Schützenpanzer vor brennenden Ölfeldern nahe der kuwaitisch-irakischen Grenze am 2.3.1991. (picture alliance / dpa / epa / afp)
    Der amerikanische Bürgerkrieg dauerte von 1861 bis 1865, und am Ende hatten die Nordstaaten gesiegt. So steht es in den Geschichtsbüchern. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der historischen Wahrheit lautet so: Nach der Kapitulation des Südstaatengenerals Robert E. Lee führten die Südstaaten einen Guerillakrieg gegen die Sieger.
    Eine Terrororganisation formierte sich, um den Sieg der Nordstaaten zunichte zu machen. Der Name dieser Terrororganisation war Ku-Klux-Klan. Am Ende wurde es den Nordstaaten zu mühsam, gegen den Ku-Klux-Klan Krieg zu führen, und die Schwarzen im Süden wurden zurück in Zustände gezwungen, die der Sklaverei sehr ähnlich sahen. Dieses Muster hat sich in der amerikanischen Geschichte oft wiederholt: Am Anfang steht ein Krieg, dessen Ziele im Verlauf des Krieges immer radikaler werden. Dann werden die Sieger in einen hässlichen Guerillakrieg verstrickt. Dann verlieren sie die Nerven und ziehen sich zurück.
    Am Ende siegen jene, die gerade eben kapituliert hatten. So war es in Vietnam, so war es im Irak, der "Islamische Staat" rekrutiert sich auch aus ehemaligen Angehörigen von Saddam Husseins Baath-Regime. Was lernen wir daraus? Dass es sehr fatal sein kann, ein Verbündeter der Vereinigten Staaten zu sein. Denn am Ende wird man zuverlässig im Stich gelassen.

    Das Manuskript in voller Länge:
    Am 1. Mai 2003 hielt Präsident George W. Bush eine Rede. Es ist beinahe gleichgültig, was er in jener Rede sagte - wichtig ist nur das Foto, das dabei entstand. George W. Bush war mit einem Düsenjäger auf einem Flugzeugträger gelandet, der USS Abraham Lincoln hieß. Er trug eine Fliegermontur in Tarnfarben, unter dem Arm seinen Helm. Und er stellte sich so auf, dass hinter ihm ein Transparent gut sichtbar war, auf dem stand: "Mission Accomplished". Auf gut Deutsch: "Wir haben gewonnen." Das war dann eigentlich auch alles, was der Präsident in die vor ihm aufgestellten Mikrofone sprach: Der Krieg gegen den Terror ist zwar noch nicht vorbei, aber der Irak war ein entscheidender Etappensieg. Die Bösen rennen in wilder Flucht davon, unsere Truppen stürmen hinterher. Hurra! Oder eben: "Mission Accomplished".
    Alles schien perfekt zu funktionieren
    Oberflächlich betrachtet hatte George W. Bush natürlich recht. Es war den Streitkräften der Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten in sagenhaft kurzer Zeit gelungen, den Irak zu überrennen. Am 20. März 2003 hatten amerikanische und britische Soldaten die Grenze vom Kuweit in den Südirak überschritten, wo sie von der jubelnden Bevölkerung gefeiert wurden. "Democracy! And Whisky! And Sexy!" rief einer der Iraker, als er die amerikanischen Befreier erblickte. Gleichzeitig halfen im Norden des Landes amerikanische Spezialeinheiten den kurdischen Peschmerga, die ihre eigene Offensive gegen die verhassten Soldaten Saddam Husseins starteten.

    Die amerikanischen Bodentruppen und die Luftwaffe arbeiteten wie Teile eines Uhrwerks zusammen. Die Strategie von Shock and Awe funktionierte wie im Lehrbuch für Wohnzimmerstrategen. Binnen drei Wochen hatte sich das irakische Heer in Nichts aufgelöst. Die Herrschaft der Baath-Partei, die im Irak 35 Jahre lang ihre Macht ausübte, brach zusammen wie eine morsche Holzhütte. Es war, als hätte ein Bulldozer mit seiner Schaufel an die Tür geklopft. "Mission Accomplished", in der Tat. Aber in Wirklichkeit ging der Schlamassel erst los. Und darauf waren George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nicht vorbereitet gewesen.
    Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990
    Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990 (imago/ZUMA/Keystone)
    Womit Bush nicht gerechnet hatte
    Zuerst kamen die Plünderungen. Die befreiten Iraker plünderten alles, wo immer sie konnten - sie rissen sogar Stromkabel aus den Wänden. Und weil in der Millionenstadt Bagdad nur circa 5.000 amerikanische Soldaten standen, waren sie schlicht nicht in der Lage, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Dann kamen die Schüsse und die Bomben. Schnell stellte sich heraus, dass der Einmarsch in den Irak und der Sieg über das Regime Saddam Husseins nur die erste Phase des Krieges gewesen war - die harmlosere Phase. Die zweite Phase des Krieges war ein Guerillakrieg der verbliebenen Anhänger der Baath‑Partei und sunnitischer Fundamentalisten gegen die westlichen Eindringlinge. Ihr größter Erfolg war, als es ihnen am 19. August 2003 gelang, die Uno‑Mission im Irak in die Luft zu sprengen. Das prominenteste Opfer dabei war Sérgio Vieira de Mello, ein Humanist, der im Auftrag der Uno helfen sollte, einen neuen, demokratischen Irak aufzubauen. Die Sunniten fürchteten - und zwar mit Recht -, dass sie im neuen Irak nicht mehr über die schiitische Mehrheit herrschen würden. Also revoltierten sie.
    Die dritte Phase war der Bürgerkrieg. Es gelang dem fundamentalistischen Schlächter Abu Musab az‑Zarqawi, die Schiiten mit Bombenattentaten in den Wahnsinn zu treiben. Dabei handelte er im Auftrag der Terrororganisation al-Qaida. Er massakrierte Frauen und Kinder; er massakrierte Betende in ihren Moscheen. Sein größter Erfolg war, dass seine Leute die goldene Kuppel der al-Askari-Moschee in Samarra in die Luft jagten. Die Schiiten reagierten mit blutigen Rachefeldzügen gegen sunnitische Zivilisten. Nun stellte sich heraus: Nach dem amerikanischen Einmarsch war nicht nur die Diktatur der Baath-Partei zusammengebrochen wie eine morsche Holzhütte. Nein, der gesamte irakische Staat existierte eigentlich nur noch auf dem Papier, nur auf der Landkarte.
    Die amerikanischen Soldaten verschanzten sich in ihren Baracken und ließen das Land dort draußen vor die Hunde gehen. Und George W. Bush und sein Verteidigungsminister taten so, als sei alles in bester Ordnung. Schließlich war die Mission erfolgreich gewesen. "Mission accomplished!" Das hatte Bush doch selber verkündet.
    Bush schickte seinen besten General
    Erst in der allerletzten Stunde seiner Präsidentschaft - nämlich im Januar des Jahres 2007 - hörte er auf seinen besten General: auf David Petraeus. Er schickte also mehr Soldaten in den Irak. Petraeus ließ seine Soldaten ohne Helme auf Patrouillengänge gehen und ermutigte sie, mit den Einheimischen Tee zu trinken. Es gelang ihm, ein Abkommen mit den sunnitischen Stämmen zu schließen, die sich daraufhin gegen al-Qaida erhoben. Plötzlich wurde wieder ein politischer Prozess möglich. Einen Augenblick lang sah es so aus, als habe ein demokratischer Irak eine Chance.
    Doch in der amerikanischen Öffentlichkeit war mittlerweile jeder Kriegsenthusiasmus erloschen. Tausende Soldaten waren in jenem fernen, staubigen Land krepiert. Die Amerikaner wollten nur noch eines: ihre Jungs und Mädchen nach Hause holen. Sie wählten einen Präsidenten, der just dies versprach; einen Präsidenten, der von Anfang an gegen die neue Strategie von David Petraeus gewesen war. Und Barack Obama hielt sein Versprechen. Er holte die amerikanische Armee nach Hause. Natürlich brach daraufhin im Irak alles zusammen. Die Regierung in Bagdad wird heute von Schiiten dominiert, die in den sunnitischen Arabern keine Landsleute, sondern Feinde sehen. Und im Grenzgebiet zwischen dem Irak und Syrien hat sich ein barbarischer Gottesstaat etabliert.
