Archiv


Glanz, Glamour und das gewisse Etwas

Alle bekannten Operngrößen, allen voran die Callas, haben den Höhepunkt ihrer Karriere an der Scala erlebt. Die Chancen, dass mal wieder ein ganze Großer aus der Schule der Mailänder Oper entspringt, stehen gut, denn nur die Besten absolvieren die harte und anspruchsvolle Ausbildung. Neben dem hohen Anspruch an die Künstler auf der Bühne wird ein ebenso hohes Maß an Qualität hinter der Bühne erwartet.

Von Kirstin Hausen; Redakteurin am Mikrofon: Britta Fecke |
    Ein Bühnenbildner an der Mailänder Scala:

    "Das Theater ist eine Art Wunder, ein Traum. Man kann es nicht erklären, aber wenn man in die Oper geht, dann geht man hinterher verändert nach Hause. Es passiert einfach."

    Und eine Primaballerina:

    "Die Bühne ist alles für mich. Ich bin dann in einer anderen Welt."

    Gesichter Europas: Glanz Glamour und das gewisse Etwas - die Scala in Mailand mit Reportagen von Kirstin Hausen. Am Mikrofon begrüßt sie Britta Fecke.

    Das Schauspiel beginnt schon lange bevor sich der Vorhang hebt. Mit großen Gesten und schweren Roben schreitet das Premierenpublikum über die Piazza della Scala ihrem Theater entgegen - dazwischen berittene Polizei und Paparazzi. Jedes Jahr am 7. Dezember, dem Tag des Stadtheiligen Ambrosius, wird die Saisoneröffnung wie ein Staatsakt begangen, dann zeigt sich jeder, der in Mailand - und weit über die Lombardei hinaus - Rang und Namen hat. Die Abonnements sind fest in der Hand einflussreicher Familien und werden von Generation zu Generation weitervererbt.

    Den Anblick der schwindsüchtigen Mimi, des stolzen Rodolfo, des liebenden Tristan oder einer verzweifelte Toska lässt sich der Premierengast bis zu 2000 Euro kosten, denn nirgendwo lebt und stirbt es sich festlicher, als in der Scala! Damit es auch noch gut klingt, waren aufwendige Renovierungsarbeiten nötig. Der Zuschauerraum stand lediglich auf Bauschutt, was der Akustik abträglich war, seit drei Jahren, seit der Wiedereröffnung der Scala, schwingt der Raum und der Klang über einem mehrschichtigen Betonboden: Auf den Brettern darüber dirigiert Daniel Barenboim Wagners Tristan. Aber erst wenn alle Logen besetzt sind:


    Schaulaufen zur Saisoneröffnung
    Weiße Handschuhe öffnen die Flügeltüren zum Foyer. Ein strahlendes Lächeln empfängt jeden. Die jungen Frauen und Männer am Eingang sind sich der Bedeutung des Abends bewusst. Ihre Gesten sind elegant, ihre Haltung ist perfekt.

    Im Foyer großes Gedränge. Alles glitzert. Die Kronleuchter, die Paillettenkleider der Damen, der Schmuck an Fingern, Handgelenken und Hälsen. Die Blicke suchen nach bekannten Gesichtern.

    Man kennt sich oder lässt sich vorstellen, einführen in den illustren Kreis der Zuschauer. Mittendrin ein Mann mit randloser Brille. Schwarzer Smoking, Fliege, verbindliches Lächeln nach allen Seiten. Er schüttelt hier eine Hand, wirft da einen Kuss auf die Wange.

    "Das ist doch ein magischer Moment! Mailand zeigt sich heute Abend der Welt, lädt ein zu diesem rauschen Fest. Wir feiern uns hier aber auch einmal selbst und ich als Präsident der Mailänder Modekammer bin natürlich überglücklich, so viele schöne Frauen in wunderbaren Kleidern zu sehen. Da sieht man, wie sehr Scala und Mode zusammen gehören."

