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Grundsätzliche Mechanismen der Liebe

Ich bin zwar der Schöpfer der Bücher, aber kein kaltblütiger Erfinder, der das, was er macht, kontrolliert und beherrscht. Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, ist sehr alt und intuitiv. Wenn man intuitiv schreibt, ist die Kontrolle nicht total. Ich benutze gerne das Bild eines kleinen Jungen, der einen Drachen auf einem Hügel steigen lässt. Man sieht, wie der Junge den Drachen lenkt und er macht das gut, schreibt seinen Namen in den Himmel, lässt ihn Schleifen fliegen. Aber es wäre sehr dumm zu glauben, der Junge könnte den Drachen steigen lassen, wenn es keinen Wind gäbe und genauso dumm wäre es, wenn man glaubte, der Junge würde den Wind kontrollieren oder der Wind würde den Jungen kontrollieren. Das Geschichtenschreiben ist für mich. Es gibt eine wilde intuitive Macht, das ist die Macht der Erzählens und die gibt es bereits seit vielen tausend Jahren. In meiner schrecklichen Metapher ist das der Wind. Und dann gibt es den Künstler - das ist der kleine Junge, der den Drachen fliegen lässt und zwischen diesen beiden Mächten, der kontrollierenden des Jungen und der wilden des Windes steht der Drache. Er ist der Roman, er vermittelt zwischen beiden Mächten. Sicherlich bin ich der Schiedsrichter, treffe ich die Entscheidungen, aber ein Buch, das sich nicht dieser wilden Kraft überlässt, wird niemals vom Boden abheben.

Von Johannes Kaiser |
    Die wilde Kraft, der sich der 58-jährige englische Schriftsteller Jim Crace in seinem siebten Roman "Stadt der Küsse" überlassen hat, ist diesmal die Macht der sexuellen Begierde. Nein, das betont er gleich zu Beginn des Interviews, die Eroberungen, von denen im Buch die Rede ist, beruhen nicht auf eigenen Erfahrungen. Der seit 30 Jahren glücklich verheiratete Familienvater mit zwei Kindern hat nichts mit dem Helden seines neuen Romans, dem Schauspieler Felix Dern gemeinsam, außer einer regen Vorstellungskraft:

    Mir gefiel an der Vorstellung, dass unser Sexleben vor allem in Erzählungen und in der Phantasie existiert. Wir verbringen viel Zeit damit, uns auszumalen, wie es mit jemandem wäre, den wir in der U-Bahn oder im Bus sehen. Unser sexuellen Phantasien sind viel lebhafter als unsere sexuellen Körper. Mir fiel auf, dass es genau das ist, was Schauspieler machen: sie stellen sich Dinge vor und phantasieren Sachen, die man machen würde.

    Felix Dern ist denn auch nur auf der Bühne der leidenschaftliche Verführer, der draufgängerische Don Juan. In seinem Privatleben ist Lix, wie alle ihn nennen, eher ein schüchterner Mann, der selten die Initiative ergreift, den eher die Frauen verführen, als dass er sie becirct. Dass man für ihn schwärmt, sein Aussehen sexuelle Wünsche weckt, ist ihm eher unheimlich, zumindest nutzt er es nicht aus. Der Frauenheld ist nur seine Rolle, entspricht nicht seinem Wesen.

    Jim Crace hat sich einen Helden ausgedacht, der nur wenig Ausstrahlungskraft besitzt. Da wirken seine Frauenfiguren viel verführerischer. Aus gutem Grund:

    Ich neige dazu, Frauen zu erfinden, die mir selber gefallen würden. Ich vermute, das ist der Luxus desjenigen, der zuhause sitzt und ein Buch schreibt, während die Familie, besonders die eigene Frau das Haus verlassen hat. Man kann Frauen erfinden, mit denen man selbst gerne flirten würde. Jede dieser Frauen ist für mich sexuell sehr attraktiv. Diese Frauen stehen für unterschiedliche Stadien seines Lebens. Die zögerliche Erste, der Verlust der Jungfräulichkeit, der One-Night-Stand, die beiden langen Beziehungen, die große Leidenschaft. Ich habe nach Beispielen für die verschiedenen Beziehungen im Leben eines typischen Mannes gesucht.