    Immer das gleiche Muster
    Leider handelt es sich bei dem, was im Irak passiert ist, um ein altehrwürdiges Muster der amerikanischen Außenpolitik. Dieses Muster sieht so aus: Die Amerikaner ziehen aus ganz realpolitischen Gründen in einen Krieg. Während sie im Krieg stehen, radikalisieren sich wie von selbst dessen Ziele. Sie werden idealistisch. Im Irakkrieg zum Beispiel ging es anfangs um Massenvernichtungswaffen. Als diese Waffen nicht gefunden wurden, verwandelte der Irakkrieg sich in einen Kampf um die Demokratie. Das Ziel war nun also, ein demokratisches Musterland mitten in der arabischen Welt zu etablieren. Anschließend werden die Amerikaner in einen hässlichen Guerillakrieg hineingezogen. Sie brauchen eine Weile, ehe sie das verstehen. Dann stellen sie sich auf die neue Realität ein und erkämpfen sogar einen Sieg. Aber mittlerweile haben sie die Nerven verloren, und so ziehen sie sich zurück. Und am Ende fällt alles in sich zusammen. Die Ideale, um die es eigentlich gehen sollte, werden dabei schwer beschädigt.
    Dieses Muster reicht weit in die amerikanische Geschichte zurück, bis tief ins 19. Jahrhundert. Und eigentlich hätte der Name des Flugzeugträgers, auf dem George W. Bush seine törichte Siegesrede hielt, ein Hinweis sein können: Er hieß - wir erinnern uns - Abraham Lincoln.
    Prägend für die amerikanische Geschichte: der Bürgerkrieg ab 1861
    Der amerikanische Bürgerkrieg war das prägende Ereignis der amerikanischen Geschichte. Mindestens 620.000 Amerikaner sind in diesem Krieg gefallen. Manche Quellen sprechen sogar von 750.000, manche von mehr als 800.000 Kriegstoten. Jedenfalls sind in diesem Krieg mehr Amerikaner gestorben als in allen anderen kriegerischen Auseinandersetzungen, in die Amerika involviert war - inklusive des Zweiten Weltkrieges und inklusive Vietnam. Wenn wir in die Geschichtsbücher schauen, dann dauerte der amerikanische Bürgerkrieg vom 12. April 1861 bis zum 9. Mai 1865: Das sind vier Jahre, drei Wochen und sechs Tage. Aber dauerte er in Wahrheit nicht viel länger? Hat Amerika sich jemals von seinem Bürgerkrieg erholt?
    Amerikanischer Bürgerkrieg: Timothy O'Sulivan fotografierte im Juli 1863 das mit Verletzten und Toten übersäte Schlachtfeld von Gettysburg in Pennsylvania. Es war eine der blutigsten Schlachten auf dem Kontinent.
    Amerikanischer Bürgerkrieg: Timothy O'Sulivan fotografierte im Juli 1863 das mit Verletzten und Toten übersäte Schlachtfeld von Gettysburg in Pennsylvania. Es war eine der blutigsten Schlachten auf dem Kontinent. (picture alliance / dpa / Timothy O'Sullivan)
    Von dem antiken Historiker Thukydides können wir lernen, dass man zwischen der Ursache und dem Anlass eines Krieges unterscheiden muss. Angewendet auf den amerikanischen Bürgerkrieg hieße das: Der Anlass für den amerikanischen Bürgerkrieg war, dass Rebellen im Morgengrauen des 12. April 1861 anfingen, Schüsse auf Fort Sumter abzufeuern. Die Ursache für den amerikanischen Bürgerkrieg lag viel tiefer. Es war die Sklaverei. Als Abraham Lincoln sein Amt als 16. Präsident der Vereinigten Staaten antrat, betrachteten die weißen Südstaatler dies als unerträglichen Affront. Denn Abraham Lincoln und seine Parteifreunde, die Republikaner, waren allesamt geschworener Feind der "besonderen Einrichtung" - so wurde die Sklaverei in den Südstaaten schönrednerisch genannt. Im Februar 1861 hatten sich bereits sieben Staaten von der Union der Vereinigten Staaten losgesagt. Nach den Schüssen auf Fort Sumter und dem Fall des Forts kamen noch einmal vier Staaten dazu. Zusammen erklärten sie sich zu einem neuen Staatsgebilde, den "Konföderierten Staaten von Amerika". Die Anhänger dieser "Confederate States" betrachteten sich als Freiheitskämpfer, die gegen einen finsteren Tyrannen in Washington zu Felde zogen. Aber in Wahrheit hatten die Konföderierten Staaten nur einen Daseinszweck: die Sklaverei beizubehalten. Sie kämpften für das Recht, Schwarze auf den Baumwollfeldern zur unbezahlten Arbeit zu zwingen; für das Recht, sie bis aufs Blut zu peitschen, wenn sie davonliefen; für das Recht, schwarze Frauen und Mädchen zu vergewaltigen; für das Recht, schwarze Familien auseinanderzureißen und schwarze Kinder auf Sklavenmärkten zu verkaufen.