    Er arbeitet. So wie viele hier. Die Eröffnung der Scala ist das gesellschaftliche Ereignis im Jahr. Anwesenheit Pflicht für viele Amts- und Würdenträger. Die Bürgermeisterin, der Polizeipräsident, Lokalpolitiker, dazu Unterstaatssekretäre, der Kulturminister und sogar der italienische Staatspräsident sind heute Abend hier im Dienst. Unter den ausländischen Gästen: der Emir von Katar, der österreichische Staatspräsident und der Deutsche: Horst Köhler. Sie alle thronen in der Mittelloge. Im Foyer wurden sie nicht gesehen, auch nicht im Pausenraum für die oberen Ränge.

    Im Orchestergraben rücken die Geigen ihre Stühle zurecht, die Flöte übt noch mal schnell einen Lauf. Die Spannung steigt, die Premiere ist anspruchsvoll: Tristan und Isolde.

    Langsam füllt sich das Parkett. Niemand blickt zur Bühne, noch will man gesehen werden.

    In den Logen glänzen Frauen in flammend roten Kleidern, stützen die nackten Arme auf das Geländer und winken Bekannten im Parkett zu. Die obersten Ränge sind längst besetzt. Hier, auf den billigen Plätzen, sitzen die wahren Opernliebhaber.

    Zwei ältere Herren diskutieren, wann in die Scala zum letzten Mal Wagners Tristan und Isolde zu hören war. Unter Muti, dem langjährigen Direktor der Scala, meint der eine. Der andere schüttelt stur den Kopf. Seit 30 Jahren gebe es keine Tristan-Inszenierung mehr an der Scala. Und er hat recht. Es ist eine eingeschworene Gemeinschaft, hier oben auf den Klappsitzen.
    "Seit 49 Jahren komme ich hierher. Aus Friaul, ich steh’ um vier Uhr morgens auf, um hier zu sein. Aber die Faszination der Eröffnung ist nicht zu leugnen. Man spürt die Begeisterung, auch die Ängste. Vor 20 Jahren habe ich hier einige opernbegeisterte Studenten kennen gelernt. Inzwischen sind sie promoviert, verheiratet und haben Kinder. Und heute Abend sind sie alle da. Nach der Oper gehen wir alle zusammen zu Riccardo, 14 Leute. Das ist wunderbar."

    Im Parkett wird es ruhiger. Die meisten haben Platz genommen und starren auf den Vorhang.

    "Jetzt gibt die erste Geige die Stimmung vor und das Orchester passt sich dann dem an. Es wird auf a eingestimmt, auf die Note a."

    Eva Pleus, gebürtig aus Wien, geht seit mehr als 30 Jahren in die Mailänder Scala. Sie liebt die Oper: Gespannt rückt sie auf die Kante ihres Sessels vor. Fünf Stunden Wagner können sie nicht schrecken, im Gegenteil, ihr Gesicht strahlt vor Begeisterung. Ihre Augenbrauen heben sich – und endlich auch der Vorhang.

    Dino Buzatti schildert schon Mitte des letzten Jahrhunderts die triumphale Saisoneröffnung an der Mailänder Scala, aus dem Blickwinkel des alten Pianisten tritt er in die Welt der Reichen, Schönen und auch der Opernliebhaber. "Panik in der Scala" wurde 2001 neu im Manesse-Verlag aufgelegt.

    Kein Haus feiert sich und den Belcanto so wie die Mailänder Oper. Maria Callas, Renata Tebaldi, Jessy Norman, Montserrat Caballe, alle waren Verdis Aida in der Scala. Stimmen, die dir mit einem Legato die Seele aus dem Leib ziehen. Sopranisten, die auch im höchsten Es und zartesten Pianissimo sinnlich und ausdrucksstark sind. Verdi, Bellini, Donizetti oder Puccini darf deshalb auf keinem Spielplan fehlen.

    Das Haus pflegt den italienischen Belcanto-Stil schon in der Ausbildung. Wer in die prestigeträchtige Meisterklasse für Opernsolisten aufgenommen wird, hat andernorts schon ein Gesangsstudium abgeschlossen. Während der zweijährigen Ausbildung in Mailand leben die Studierenden von einem Stipendium der Scala und verpflichten sich damit auch kleine Rollen im Opernbetrieb anzunehmen. Der Weg zum Ruhm, zum großen Solo ist hart und führt über Terzen, Tonleiter und Vokalisen:

    In Terzen zum Ruhm
    Luciana Serra lehrt Gesang, genauer gesagt "Belcanto italiano”.

