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Gewaltiges Stimmpotential

Am Mikrofon Frank Kämpfer. Ich stelle Ihnen heute drei neue Solo-CDs vor, auf denen sich Sängerinnen der internationalen Opernszene mit für sie wichtigem Repertoire porträtieren.

Redaktion: Frank Kämpfer | 19.12.2004
    • Musikbeispiel: Donizetti - 'O nube! Che lieve per l’aria t’aggiri’ aus: "Maria Stuarda”

    In den blühenden Gärten von Fotheringhay ist sie für Momente bei sich. Maria Stuarda, schottische Königin, in der Burg inhaftiert und dem Tode geweiht. In Kürze begegnet sie Elisabetta, der Rivalin und Regentin von England. Der letzte Spaziergang in schöner Natur ist beinah schon Fiktion, das Kommende, die Realität, birgt kein Glück.

    Falls man Rolle und Darstellerin überhaupt in Bezug setzen kann – die Interpretin der Szene darf absolut Gegenteiliges für sich reklamieren. Marina Mescheriakova, geboren Ende der 60er Jahre in Wolgograd, kann sich eindeutig zu den Gewinnern der jüngeren politischen Umbrüche in ihrer russischen Heimat zählen. Nach dem Studium am renommierten Tschaikowski-Konservatorium in Moskau nahm sie – undenkbar früheren Generationen – Privatunterricht in New York, bei Licia Albanese. Ein Erfolg beim Opernfestival in Wexford wurde zum Sprungbrett für die Karriere: es folgten Engagements in Salzburg, Wien, an die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Auf dem internationalen Opernmarkt kann die russische Sopranistin derzeit gut punkten. Vor allem mit ihrem Stimmpotenzial. Zur Koloraturfertigkeit kommt hier die Fähigkeit zu dramatischer Schärfe – das Besondere aber ist ihre auch im Piano ganz und gar freie und saubere Höhe, die Mescheriakova’s Markenzeichen sein könnte, wenn sie sie hinreichend pflegt.

    Nach Mitwirkung an mehreren Operngesamtaufnahmen liegt jetzt beim Label Naxos ihr erstes Solo-Recital vor. Es zeigt die besondere Eignung der russischen Sängerin für italienisches Repertoire. Szenen aus Verdi’s "Don Carlo", Bellini’s "Norma" und andererseits Tschaikowski’s "Onegin" sind die Eckpunkte der mit dem Slowakischen Radio-Symphonieorchester unter Michael Halász eingespielten CD. Mit bemerkenswerter Direktheit behauptet Booklet-Autor Carlo Majer, die Zusammenstellung der italienisch- und russisch-sprachigen Titel lasse sich auch als persönliches Logbuch verstehen. Zum einen dokumentiere es die Eroberung eines zu Sowjet-Zeiten kaum bekannten Repertoires, zum zweiten präsentiere sich die Sopranistin mit singenden Frauengestalten, die persönlich wie politisch Extreme durchleben:
    Ein Beispiel: Julia, die junge Vesta-Priesterin in Gaspare Spontini’s "La Vestale", die einen römischen Kriegshelden liebt und deshalb lebendig begraben sein soll.

    • Musikbeispiel: Spontini, 'O nume tutelar’ aus: "La Vestale”