    Aber Abraham Lincoln hat den Südstaaten in seiner Ansprache zur Amtseinführung fest versprochen, dass er ihre "besondere Einrichtung" nicht antasten werde. Er schrieb:
    "Es scheint eine Befürchtung unter den Bevölkerungen der südlichen Staaten zu geben, dass durch den Amtsantritt einer republikanischen Regierung ihr Eigentum, ihr Friede und ihre persönliche Sicherheit bedroht sein könnten. Für diese Befürchtung hat es nie einen vernünftigen Grund gegeben. Ich habe keinen direkten oder indirekten Grund, mich dort in die Institution der Sklaverei einzumischen, wo sie existiert. Ich glaube, dass mir das Gesetz kein Recht gibt, dies zu tun, und ich verspüre auch keine Neigung dazu."
    Ein Krieg vor den Augen der Weltöffentlichkeit
    Nur ein einziges Recht hätten die Südstaaten nicht, sagte Lincoln weiter - das Recht zum Austritt aus der Union. Das verbiete ihnen die Verfassung. Und darum drehte es sich nach Ansicht von Abraham Lincoln in diesem Bürgerkrieg: Es ging darum, die Sezession der elf abtrünnigen Staaten rückgängig zu machen. Gleichzeitig ging es freilich auch um etwas anderes. Es ging um die Demokratie. Abraham Lincoln verstand, dass dieser Krieg vor den Augen der Weltöffentlichkeit geführt wurde. Wäre es den Südstaatlern gelungen, die Vereinigten Staaten auseinanderzureißen - es wäre ein gefundenes Fressen für alle Zaren, Kaiser und Könige des Planeten gewesen. Sie hätten gesagt: Schaut her - Demokratie funktioniert eben nicht! Sie führt zwangsläufig ins Chaos!
    An die Befreiung der schwarzen Bürgerinnen und Bürger Amerikas hat Abraham Lincoln zunächst nicht gedacht. Das änderte sich erst, als immer mehr Schwarze in der Armee der Nordstaaten mitkämpften. Sie erwiesen sich nämlich als ausgesprochen tapfer. Sie waren hervorragende Soldaten. Und Abraham Lincoln kam zu dem Schluss: Man kann diesen Leuten, die ihr Leben für die gute Sache riskieren, nicht die Bürgerrechte vorenthalten. So kam es zu der berühmten Emanzipations-Proklamation, die Lincoln am
    22. September 1862 verabschiedete. Diese beruhte auf einem juristischen Trick. Abraham Lincoln nahm die Südstaatler beim Wort, die schwarze Sklaven als Eigentum, also bloße Sachen, betrachteten. Nun hat eine Kriegspartei das Recht, in einem Konflikt vorübergehend Eigentum zu beschlagnahmen. Ergo beschlagnahmten die Nordstaaten jeden schwarzen Sklaven, dessen sie im Gefecht habhaft werden konnten - und setzten ihn umgehend auf freien Fuß. Die Kriegsziele hatten sich wie von selbst radikalisiert.
    Plötzlich ging es eben doch um die "besondere Einrichtung" der Südstaaten. Aus dem Krieg gegen die Sezession war unter der Hand ein Befreiungskrieg geworden. Damit aber nicht genug. Lincoln verstand, dass die Sklaverei in den Vereinigten Staaten für alle Zeit abgeschafft werden musste, damit es keinen Kriegsgrund mehr gab. Dafür reichte die Emanzipations‑Proklamation nicht aus. Also drang der Präsident darauf, den 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung zu verabschieden, der die Sklaverei in Amerika künftig für illegal erklärte. Für einen 13. Zusatzartikel war Lincoln sogar bereit, den Friedensschluss mit den Südstaaten hinauszuzögern.