    "Besser wird es, wenn du deine Lippen spitzt."

    Heute Morgen gibt sie einer Sopranistin aus Istanbul Gesangsunterricht. Simge Bjükedes ist 26 Jahre alt, diplomierte Opernsängerin und in der Türkei ein gefeiertes Nachwuchstalent. Bei Luciana Serra übt sie Vokalisen. Seit Ende Oktober.

    "”Es geht nicht darum, jede einzelne Note für sich genommen, also abgehackt zu singen, es geht darum, die Noten miteinander zu verbinden und im Einklang mit dem Atem zu singen. Das berühmte "Legato" von Bellini hört man heute kaum noch. Oder Rossini, Donizetti, sie alle haben einen bestimmten Gesangsstil, die Technik muss sich dem anpassen und man kann nicht einfach alles gleich singen, so nach dem Motto: das passt schon!""

    Die erfolgreiche Sopranistin Luciana Serra steht selbst noch auf der Bühne und gibt zusätzlich Gesangsunterricht. Die Sopranistin ist ganz der Tradition verpflichtet, so wie die Scala.

    Nicht immer versteht Simge Bjükedes, was die große Sopranistin von ihr will, aber sie widerspricht nicht.

    "Sie ist streng, aber niemals schroff. Und sie versucht, mir zu helfen. Ich möchte ein großer Opernstar werden und alle Sopranrollen singen, die es gibt. Puccini, Verdi. Ich denke, ich bin auf die Welt gekommen, um zu singen, das ist mein Lebensinhalt, ich will nichts anderes als singen."

    Das ist ganz nach Luciana Serras Geschmack. Hingabe, Fleiß und Ehrgeiz fordert sie von ihren Schülern. Im Gang wartet bereits der nächste.
    "Wir machen hier Einzelunterricht. Jeder Schüler wird individuell gefördert. Ich habe für jeden Schüler eine Mappe mit Karteikarten, auf denen ich Stunde für Stunde ihre Schwachstellen und ihre Fortschritte notiere. Gemeinsam mit den anderen Lehrern entscheide ich dann, welche Opern sie dieses Jahr vorbereiten sollen. Sie müssen mindestens zwei Werke komplett einstudieren."

    Während sie noch spricht, winkt sie den schwarzen Haarschopf herein, der schüchtern in der Tür auftaucht.
    "Das hier ist unser Lim Tschai Jung, wir dürfen ihn Simone nennen, das ist leichter."

    Sie gibt dem jungen Koreaner das a vor. Steif steht er vor ihrem Schreibtisch. Vor Mappen und Karteikarten. Aber dann öffnet er den Mund.

    Sein Bass erfüllt den kleinen Unterrichtsraum, fliegt an den Wandspiegel und wieder zurück. Luciana Serra nickt begeistert, ihre Ohrringe schaukeln, die rechte Hand beschreibt wellenartige Bewegungen in der Luft.

    Legato soll es sein, gebunden. Legato ist eines von Luciana Serras Lieblingswörtern. Simone macht es auf Anhieb richtig. Luciana Serra ist fast ein bisschen erstaunt.
    "Diese Jung-Nam-Universität, ist die in Seoul oder in deiner Geburtsstadt? In deiner Geburtsstadt? Da haben sie dir so guten Unterricht gegeben? Die Technik ist genau die richtige."

    Luciana Serra ist aufgesprungen, wiegt sich im Takt und klatscht dazu. Ihr Schüler breitet die Arme aus, stolz, wie auf der Bühne bevor der Vorhang fällt.

