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Geste und Gefühl

Dass Alfred Otto Wolfgang Schulze - genannt Wols - schon früh sein Heil in der Abstraktion gesucht hatte, machte ihn für die DDR nicht eben interessant. Deshalb ist die Ausstellung zu Wols in Leipzig, in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst etwas Besonderes.

Von Carsten Probst |
    Mitunter kommt es vor, dass sich die Bedeutung eines Ausstellungsortes vor die Ausstellung selbst schiebt. Eine Ausstellung zum Werk von Wolfgang Schulze alias Wols ist an sich nichts Ungewöhnliches, das Werk dieses für die Nachkriegsmoderne so wichtigen Malers und Grafikers gilt heute als umfassend erschlossen - eine Wols-Ausstellung in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig mutet allerdings durchaus erst einmal ungewöhnlich an.

    Die HGB, wie sich die Hochschule selbst kurz nennt, ist bekanntlich ein traditionsbewusstes Haus, nicht nur bezogen auf die erste Blüte der "Leipziger Schule" im 19. Jahrhundert unter dem Akademiedirektor Max Klinger, sondern auch auf ihre herausragende Stellung im Kunstsystem der DDR vor allem unter ihrem langjährigen Direktor Bernhard Heisig. Galerieleiterin Christine Rink erinnert sich daran, dass sie schon zu DDR-Zeiten in den 80er-Jahren immer wieder einige Positionen vorstellen konnte, die nicht ganz auf der strikt figurativen, das Bild des Menschen und die aktive Mitgestaltung der Gesellschaft durch Kunst betonenden Linie des Rektors lagen, Beuys zum Beispiel, Picasso, sogar Helmuth Newton.

    Christine Rink ist die Ehefrau von Arno Rink, dieses mit den wichtigsten Kunstpreisen der DDR ausgezeichneten Malers, den das Feuilleton heute vor allem als "Lehrer von Neo Rauch" oder "Chefausbilder der Neuen Leipziger Schule" kennt. Nach drei Jahrzehnten macht Christine Rink in diesem Jahr Schluss mit der Galerieleitung und hat sich dafür diese Ausstellung mit Werken von Wols gewünscht. Niemand an der HGB habe ihr das abgeschlagen, alle seien neugierig gewesen das ist ihr wichtig zu unterstreichen, aber sie ist sich bewusst, dass Wols auch nicht eben zu den unverzichtbaren Größen im künstlerischen Wertesystem der konservativen Fraktion ihres Hauses gehört.

    Wols: ein Schulabbrecher in Dresden, mittelloser, alkoholsüchtiger Gelegenheitsarbeiter in Paris, der sich dem Ausstellungsbetrieb entzieht, vollkommen unpolitisch ist und keine Haltung zu gesellschaftlichen Themen erkennen lässt. Der sich zudem in markanten Schritten von der anfänglich noch vorhandenen Figuration entfernt. Es gibt eigentlich keine, oder müsste man vielleicht sagen: NOCH keine Rezeptionsgeschichte des Phänomens Wols in Ostdeutschland. Während er als Inspirator des Informel im Westdeutschland der 50er-Jahre verstanden, oft auch gründlich missverstanden wurde, spielte sein Werk in Sachsen - in Leipzig sowieso - keine Rolle. In Dresden, der Stadt seiner Kindheit, wird ein Teil seines Nachlasses aufbewahrt, ohne dass man sich an den Staatlichen Museen dort einmal näher damit befasst hätte, weder zu DDR- noch zu Nachwendezeiten. Carlfriedrich Claus und Gerhard Altenbourg, die großen Unabhängigen unter den Künstlern in der DDR, waren die Einzigen, die sich formal offensichtlich von Wols oder auch Henri Michaux hatten inspirieren lassen. Aber Altenburg und Claus rangierten außerhalb des sanktionierten, systemtreuen Kosmos der Leipziger Hochschule.

    Gerade das macht diese Ausstellung so ungewöhnlich wie inspirierend. Sie ist an diesem Ort viel mehr als ein informativer Rundblick über das Werk, für das der Münchner Wols-Experte Hans-Joachim Petersen Exponate aus dem kompletten Werkspektrum ausgeliehen hat: neben Gemälden vor allem Grafik, Aquarelle, Buchillustrationen und die allgemein weniger bekannten, aber nicht minder herausragenden Arbeiten von Wols im Bereich der Fotografie. Nein, diese Ausstellung ist mehr, denn sie verweist möglicherweise oder tatsächlich auf einen anderen Bereich der Kunst jenseits der Leipziger Hochschule, die eben nicht DDR-Kunst, aber dennoch Kunst in der DDR war. Auf den Einfluss von Wols auf das sogenannte Dresdner Informel der 50er- und 60er-Jahre zum Beispiel oder auf verschiedene Tendenzen abstrakter Malerei in Ost-Berlin - mithin auf eine Malerei, die sich dem Kalten Kriegs-Szenario Ost wie West entzog, heute jedoch nach wie vor kaum erforscht ist. Christine Rink sagt, dass sie immer schon die Ausstellungen habe machen können, die sie habe machen wollen.

    Und in der Tat, auch heute spürt man, dass diese Ausstellung hier ein Zeichen ist, der Verweis auf eine andere Moderne, die aber vielleicht doch allmählich auch in Ostdeutschland wieder vorkommen darf.