    Am 9. Mai 1865 ritt Robert E. Lee, der General der Südstaatenarmee, auf seinem Pferd zum Gerichtsgebäude von Appomatox im Bundesstaat Virginia. Er stieg ab, ging hinein und unterzeichnete die Kapitulationsurkunde. Auf einem historischen Gemälde ist die Szene festgehalten. Robert E. Lee, ein hochgewachsener Gentleman mit Silberhaar und weißem Bart, schüttelt sehr ernst die Hand des Nordstaatengenerals Ulysses S. Grant. Der Krieg war vorbei. Nur war er in Wahrheit eben gar nicht vorbei. Er trat nur in eine neue Phase ein. Die weißen Südstaatler dachten gar nicht daran, sich damit abzufinden, dass sie künftig nicht mehr die Herrenrasse sein sollten.
    Am Weihnachtstag des Jahres 1865 gründeten sechs Veteranen der Rebellenarmee unter Führung eines gewissen Nathan Bedford Forrest eine terroristische Organisation, deren Namen jeder kennt. Sie nannte sich Ku-Klux-Klan. Den Terroristen kam zugute, dass einer ihrer Gesinnungsgenossen am 14. April den Präsidenten erschossen hatte. Lincolns Nachfolger wurde der Vizepräsident, ein gewisser Andrew Johnson, ein Rassist aus Tennessee. Andrew Johnson tat alles um zu verhindern, dass die Verhältnisse in den Südstaaten umgekrempelt wurden. Sein Nachfolger wurde dann aber Ulysses S. Grant. Und Grant schickte die Armee, um den Ku-Klux-Klan in den Südstaaten zu unterdrücken. Dies gelang vorzüglich. Eigentlich hätte nach der Präsidentschaft von Grant einer Neuordnung der Verhältnisse in den Südstaaten nichts mehr im Weg gestanden. Aber mittlerweile hatten die Amerikaner die Nerven verloren. Die meisten von ihnen dachten: Der Krieg ist vorbei, die Sklaverei abgeschafft. Was haben unsere Soldaten eigentlich noch dort unten verloren?
    Der Bürgerkrieg war noch lange nicht vorbei
    Unter dem nächsten Präsidenten - er hieß Rutherford B. Hayes - wurde den Südstaaten also gewährt, dass sie künftig wieder nach Gutdünken über ihre eigenen Verhältnisse bestimmen durften. Das war der Anfang der so genannten Jim-Crow-Gesetze. Sie waren nach einer schwarzen Kunstfigur aus dem Kabarett benannt, die rassistische Weiße ungeheuer lustig fanden. Die Jim‑Crow-Gesetze waren Apartheidregeln: Schwarze durften nicht dieselben Toiletten benutzen wie die Herrenrasse. Sie mussten im Bus weit hinten sitzen. Sie durften nur die anderen, die schlechteren Schulen besuchen. Eheschließungen zwischen Schwarzen und Weißen waren selbstverständlich verboten. Schwarze wurden unter Vorwänden ins Gefängnis gesteckt und anschließend in Ketten an weiße Plantagenbesitzer vermietet. Der schwarze Schriftsteller und Bürgerrechtler William DuBois konstatierte deshalb bitter:
    "Der Sklave wurde befreit; stand für einen kurzen Augenblick im Sonnenlicht; und kehrte wieder in die Sklaverei zurück."
    Der Ku-Klux-Klan, den Ulysses S. Grant im 19. Jahrhundert besiegt hatte, wurde 1921 mit Pomp und Gloria wiedergegründet. Er wuchs sich zu einer Massenorganisation mit vielen Millionen Mitgliedern aus. Lynchjustiz wurde in den Südstaaten zu einem normalen Teil des Lebens, zu einem Volkssport. Eine Studie hat neulich ermittelt, dass nach 1865 ungefähr 4.000 Menschen mit schwarzer Haut zu Tode gefoltert wurden. Für jene Amerikaner, deren Vorfahren aus Afrika stammten, war der Bürgerkrieg mit der Kapitulation von Robert E. Lee noch lange nicht vorbei.