    Scala und Skandale gehörten lange Zeit zusammen. Kaum war das klassizistische Teatro alla Scala für 61 Millionen Euro renoviert worden, lag die Welt vor den goldglänzenden Logen in Trümmern. Die dreijährige Umbauphase hatte den alten Konflikt zwischen dem damaligen Intendanten Carlo Fontana und dem musikalischen Leiter Ricardo Muti unterdrückt. Mit der Wiedereröffnung brachen dann alle Dämme. Im April 2005 trat der langjährige Chefdirigent ab, nachdem ihm das Orchester das Misstrauen ausgesprochen hatte. Mit Riccardo Muti stürzten kurz hintereinander zwei Intendanten. Vor vielen Aufführungen war ungewiss, ob gesungen oder gestreikt wird. Ganze Inszenierungen wurden abgesagt. Dann wurde zum erste Mal in der Geschichte der Scala ein Nicht-Italiener zum Intendanten berufen: Stephane Lissner. Der Franzose will die Scala nicht revolutionieren, sondern die Tradition neu beleben.
    Der neue Intendant verlegte die Tragödien wieder auf die Bühne und hinter der Bühne ist seitdem Ruhe eingekehrt. Sukzessiv will er die Zahl der Vorstellungen von 160 auf 224 erhöhen.

    Gleich nach seinem Amtsantritt besuchte Lissner die Werkstätten der Scala. Die eigene Werkstadt liefert die Kulisse für jede Spielzeit


    Die Callas und die andere Diva
    20 Opernliebhaber knubbeln sich vor dem Seiteneingang der Scala. Mitten drin steht SIE. Im weinroten Mantel, hört zu, stimmt zu, lehnt ab, gestikuliert und hüpft von einem Bein auf das andere.

    Sie schwärmt von diesem und jenem Sänger, verreißt einen anderen. Ihr Wort hat Gewicht hier unter den "Portici", den Bogengängen links des Theaterhaupteingangs. Hier treffen sich die habitués, hier diskutieren sie die letzte Vorstellung und stehen um billige Karten für den Abend an. 140 Stehplätze hat die Scala nach den Restaurierungsarbeiten noch. Früher waren es weit mehr. Eigentlich sollte der legendäre "Loggione", der oberste Rang in der Scala geschlossen werden, aber dagegen liefen die "Loggionisti" Sturm. Unter ihnen auch die alte Dame im Mantel: Luisa Mandelli.

    "Wir sind die Plebejer, das Volk. (lacht) Besser so. Ich würde mich nicht ins Parkett setzen, selbst wenn sie mir die Karte schenken würden."

    Ein kurzes Naserümpfen, dann lächelt sie wieder. Luisa Mandelli hat selbst mehr als zehn Jahre auf der Bühne der Scala gestanden. Die ausgebildete Sopranistin sang im Chor und Mitte der Fünfziger Jahre sogar als Solistin neben der Callas, als Annina in "La Traviata".

    Luisa Mandelli begrüßt einen Freund, der wie sie seit 40 Jahren keine Oper in der Scala verpasst.

    Ein Kuss, ein Scherz, über die Zeit, über das Alter. Er ist noch keine 70, aber gesundheitlich angeschlagen, sie ist 85 und kerngesund. Ein Energiebündel, das nicht lange still stehen kann. Mit einem Kopfnicken verabschiedet sich Luisa Mandelli aus der Runde unter den "Portici" und steuert die" Galleria Vittorio Emmanuele" an. In Mailands eleganter Einkaufspassage liegt auch ihr liebster Plattenladen: Riccordi. Kaum ein Käufer ist zu sehen, die Luft ist warm. Von der Decke dröhnt monoton die Heizung. Plötzlich kommt Leben in die Klassikabteilung. Die alte Opernsängerin wird erkannt, eine Verkäuferin eilt zu ihr.

    "Luisa ist für uns eine Institution, eine echte Freundin. Sie verkörpert die Geschichte der Scala und dieses Geschäftes."

    Luisa Mandelli wird rot vor Freude.

    Nach all den Jahren an der Scala hat sie auch hier gearbeitet.

    "Als ich die Scala verlassen habe, waren alle ganz fassungslos und fragten, was denn geschehen sei. Dabei habe ich sehr gerne hier gearbeitet, ich habe meine Begeisterung und viel Liebe in dieses Geschäft gesteckt."

