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Gesundheitswesen
Das Geschäft vor dem Tod

Immer mehr Menschen müssen am Ende ihres Lebens leiden, damit Ärzte und Kliniken abkassieren können. Der Palliativmediziner Matthias Thöns schildert in seinem Buch "Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende" Fälle aus seinem Berufsalltag und seziert die Strukturen des deutschen Gesundheitswesens - von falschen Anreizen bis hin zur Korruption.

Von Mirko Smiljanic | 05.09.2016
    Zwei mit durchsichtiger Folie überzogene Krankenhausbetten stehen auf einem Krankenhausflur.
    Matthias Thöns rechnet mit seinem Berufsstand auf eine Art und Weise ab, wie es nur wenige Mediziner vor ihm wagten. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Die Fälle des Wittener Palliativmediziners Matthias Thöns sind erschreckend. In seinem Buch beschreibt er Menschen, die nur deshalb nicht sterben, weil eine ausgeklügelte Apparatemedizin über Jahre hinweg ihren Tod verhindert. Ärzte sprechen von "Übertherapie", die mittlerweile zum Standard vieler deutscher Kliniken zählt. Die ehemalige Näherin Gerda ist in die Mühlen einer solchen Übertherapie geraten.
    "Gerda war eine sehr, sehr alte Patientin mit einer weit fortgeschrittenen Demenzerkrankung", erinnert sich der Autor des Buches "Patient ohne Verfügung – Das Geschäft mit dem Lebensende":
    "Sie konnte schon lange nicht mehr sprechen, war lange bettlägerig, konnte ihren Urin und Stuhl nicht mehr halten, also war schon in einem ganz, ganz schlimmen Zustand, und sie hat zu gesunden Zeit festgelegt, dass, wenn sie mal eine solche Erkrankung bekommt, nicht künstlich am Leben erhalten werden möchte. Nun hatte sie keinen, der sich um sie kümmerte, da kümmerte sich dann eine Berufsbetreuerin mit beruflichem Desinteresse mehr oder weniger um sie, die hat dann zu allen medizinischen Dingen Ja und Amen gesagt, und dann wurde sie auch künstlich ernährt und durch diese künstliche Ernährung gegen ihren Willen auch am Sterben gehindert und hat sehr leidvolle Zustände am Lebensende noch miterleben müssen."
    Ebenso schlimm wie alltäglich ist der Fall des 96-jährigen Steigers Heiner aus dem Ruhrgebiet.
    "Der hatte dann eine Krebsdiagnose im sehr hohen Alter bekommen, und alles, was er in dieser Situation noch wollte, war, ins Hospiz zu kommen, weil er diese Einrichtung kannte in Bochum. Er hat dann aber im Krankenhaus immer noch weitere Therapievorschläge bekommen, man hat ihm gesagt, man muss unbedingt noch einen Port einbauen, damit man ihn künstlich ernähren kann, alles Dinge, die er eigentlich gar nicht wollte und letztlich gar nicht gebraucht hat, und das alles hat nur die Aufnahme im Hospiz verzögert."
    Eine Fülle von Grausamkeiten
    320 Seiten inklusive eines 50-seitigen Anhangs mit dem Text einer Patientenverfügung, gesundheitspolitischen Dokumenten und einem Stichwortverzeichnis hat das Buch – auf mehr als der Hälfte schildert Matthias Thöns Fälle aus seinem Berufsalltag. Vom Lungenversagen über Wachkoma und Dialyse bis hin zu unerträglichen Schmerzen – kaum ein medizinisches Gebiet, das er nicht anschneidet. Ist das nicht zu viel? Würden nicht zwei, drei Fälle zur Illustration reichen? Nein, sie reichen nicht! Erst die Fülle der Grausamkeiten verdeutlicht die Dimension des Problems. Thöns nimmt seine Leser mit in trostlose Situationen am Ende eines Lebens. Es ist schockierend, immer und immer wieder zu lesen, wie sehr manche Patienten leiden, damit Ärzte und Kliniken abkassieren können. Mit der schwerkranken 67-jährigen Monika etwa hatte niemand Erbarmen. Viele verdienten an ihr.
    "Neben dem Hausarzt und dem sogenannten Heimbeatmungs-Pflegedienst liquidierten Urologen, Hilfsmittellieferanten, Ernährungsmanager, Intensivmediziner und Hirnspezialisten. Und wenn die Beatmungsprobleme, Erstickungsanfälle, die Blasen- und Augeninfekte oder die Zahnfäule einmal mehr akut wurden, wartete das Klinikum schon mit offenen Armen."