    Vietnam-Krieg lief nach analogem Muster
    Wir sehen deutlich das bereits erwähnte Muster. Erst kommt der Krieg aus realpolitischen Gründen. Dann radikalisieren sich die Kriegsziele, es geht plötzlich ums Große und Ganze, um edle Ideale. Dann kommt der Guerillakrieg. Und nach einem kurzen Moment, in dem man glauben könnte, die Amerikaner hätten gewonnen, verlieren sie die Nerven und ziehen sich zurück. Daraufhin bricht alles zusammen. So verlief auch der Vietnamkrieg. Am Anfang ging es den Amerikanern nur darum, Südvietnam in seinem Kampf um Unabhängigkeit gegen den Norden zu unterstützen. Der Norden wurde von einem totalitären Regime beherrscht - angeführt von einem Komintern-Agenten namens Nguyen Sinh Con, der sich den Kampfnamen Ho Tschi Min gab. Der Süden war korrupt, politisch instabil und pluralistisch. Hier lebten Christen, Buddhisten, Han‑Chinesen und etwa 800.000 Flüchtlinge aus dem Norden zusammen.
    Da Nang, Süd-Vietnam 
    Da Nang, Süd-Vietnam (imago)
    Unter Präsident Kennedy schickten die Amerikaner nur Militärberater. Unter Präsident Johnson schickten sie mehr und mehr Soldaten. Nun ging es nicht mehr nur um Vietnam allein, sondern um einen Krieg gegen den Kommunismus überhaupt. Der Norden führte seinen Krieg mit regulären Truppen und gleichzeitig mit einer Guerillaarmee, dem Vietkong. Anfangs war der Vietkong sehr erfolgreich, aber den Amerikanern gelang es, ihre Taktik auf den Guerillakrieg umzustellen. Sie verfuhren nun nicht mehr nach der brutalen Hau-Drauf-Taktik, sondern arbeiteten mit der Zivilbevölkerung zusammen. Dabei kam ihnen zugute, dass der Vietkong unter den Südvietnamesen alles andere als populär war. Wo immer er sich etablierte, errichtete er eine Schreckensherrschaft, häufig verübte er Massaker. Dann kam die nach dem vietnamesischen Neujahrsfest benannte Tet-Offensive.
    Am 30. Januar 1968 warf das kommunistische Nordvietnam eine Viertelmillion reguläre Soldaten in die Schlacht. Gleichzeitig griffen 100.000 Guerilleros des Vietkong die Republik Südvietnam an. Am 2. März war die Tet-Offensive vorbei. Und sie endete mit einer verheerenden Niederlage des Nordens. Es gelang den Kommunisten nicht, einen einzigen Quadratzentimeter Boden im Süden zu erobern. Zehntausende nordvietnamesische Soldaten fielen. Am schlimmsten war die Niederlage für den Vietkong: Die Guerillaorganisation verlor ihre besten Köpfe. In Amerika aber kam die Nachricht von diesem überwältigenden Sieg nie an. Die Journalisten vor Ort waren von der Tet-Offensive kalt erwischt worden, sie reagierten mit kopfloser Panik. Die meisten Amerikaner zuhause vor den Fernsehschirmen mussten glauben, dass dem kommunistischen Norden ein Überraschungserfolg gelungen sei. Sie glaubten also nicht mehr, dass es möglich sei, diesen Krieg zu gewinnen. Der nächste Präsident, Richard Nixon, trat mit dem Versprechen an, er werde diesen elenden, unpopulären Krieg beenden. Und er hielt sein Versprechen. Nachdem er Nordvietnam, Laos und Kambodscha hatte bombardieren lassen, sorgte Nixon dafür, dass die amerikanischen Soldaten nach Hause zurückkehrten. Am 27. Januar 1973 unterzeichneten alle Kriegsparteien in Paris ein Waffenstillstandsabkommen. Damit war die Republik Südvietnam auf sich allein gestellt.
    Sie hatte natürlich nie eine Chance. Nur zwei Jahre später fiel ihre Hauptstadt Saigon. Nach dem Sieg der Kommunisten wurden ungefähr 65.000 Südvietnamesen auf der Stelle ermordet. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung wurde in sogenannte Umerziehungslager verschleppt. Eine Viertelmillion Menschen starb an Krankheiten, an Hunger, an Überarbeitung. Ungefähr eine Million Vietnamesen versuchten, dem kommunistischen Regime mit eilig zusammengebastelten Flößen auf See zu entkommen- die sogenannten Boat People. Viele von ihnen ertranken. Das war dann der Moment, als selbst engagierte Linke wie Rudi Dutschke und Jean-Paul Sartre merkten, dass sie auf der falschen Seite gestanden hatten.