    Luisa Mandelli ist zufrieden mit dem, was sie im Leben gemacht hat. Es ging ihr allein um die Musik, nicht so sehr um Ruhm und Erfolg. Dass sie als Annina an der Seite von Maria Callas in die Operngeschichte einging, ist für sie heute ein lustiger Zufall. Ohne die Callas wäre das nicht passiert, sagt sie und wird wehmütig.

    "Sie war wie einer dieser Kometen, die alle hundert Jahre am Himmel auftauchen. 50 sind seitdem vergangen, jetzt warten wir mal ab."

    "Die Callas verlangte Perfektion. Auch bei den Proben schonte sie ihre Stimme nie, sie gab immer alles und das forderte sie auch von den anderen."

    Luisa Mandelli erinnert sich noch gut an die Wutausbrüche der Prima donna assoluta, wenn es bei den Proben nicht so gut lief.

    "Ich hatte wahnsinnig Respekt vor ihr. Wir mochten uns, aber wir standen nicht auf derselben Stufe wie normale Freundinnen, sie war: die Callas! Ich sang nur eine kleine Rolle, aber ich sang sie gut, leidenschaftlich und natürlich."

    Luisa Mandelli hebt den Zeigefinger, um das "gut" zu unterstreichen. Mittelmaß auf der Bühne kann sie nicht ausstehen. Da kennt die 85jährige kein Pardon.

    Nach einem Blick auf die Uhr verabschiedet sie sich. Nicht, um nach Hause zu gehen. Der Tag ist noch lang.

    Ihr Weg führt zurück zur Scala, zu einem alten Bekannten, dem langjährigen Portier. Sie haben sich immer noch viel zu erzählen.

    Plötzlich steht ein üppiges Mädchen mit roten Locken vor ihr. Es ist den Tränen nahe und zieht die Sopranistin mit sich auf die Straße hinaus.

    Luisa Mandelli tröstet die junge Frau, eine Nachwuchssängerin. Sie ist enttäuscht, denn die erhoffte Rolle bekam eine andere.

    Kopf hoch, sagt Luisa, drückt sie einmal fest an sich und schickt sie dann mit einem Kniff in die Wange zur nächsten Probe. Aufgeben gibt es nicht, das gilt heute und das galt auch früher, als sie noch die Annina war.

    Vor dem Umbau der Scala gab es ihn noch: den Callaspunkt, den Platz auf der Bühne, von dem aus die Stimme am besten trug. Von 2001 bis 2004 wurde die Mailänder Scala geschlossen, um die Akustik zu verbessern, die Bühnentechnik zu erneuern und Restaurationsarbeiten vorzunehmen. War auch vorher das Geschrei um die Renovierung groß, schlug die Aufregung bei der Wiedereröffnung sofort in Wohlwollen um. Transparent und direkt sei der Orchesterklang. "Der Ton ist fantastisch", jubelte Riccardo Muti und die Stimmen würden durch den hufeisenförmigen Zuschauerraum getragen. Vom alten Glanz hat die Scala nichts eingebüßt, im Gegenteil bei der Restaurierung wurden vielfach übermalte Fresken wieder freigelegt und venezianische Steinfußböden ausgegraben.

    1778 wurde das Mailänder Opernhaus eingeweiht, nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg wurde die Scala 1946/47 in Rekordzeit wieder aufgebaut. Kurz danach war ihre große Zeit: Um beide ranken Mythen, beide gehören zusammen und hatten es doch nicht immer leicht miteinander. Die Callas und die Scala. Die Premiere von La Traviata an der Scala am 28. Mai 1955 fällt in die Hochzeit der Callas, nie wieder sollte sie die Violetta so vollkommen singen, das dreigestrichene Es so makellos intonieren wie in diesem Mai. Viele mussten sich seitdem daran messen und einige waren sogar dabei:


    Das Herz der Scala - die Werkstatt
    Das Herz der Scala schlägt in einer Fabrik. Mitten im alten Arbeiterviertel rund um die Via Tortona werden Kostüme geschneidert und Kulissen, manchmal nur für eine Spielzeit.

    "Hier sind wir in einer Fabrik, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Sie hieß Ansaldo und stellte Schiffsmotoren her. Vor circa zehn Jahren hat die Stadt der Scala hier einige Hallen zur Verfügung gestellt, so dass die gesamte Theaterproduktion jetzt hier entsteht."

