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Grönlands Gletscher
Keiner wie der andere

Die Eisgletscher lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Wie Forscher nun herausfanden, gibt es dort höchst unterschiedliche Gletscher, was Prognosen über ihr Abtauverhalten erschwert. Sicher scheint aber, dass der Eisverlust bisher unterschätzt wurde.

Von Volker Mrasek | 16.12.2014
    Ein Eisberg in Süd-West-Grönland im August 2014.
    Das Eis in Grönland und in der Antarktis schmilzt immer schneller (picture-alliance / dpa / Albert Nieboer)
    So genau hat sich noch niemand die größte Insel der Welt von oben angeschaut. An fast hunderttausend Stellen von Grönland bestimmte die US-Raumfahrtbehörde NASA in den vergangenen Jahren die Höhe des Eispanzers, mit sogenannten Laserlicht-Altimetern an Bord von Satelliten und Flugzeugen. Diesen Wust von Daten werteten Forscher aus vier Nationen jetzt erstmals vollständig aus.
    Unter ihnen Michiel van den Broeke, Professor für Polare Meteorologie an der Universität Utrecht in den Niederlanden.
    "Aus unserer Studie lernen wir zum einen, dass Satelliten unerlässlich sind zur Überwachung des Eisschildes. Und zum anderen, dass sich Grönlands Gletscher individuell sehr unterschiedlich verhalten. Es genügt nicht, sich einige von ihnen anzuschauen und dann zu glauben, man könne so die Entwicklung des ganzen Eisschildes in der Zukunft schließen. Man muss wirklich alle Gletscher berücksichtigen."
    Die bodennahe Luft in Grönland hat sich stark erwärmt - um rund zwei Grad Celsius in den letzten hundert Jahren. Auch der Ozean ist wärmer geworden, was zumindest die sogenannten Auslassgletscher spüren. Das sind jene an der Küste, die sich Richtung Meer schieben und ihr Eis nach und nach an den Ozean verlieren.
    Grönland reagiert dabei doppelt auf die Erwärmung: Die Gletscher schmelzen nicht nur an ihrer Oberfläche; viele fließen auch beschleunigt ins Meer ab. Beide Prozesse tragen gleichermaßen zum Eismassen-Verlust der Insel bei.
    Das Verhalten der Gletscher sei aber viel komplizierter als bisher gedacht, sagt auch Bea Csatho, Professorin für Geologie an der Universität von Buffalo in den USA:
    "Schauen wir uns zum Beispiel den Südosten Grönlands an. Diese Region macht zwar nur ein Zehntel des Eisschildes aus. Zwischen 2003 und 2009 spielte sich hier aber fast die Hälfte des gesamten grönländischen Eis-Verlustes ab. Es gibt dort viele kleine, direkt benachbarte Gletscher. Und man stellt fest: Der eine schmilzt ab, der andere wächst, während ein dritter zur selben Zeit beschleunigt abfließt.
    Forscher befürchten, dass Grönlands Eisverlust unterschätzt wird
    Wie viel Eis an der Oberfläche der Gletscher schmilzt, weil die Luft wärmer wird - das können die Polarforscher ganz gut abschätzen. Anders verhält es sich mit der Dynamik der Eisströme in Grönland, mit ihrer Bewegung. Viele Auslassgletscher haben Phasen, in denen sie beschleunigt ins Meer abfließen. Doch dann kommen sie plötzlich zum Halten, und ihr Eispanzer wächst sogar wieder.
    Erklären könne er diese Dynamik bisher nicht, sagt Polarmeteorologe van den Broeke:
    "Wir müssen zugeben, dass wir diese Dynamik der Gletscher in unseren Computermodellen bisher nicht simulieren können. Dafür gibt es allerdings einen simplen Grund. Viele Auslassgletscher fließen in tiefe Fjorde. Die Wasserströmungen dort sind aber sehr kompliziert und lokal sehr unterschiedlich. Wenn wir wissen wollen, wie das Meer die Gletscher von unten erwärmt und abtaut und so ihren Abfluss verändert, dann müssen wir diese lokalen Strömungen in unseren Modellen mit berücksichtigen. Dafür reicht ihre räumliche Auflösung heute aber noch nicht aus. Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen!
    Grönlands Eispanzer dehnt sich über 1,7 Millionen Quadratkilometer aus. Deutschland würde fast fünf Mal hineinpassen. Auf der Insel gibt es vermutlich über 20.000 einzelne Gletscher. Nur vier von ihnen werden aber bisher in den Szenarien der Klimaforscher für Grönlands künftige Entwicklung berücksichtigt. Und darunter ist auch noch ein Eisstrom im Norden, der seine Fließgeschwindigkeit so gut wie gar nicht verändert hat. Im Gegensatz zu so vielen anderen Gletschern, die verstärkt an Substanz verlieren.
    Die Forscher fürchten deshalb, dass der Eisverlust in Grönland in den heutigen Prognosen unterschätzt wird. Verlässlichere Vorhersagen wird es ihrer Meinung nach erst dann geben, wenn die Modelle höhere Auflösungen haben – und sich auf viel mehr als nur vier Gletscher stützen.