    Zweiter Weltkrieg als Ausnahme
    Natürlich folgen nicht alle amerikanischen Kriege dem besagten Muster aus Radikalisierung, Guerillakrieg, Sieg, dem Nerven verlieren und der Katastrophe. Die wichtigste Ausnahme ist der Zweite Weltkrieg. Sowohl die Deutschen als auch die Japaner waren nach dem erbarmungslosen Bombardement durch die Alliierten zu müde, zu hungrig und zu demoralisiert für einen Guerillaaufstand. Übrigens hatten die Amerikaner mit einem solchen Guerillakrieg in Europa fest gerechnet. Und sie konnten gar nicht glauben, dass dieser Aufstand nun ausblieb. Schließlich hatten die Deutschen gerade noch ihren heiß geliebten Hitler bis in die letzten Vorgärten verteidigt! Man kann dies wohl eine historische Ironie nennen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wären die Amerikaner just auf jenes Szenario vorbereitet gewesen, das sich dann 2003 im Irak bewahrheitete. Im Irakkrieg aber traf der Aufstand der sunnitischen Fundamentalisten sie wie ein Faustschlag in der Dunkelheit.
    Ein Mädchen aus einem Flüchtlingstreck mit ihrer Puppe im Arm in den Wirren der Nachkriegszeit.
    Ein Mädchen aus einem Flüchtlingstreck mit ihrer Puppe im Arm in den Wirren der Nachkriegszeit. (picture alliance / dpa US Army)
    Der Zweite Weltkrieg ist also die große Ausnahme - man kann tatsächlich behaupten, dass er 1945 vorbei war. Trotzdem erreichten die Amerikaner auch hier ihre Kriegsziele nicht - oder nicht ganz. Ihnen kam der Kalte Krieg dazwischen. Wegen des Kalten Krieges stellten die Amerikaner den SS‑Sturmbannführer Wernher von Braun nicht etwa vor Gericht, sondern verschifften ihn unter komfortablen Bedingungen nach Amerika und ließen sich von ihm die Saturn‑V‑Rakete bauen. Wegen des Kalten Krieges ließen die Amerikaner sich mit Reinhard Gehlen und seiner Organisation von ehemaligen SS- und Gestapoleuten ein, die dann Osteuropa für sie ausspionierten. Wegen des Kalten Krieges bliesen die Amerikaner die halbherzige "re-education" in der Mitte ab. Das Resultat: In den 50er-Jahren gab eine satte Mehrheit der Westdeutschen bei Umfragen kund, der Nationalsozialismus sei im Prinzip richtig gewesen, nur hätten die Nazis ihn leider nicht richtig durchgeführt.
    Sich die Geschichte anders vorstellen
    Es ist ein reizvolles Spiel, sich eine Geschichte auszumalen, in der es anders gekommen wäre. Eine Geschichte, in der es nach 1945 keine Bedrohung durch die Sowjetunion, also auch keinen Kalten Krieg gibt. Eine Geschichte, in der Naziverbrecher ihrer Strafe nicht entgehen. Nehmen wir Hans Globke, der einst einen wichtigen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasste: Wir dürfen uns vorstellen, dass er nach dem Krieg nicht im Bundeskanzleramt sitzt, sondern im Gefängnis. Dann ist da Theodor Oberländer, der einst als deutscher Rassist für die Versklavung der Polen agitierte hatte - nach dem Krieg avancierte er zum Bundesminister für Vertriebene. In unserer Alternativgeschichte blüht ihm statt dessen das Zuchthaus. In unserer Alternativgeschichte kehren nach dem Zweiten Weltkrieg die Emigranten zurück, weil sie öffentlich darum gebeten werden. Alle Überlebenden und ihre Nachkommen bekommen das Eigentum zurück, das die Nazis ihnen geraubt hatten. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess findet nicht 1964 statt, sondern 1946. Sozialdemokraten wie Willy Brandt und Fritz Bauer werden im Adenauer‑Deutschland nicht als Vaterlandsverräter gebrandmarkt, sondern als Helden gefeiert. Deutschland erkennt sofort die Oder-Neiße-Grenze an. Dokumentarfilme zertrümmern den Mythos, die deutsche Wehrmacht sei sauber und unschuldig gewesen. Lehrer, die von ihren Kriegserlebnissen schwadronieren, werden umgehend vom Schuldienst suspendiert. Kurzum, die deutsche Nachkriegsdemokratie kommt ohne Lebenslügen und alte Nazis aus - weil die Amerikaner das nicht zulassen.