    Salvatore, ein junger, gebürtiger Sizilianer, kam aus Caltanissetta nach Mailand, um für die Scala zu arbeiten. Er geht durch die Halle von der Größe eines Fußballfeldes als wäre sie sein Wohnzimmer. Auf dem Boden liegt ein Himmel mit Schäfchenwolken. Das kräftige Blau glänzt feucht, die Farbe ist noch frisch.

    "Hier werden die Bühnenbilder gemalt. Dort drüben ist der Skulpturenbereich, wo mit Styropor und vielen anderen Materialien all das gebaut wird, was zum dreidimensionalen Bereich des Bühnenbildes gehört. Und dann haben wir hier auch noch die Schreinerei, die Mechanik, den Kostümfundus und die Schneiderei."

    Salvatore zeigt nach rechts und links und redet sich richtig in Fahrt. Für ihn ist diese Halle die eigentliche Scala. Die Wände sind im unteren Teil aus Backstein, darüber aus Glas. Winterlicht flutet durch die milchigen Scheiben.

    150 Arbeiter malen, schweißen, hobeln und sägen. Wie in einem Ameisenhaufen scheint jeder genau zu wissen, was er zu tun hat.

    Ein Mädchen im weißen Schutzanzug schmiert Klebschaum auf eine Eisenstange in Form eines Astes. Dann setzt sie ein passend zurecht geschnittenes Styroporteil an.

    "Diese Kunst-Bäume sind schon für die nächste Oper Maria Stuart, die im Januar aufgeführt wird. Wir hier vom Bühnenbild werden immer einen bis anderthalb Monate vor der Premiere fertig. So kann die Regie mit den Objekten arbeiten und vielleicht auch noch etwas ändern, die Sänger und Tänzer haben Zeit, sich an das Bühnenbild zu gewöhnen und die Bühnenarbeiter üben den raschen Auf- und Abbau der Kulissen"

    Venanzio Alberti ist für die Skulpturen im Bühnenbild verantwortlich. In seinem Team arbeiten sieben Leute, das Mädchen mit dem Klebschaum ist erst seit einer Woche dabei.

    "Das ist ganz schön anstrengend hier. Man denkt gar nicht, wie viel körperliche Arbeit im Bühnenbild steckt. Aber ich schaff das schon."

    "Die Scala ist, wie soll ich sagen, ein großes, bedeutendes Theater, wo man viel lernen kann. Allein in dieser ersten Woche habe ich schon tausend verschiedene Sachen gemacht."

    Manuela greift zu einem Stück Schmirgelpapier und bearbeitet energisch einen der Bäume aus Styropor.

    "Wir haben sie erst einmal in Styropor eingepackt und jetzt schmirgeln wir sie ab, um ihnen eine natürliche Form zu geben. Dieser hier war zu zylindrisch in der Form, darüber haben wir gerade gesprochen, er muss noch einmal neu mit Styropor verkleidet und bearbeitet werden."

    Manuela macht sich ans Werk. Perfektion gehört zum Job, das hat sie schon gelernt. Ihr Chef, Venanzio Alberti, legt größten Wert auf Details und vergisst dabei nicht die großen Zusammenhänge.

    "Man muss eine gewisse Demut zeigen in unserer Arbeit. Damit meine ich, man muss das Ganze sehen, das Große, die Aufführung als Ergebnis eines Zusammenspiels von Bühnenbildnern, Orchester, Chor, Kostüme und vielem anderen. Wenn man es schafft, aus seiner kleinen, beschränkten Sichtweise auszubrechen und das Gesamtwerk sieht, dann kann man leicht den eigenen Stolz beiseiteschieben. Wenn man aber sich und seine Arbeit in den Mittelpunkt stellt, wird man ewig leiden, weil das eigene Ego ständig übergangen oder verletzt wird. Theater ist ein Gemeinschaftswerk, so wie es in der Gotik die Kathedralen waren. Da haben viele Menschen dran gearbeitet, aber die kennt niemand. Diese Manie, seinen Namen unter alles setzen zu müssen, ist typisch für unsere Zeit. Das ist ein Individualismus, der einfach zu weit geht."

