Sonntag, 28. April 2024

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Studie Straßennetz
"Ökologische Prozesse werden gestört und zerschnitten"

Durch Straßen wird die Erdoberfläche derzeit in 600.000 einzelne Parzellen zerschnitten. Zu diesen Ergebnis kommt eine Untersuchung von Naturschutzbiologen. Pierre Ibisch, Mitautor der Studie, geht davon aus, dass eine Erweiterung des Straßennetzes den Zustand des Ökosystems weiter verschlechtert. Verkehrswege seien ein "Treiber der Degradation", sagte der Forscher im DLF.

Pierre Ibisch im Gespräch mit Arndt Reuning | 16.12.2016
    Verkehr und volle Straßen in Shanghai
    Straßennetzte ziehen eine Verschlechterung des Zustands von Ökosystemen nach sich, sind die Naturschutzbiologen der "Roadless Initiative" überzeugt. (picture alliance / dpa / Yu Shenli)
    Arndt Reuning: 105 Millionen Quadratkilometer, so groß ist die Fläche auf der Erde, die von Straßen nicht berührt wird. Sie wird aber von ihnen förmlich zerschnitten in 600.000 einzelne Parzellen. Veröffentlicht wurden diese Angaben gerade im Fachmagazin "Science". Zehn Expertinnen und Experten haben an der Studie mitgewirkt. Mit einem von ihnen spreche ich nun: Mit Professor Pierre Ibisch von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde. Wie sind Sie auf die Zahl von 600.000 Parzellen gekommen?
    Pierre Ibisch: Wir haben eine Karte erarbeitet dieser straßenlosen Räume auf der Grundlage eines großen Datensatzes, das ist der Open-Streetmap-Datensatz, frei verfügbare Daten über Straßen, der im Grunde auch permanent aktualisiert wird.
    Diesen Datensatz haben wir verwendet und haben dann einen Puffer über diese Straßen gelegt, jeweils einen Kilometer rechts und links von der Straße, und haben dann gesehen, was bleibt dann übrig, was sind dann die Räume, die nicht direkt von Straßen betroffen sind.
    Reuning: Warum haben Sie sich denn diese Mühe überhaupt gemacht?
    Ibisch: Wir sind Naturschutzbiologen, die allesamt einer Initiative angehören, der Society for Conservation Biology, das ist die sogenannte Roadless Initiative. Seit vielen Jahren treibt uns das Thema der Straßen um, weil wir sehen, dass das ein ganz relevanter Treiber der Degradation, also Verschlechterung des Zustands von Ökosystemen nach sich zieht.
    Wir haben die Folgewirkung von Straßen auf Ökosysteme studiert beziehungsweise auch die wissenschaftliche Literatur ausgewertet und sind zusehends zum Ergebnis gekommen, dass diese Räume, die noch nicht von Straßen zerschnitten werden und auf vielfältige Weise beeinträchtigt werden, dass die ein besseres Augenmerk verdienen im internationalen Naturschutz.
    "Die verbleibenden straßenfreien Räume sind sehr stark zerschnitten"
    Reuning: Allerdings rund 80 Prozent der Landfläche weltweit sind unberührt von Straßen, das ist doch eine ganze Menge. Heißt das, dass man den Einfluss der Verkehrswege auf die Umwelt deshalb auch vielleicht doch vernachlässigen könnte?
    Ibisch: Das klingt in der Tat sehr viel. Das ist ja ein paradoxes Ergebnis scheinbar. Wir müssen natürlich bedenken, dass wir dabei zum einen sämtliche Flächen dabei haben, die in polaren Regionen liegen, von Eis bedeckt sind. Wir haben Hochgebirge, wir haben große Wüsten, wo wir natürlich weniger produktive Ökosysteme haben, Ökosysteme, die vielleicht auch weniger mit der Atmosphäre interagieren, weniger mit dem Wasserhaushalt und Ähnliches.
    Wenn wir uns also die ökologisch aktiveren, wertvollen Ökosysteme anschauen, das sind eigentlich so die Bioreaktoren, von denen auch die Masse der Ökosystemdienstleistungen abhängen, die wir benötigen als Menschheit, dann sieht die Sache natürlich anders aus. Hinzu kommt – Sie haben die Zahlen genannt –, dass die verbleibenden straßenfreien Räume sehr stark zerschnitten sind. Das im unterschiedlichen Maße, je nachdem, welches Biom wir betrachten.
    Reuning: Was bedeutet denn diese Fragmentierung durch Straßen für die Lebensräume?
    Ökologische Prozesse werden gestört
    Ibisch: Das ist eine große Vielfalt von Einwirkungen. Das beginnt ganz lokal natürlich durch eine Veränderung von Böden, eine kleine Forststraße, im Grunde weniger als das, schon eine Rückegasse kann genügen, um das unterirdische Netzwerk der Wurzeln und der Mykorrhiza zu stören oder zu zerstören.
    Wir haben durch Straßen mikroklimatische Veränderungen in Ökosystemen. Es kann also zu stärkerer Erwärmung kommen entlang der Straßen. Es können Turbulenzen in die Wälder gebracht werden, dadurch die Windanfälligkeit erhöht werden. Es sind auch Folgewirkungen, die mit invasiven Arten zu tun haben, die diese Straßen und Straßenränder nutzen, um in auch entlegenere Regionen einzuwandern.
    Dann sind natürlich da die bekannten Effekte, die Zerschneidung von Genpools, die teilweise auch behandelt werden durch Grünbrücken für Fauna zum Beispiel, aber es sind eben doch noch eine ganze Reihe von weiteren Prozessen biologischer, ökologischer Art, die gestört werden und zerschnitten werden.
    "Wenn eine Straße mal da ist, wird es großen Widerstand geben"
    Reuning: Was halten Sie von der Idee, existierende Straßen und Verkehrswege wieder zu schließen zum Wohl der Umwelt?
    Ibisch: Das ist eine gute Idee, denke ich, in vielen Räumen, wo man doch noch mal kritisch schauen sollte, ob man nicht zu viele Straßen hat. Das kann in Wäldern zum Beispiel so sein, das kann in Schutzgebieten so sein.
    Wobei vollkommen klar: Wenn eine Straße mal da ist, wird es immerzu sehr großen Widerstand geben, die wieder zu schließen, und das ist auch teuer natürlich, dann einen Zustand wieder herzustellen, der im Moment noch günstig zu erhalten wäre in diesen verbleibenden straßenlosen Räumen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.