    Leider ist das nur ein schöner Traum. In der Wirklichkeit gibt es wenige Siege, die sich nicht schnell wieder - zumindest teilweise - in Niederlagen verwandeln, und Gerechtigkeit bleibt ein fernes Ideal. Es gab keine Gerechtigkeit für die befreiten schwarzen Sklaven der Südstaaten, nachdem die Truppen der Nordstaaten gesiegt hatten. Sie wurden in neue Formen der Sklaverei gezwungen. Erst ihre Nachfahren erlebten - 100 Jahre zu spät - den Sieg der Bürgerrechtsbewegung. Es gab keine Gerechtigkeit für jene Südvietnamesen, die tapfer an der Seite der Amerikaner gegen den Kommunismus gekämpft hatten. Sie wurden verraten und im Stich gelassen und starben am Schluss zu Tausenden in Konzentrationslagern. Auch für den Irak ist in nächster Zukunft kein happy ending in Sicht.
    Folgt daraus aber, dass jeder Krieg, den die Amerikaner geführt haben, umsonst war? Nein. Man schaudert etwa bei der Vorstellung, wie die Welt heute aussähe, wenn Abraham Lincoln die Südstaaten hätte gehen lassen. Die "Konföderieren Staaten von Amerika" wären mit ihrem status quo nämlich keineswegs zufrieden gewesen. Nein, sie hatten vor, sich durch Eroberungskriege in Richtung Mexiko auszubreiten. Ein riesiges Imperium wäre entstanden, das auf gekrümmten Rücken und Peitschenhieben basierte - ein rassistisches Südafrika in der Mitte des amerikanischen Kontinents. Das verbleibende Nordamerika aber wäre verkümmert und verarmt. Noch schlimmer ist eigentlich nur die Vorstellung, dass die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten.
    Vietnam ist heute ein auffällig pro-amerikanisches Land
    Wo bleibt der Lichtblick, das Positive? Der Lichtblick ist die Geschichte von Vietnam - zumindest aus amerikanischer Sicht. Nach dem Ende des Krieges kam, wie berichtet, erst einmal der Wahnsinn, die Kollektivierung der Landwirtschaft, der Terror. Aber 1986 wurde die alte Garde der kommunistischen Partei entmachtet. Reformer kamen ans Ruder. Das vietnamesische Regime warf seine kommunistische Ideologie über Bord. Plötzlich wurden wieder Privateigentum und Handel zugelassen. Das Land modernisierte sich. Der Lebensstandard der Bevölkerung stieg rasant. Heute interessiert sich dort kein Mensch für die angeblichen Heldentaten des Vietkong. Statt dessen geht es darum, sehr schnell sehr viel Geld zu verdienen. Die jungen Leute haben Motorräder, Handys, Laptops, Zugang zum Internet. Die Pressezensur der Regierung scheint wunderbar uneffektiv. Im Untergrund hat sich eine Bewegung für Demokratie und Menschenrechte breitgemacht. Außerdem ist Vietnam ein sehr angenehmes Urlaubsland. Die liebsten Gäste dort sind nicht etwa Russen oder Chinesen, sondern Amerikaner.Veteranen der US‑Army werden von Fremdenführern auf die ehemaligen Schlachtfelder geführt; manche von ihnen haben beschlossen, sich in Vietnam anzusiedeln und dort Krankenhäuser und Schulen zu gründen. Heute, im Jahr 2015, ist Vietnam ein auffällig pro-amerikanisches Land: Laut Umfragen haben 78 Prozent der Einwohner von Amerikanern eine gute Meinung. Die Amerikaner denken von sich selber laut Statistik nur unerheblich besser. Beinahe könnte man auf die Idee kommen, sie hätten am Ende den Vietnamkrieg doch gewonnen.
    Anders gesagt, die dialektische Wippschaukel neigt sich mal nach dieser, mal nach jener Seite. Manchmal ist ein Sieg nur eine Fata Morgana, hinter der schon die Katastrophe lauert. Aber manchmal gelangt man zum Sieg auch durch eine tüchtige, umfassende, entsetzliche und demoralisierende Niederlage.