    Der Mittvierziger runzelt die Stirn. Egozentrik verzeiht er nur den Regisseuren, und auch da eigentlich nur den ganz Großen. In 25 Jahren an der Scala hat er einige hautnah erlebt.

    "Jeder hat seine Persönlichkeit und man muss lernen, im Gleichklang zu schwingen. Manchmal liegt man direkt auf einer Wellenlänge, manchmal dauert es etwas, aber darum müssen wir uns wirklich bemühen! Schließlich verwirklichen wir hier Träume. Wir sind es, die den Traum, die Idee in die Praxis umsetzen müssen. Oft hat derjenige, der uns seinen Traum bringt, eine Intuition, aber er weiß nicht, wie er sie umsetzen soll. Und er erwartet von mir Hilfe, damit aus der vagen Idee etwas Konkretes wird."

    Venanzio Alberti schaut auf seine Hände. Sie sind rau. Handwerkerhände. Handschuhe benutzt er nur, wenn er mit giftigen Substanzen hantiert. Manuela hat er dagegen verboten, die Arbeitshandschuhe abzulegen. Sie schneidet jetzt mit einer Kollegin Styroporblöcke in handliche Teile.

    Der heiße Draht frisst sich langsam durch den Block.

    Manuela ist noch nicht so geschickt darin, aber die Kollegin bleibt geduldig. Hast wäre hier falsch am Platz. So handwerklich die Arbeit hier auch ist, am Ende dient sie der Kunst. Und wird selbst fast zur Kunst.

    "Das Theater ist eine Art Wunder, ein Traum. Man kann es nicht erklären, aber wenn man ins Theater geht, eine Oper sieht oder etwas anderes, dann geht man hinterher verändert nach Hause, bereichert, ohne aber genau sagen zu können, warum. Es passiert einfach."

    Getanzte Schwerelosigkeit und grazile Schönheit, Sprünge die gen Himmel wollen und Pirouetten, die den Zuschauer schwindeln lassen. Ballett ist die Überwindung der Schwerkraft bis es nicht mehr geht. Doch was so leicht daher kommt, ist das Ergebnis schwerster Arbeit. Wer nur die Chance auf eine Solopartie in einem der großen Ensembles haben will, der verbringt schon seine Kindheit an der Ballettstange.

    Ballett ist vielleicht die Verbindung zwischen Hochleistungssport und Kunst: Und all der Disziplin, all dem Talent sind strenge zeitliche Grenzen gesetzt. Denn niemand hat am Theater die Zeit so gegen sich wie ein Tänzer. Horrowitz spielte noch mit 80 hervorragend Mozarts Klavierkonzerte, Karajan wurde im Alter immer erfahrener und viele Schauspieler werden mit den Jahren besser. Ein Tänzer hat diese Jahre nicht. Wenn andere ins Charakterfach wechseln, wechselt die Ballerina von der Bühne in die Lehre. Es bleibt der Unterricht oder die Choreografie.

    Erschwerend kommt hinzu, dass dem Einsparungszwang fast immer zuerst das Ballett zum Opfer fällt. Die Scala hat ihr klassisches Ballett behalten. Mehr noch, in Mailand wird auch noch ausgebildet: Die Truppe bedient vor allem das klassische Repertoire. Schwanensee, Nußknacker, Giselle oder Prokovievs Romeo und Julia.


    Tanz gegen die Zeit
    Zwei Grazien mitten im Saal, Spiegel an der Wand, glatt geschliffenes Parkett zu ihren Füßen, die Spitzenschuhe klappern. Tendue, Sprung, Pirouette, einmal, zweimal und dann: Die Ballettmeisterin schüttelt den Kopf und Marta Romagna, die Ballerina, bleibt stehen. Nur ihr Tü-Tü zittert noch.

    Ihre Wangen sind rot, ihr Trikot verschwitzt. Sie ist der Schwan, sie ist die Prima Ballerina. Ballettmeisterin Laura Contardi macht es vor. Marta geht zurück an ihren Ausgangspunkt hinten im Saal, nimmt die Schultern herunter, schiebt die Hüften vor und hebt die Arme über den Kopf. Zwei, drei Laufschritte, eine Drehung auf der Spitze, der Oberkörper schwankt leicht nach links.