    Natürlich nehmen nicht jeder Arzt und jede Klinik an diesen unwürdigen Geschäften teil, viele aber schon. Genau genommen müssen sie teilnehmen, sonst könnten sie der Konkurrenz und dem hohen Kostendruck nicht standhalten. Patienten und Angehörige bekommen davon kaum etwas mit. Ihnen werden die medizinischen Mühen um das Leben des Vaters oder der Mutter, der Tante oder des Onkels als edel und notwendig dargestellt. Und weil der Kampf um Patienten am Lebensende immer härter tobt, schrecken Kliniken und Heime auch nicht vor solchen Aussagen zurück.
    "Wir sind der Meinung, man darf Menschen nie aufgeben"
    "Wir legen das christliche Menschenbild zu Grunde, sonst kann man solche Patienten nicht betreuen, dann wäre unsere Arbeit sinnlos. Dass Geld Menschen nicht glücklich macht, weiß jeder. Aber dies ist auch mit Gesundheit der Fall. Gesunde Menschen sind nicht automatisch glücklich, zumindest habe ich schon viele gesehen, die gesund und sehr unglücklich waren. Bei uns darf Ihr Onkel leben. Wir sind der Meinung, man darf Menschen nie aufgeben. Wir haben schon einige Patienten mittlerweile erlebt, bei denen es Fortschritte gab, obwohl keiner daran glaubte. Extrakosten gibt es keine, nur Miete für seine Wohnung, Pflegeprodukte usw."
    "Den Rest", schreibt Matthias Thöns, "zahlt die Krankenkasse: rund 22.000 Euro pro Monat. Es lebe der Onkel!" Detailliert und mit großer Sachkenntnis seziert Thöns die Strukturen des deutschen Gesundheitswesens. Von den falschen Anreizen bis hin zur Korruption.
    "Wir brauchen endlich Transparenz im Gesundheitswesen. Wir brauchen verbindliche Regelungen, um auch den Verdacht der Korruption auszuräumen. Jede Form der Bestechlichkeit ist im Keim zu ersticken. … Es kann nicht sein, dass ein Arzt, der von der Pharmaindustrie verdeckt über Studien Tausende Euro für den Einsatz hochpreisiger und nur fraglich wirksamer Medikamente erhält, in Deutschland als gesetzestreuer Bürger gilt. Und es ist wenig hilfreich, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das eben diesen Missstand mit Anwendungsbeobachtungen nicht aufgreift."
    Geschäft mit der Angst vor dem Sterben
    Matthias Thöns rechnet mit seinem Berufsstand auf eine Art und Weise ab, wie es nur wenige Mediziner vor ihm wagten. Der Titel des "Nestbeschmutzers" ist ihm sicher. Thöns bleibt aber bei der Medizinerschelte nicht stehen, und das macht dieses Buch so besonders. Er bezieht uns alle ein. Die aktuellen Zustände am Ende des Lebens seien ja auch das Resultat der Angst vor dem Sterben.
    "Angst ist das große Problem in der Palliativversorgung. Man will sich nicht damit beschäftigen, man hat Angst vor dem Tod, man hat Angst vor schlimmem Sterben. Und dann kommt es genauso, wie man es befürchtet hat, es ist also eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Man hat Angst davor, dass man schlimme Medizin kriegt und wenn es einem schlecht geht, dann geht’s ins Krankenhaus, und wenn die Niere versagt, kriegt man künstliche Dialyse, wenn man nicht mehr ausreichend isst und trinkt, kriegt man Infusionsbehandlung, wenn man schlecht atmet, kriegt man Sauerstoff, und am Ende, wenn das Herz aussetzt, dann kriegt man eine Wiederbelebung mit Rippenbruch und Elektroschockbehandlung."
    Transparente Strukturen im Gesundheitswesen sind überfällig und wichtig, weit wichtiger aber sind Menschen, die wissen, was sie als Patient wollen.
    "Das beste Mittel gegen die Übertherapie-Offerten der Scharlatane in Weiß ist und bleibt nun einmal der mündige, selbstbewusste Patient."
    Dieses Buch ist überfällig! Unbedingt lesen!
    Matthias Thöns: "Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende"
    2016 Piper Verlag, München 320 Seiten, ISBN: 978-3-492-05776-9, 22,00 Euro