    "Das macht nichts, atme durch den Körper","

    ruft ihr die Ballettmeisterin zu. Sie schwingt den rechten Arm im Takt der Musik, ihre Augen treiben Marta weiter.

    Ein Sprung, kraftvoll nach vorn, die Arme fliegen zurück. Das Gesetz der Schwerkraft scheint außer Kraft, Marta hat ihren Rhythmus gefunden.

    Sie tanzt die komplette Szene. Es sieht kinderleicht aus. An ihren Beinen treten die Muskelstränge hervor. Seit fast zwei Stunden probt sie immer die gleiche Stelle. Jetzt endlich wird es so anmutig wie die Ballettmeisterin es verlangt.

    Laura Contardi war bis vor sieben Jahren selbst Prima Ballerina. In Mailand, Rom, Paris, London, Berlin, Dresden.

    Besser so, sagt sie und lächelt zum ersten Mal. Marta hebt den Kopf, als wäre sie erstaunt über das Lob. Sie zieht sich die Spitzenschuhe aus. Für heute ist es genug.

    ""Du gewöhnst dich daran, Blasen hatte ich in der Ausbildung. Das heißt, stimmt gar nicht, vor ein paar Monaten hatte ich wieder Blasen, die waren schrecklich. Wahrscheinlich habe ich es an dem Tag übertrieben mit dem Spitzentanz, es war jedenfalls ein Drama. Ich musste am nächsten Abend tanzen und kam gar nicht mehr in die Schuhe, so geschwollen waren meine Füße. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich es geschafft habe, den Abend zu überstehen."

    Marta nimmt ihre violette Trainingsjacke, nickt Laura zum Abschied kurz zu und geht in ihre Garderobe.

    "Ich teile mir die Garderobe mit einer anderen Prima Ballerina, wir sind dicke Freundinnen, erzählen uns alles. Ich mag diesen winzigen, intimen Raum. Wir haben ihn mit unseren persönlichen Dingen eingerichtet."

    Auf dem Tisch in der Mitte liegen Stofftiere, Block und Stifte, CD-Hüllen und Glückwunschkarten, über dem Spiegel hängen Fotos.

    "Das sind alles Erinnerungsfotos, hier zum Beispiel von einer Tournee in Mexiko, das ist meine Cousine mit ihren Kindern, das sind meine Eltern, hier ist mein Freund, auch er tanzt hier an der Scala."

    Martas Finger streicht über das Foto .

    "Freunde, die nichts mit der Scala zu tun haben, habe ich erst seit kurzem. Inzwischen schaffe ich es, auch noch ein Leben draußen zu führen, aber als Heranwachsende war das nicht möglich. Diese typisch pubertären Sachen wie Feten oder Schulfeste, dafür hatte ich keine Zeit, ich weiß gar nicht, was das ist. Ich war hier beschäftigt. Oft genug wurden Kinder bei den Ballettaufführungen gebraucht und dann tanzten wir nach einem langen Tag des Probens auch noch abends auf der Bühne. Meine Eltern brachten mich um acht Uhr morgens hierher und holten mich um elf Uhr abends wieder ab."

    In der Tür taucht ein dunkler Haarschopf auf. Massimo Murru, einer der beiden Tänzer an der Scala. "ètoile" lautet sein offizieller Titel. Er sucht sein Beinkleid. Dann verschwindet er wieder. Marta versteht sich gut mit ihm. Sie haben viel gemeinsam: Talent und Ehrgeiz.

    "Die Bühne ist: (holt Luft) alles für mich. Das klingt vielleicht banal, aber die Gefühle, die ich auf der Bühne erlebe, von der Freude bis zu den Tränen, sind einmalig. Jedes Mal, wenn ich den Fuß auf die Bühne setze und das Publikum sehe, dann denke ich zwar nicht daran, dass mir 2000 Leute zugucken, aber mich elektrisiert das, ich bin dann in einer anderen Welt."