    Im Unterschied zu manchem seiner Kollegen gehört Jim Crace allerdings zu jener Schar dezenter Schriftsteller, die den Akt nicht in allen Einzelheiten ausmalen, sich mit Andeutungen begnügen, Umschreibungen wählen statt anatomische Details aufzulisten. Ihm geht es eher um grundsätzliche Mechanismen der Liebe und der sexuellen Gier, des willigen Körpers und des kontrollierenden Verstandes.

    Eine Bemerkung, die ich hörte und die mich beunruhigte, brachte mich dazu, die Vorstellung näher betrachten zu wollen, die ich erst ablehnte, dann aber als teilweise zutreffend erkannte, dass Sex der Preis ist, den Frauen dafür zahlen, dass sie Liebe und Kinder bekommen und dass die Männer ernüchternd genug genau umgekehrt funktionieren. Kinder und Liebe sind der Preis, den Männer dafür zahlen, dass sie Sex bekommen. Das ist natürlich ein monströser Blick auf Beziehungen, aber ich hätte mich auch nicht eine Sekunde damit beschäftigt, wenn ich nicht begriffen hätte, dass davon auch etwas in mir selbst steckt.

    Felix Derns erste große Leidenschaft gilt der Studentin Freda, eine höchst attraktive, energiegeladene Amazone, umschwärmt von einer ganzen Schar Kommilitonen, die sie alle abblitzen lässt. Lix erobert sie mit der Idee eines ebenso tollkühnen wie brandgefährlichen Plans: der Entführung eines amerikanischen Multimillionärs während eines Hochschulbesuchs. Freilassen will man ihn, sobald er eine Schuldeingeständnis unterzeichnet hat. Wir befinden uns in den aufrührerischen sechziger Jahren mit ihren tragischkomischen Polittheatern. Jim Crace malt da mit einem allzu breiten Revolutionspinsel, um die intellektuelle Verführung der Studentin verständlich zu machen. Der absurde Coup misslingt gründlich, aber dafür gibt sich Freda dem wagemutigen Helden hin - die 68iger Revolutionäre bekamen immer die schönsten Frauen ab.

    Auf den intellektuellen Heißsporn Freda, die schon bald merkt, dass Lix den Mutigen nur gespielt hat, folgt die sanftmütige, mütterlich weiche, anschmiegsame Alicia - in vielem das genaue Gegenteil von Freda. Auch hier steigert eine adrenalingeladene Katastrophensituation das Begehren. Der große Fluss, der die Stadt, in der sie leben, durchschneidet, tritt über die Ufer, schließt sie beide in ihrem Haus ein. Als die Flut zurückgeht, kümmert sich Alicia um die geschädigten Bewohner, mischt sich im häufiger in die Lokalpolitik ein. Sie gibt ihr Hausfrauendasein auf, steigt zur beliebten Kommunalpolitikerin auf. Das vielbeschäftigte Paar lebt sich auseinander. Zum echten Bruch kommt es allerdings, als Alicia ihn vor all seinen Freunden demütigt, ihn als lausigen Liebhaber hinstellt. Das frisst am Selbstwertgefühl des ich-bezogenen Schauspielers.

    Es kommt zur dritten Phase des männlichen Liebeslebens: der ältere, erfolgreiche Mann, der sich diesmal eine weitaus jüngere Frau ins Haus holt, die hübsche, sich ihrer selbst aber keineswegs sichere Mouetta. Mit dieser letzten Beziehung beginnt und endet das Buch. Mouetta wird die Mutter seines sechsten Kindes, denn das ist der Fluch, der auf dem Schauspieler liegt: jedes Mal, wenn er unkontrolliert seiner Gier nachgibt, alle Vorsichtsmaßnahmen vergisst, zeugt er ein Kind. Felix Dern ist ein ausgesprochen fruchtbarer Mann, aber ein miserabler Vater:

    Mir ging es darum, klarzumachen, dass sein Leben so leer war, weil er dieses wunderbare Geschenk, das Kinder sind, weder begreifen noch annehmen konnte. Lix verbringt nie seine Zeit mit ihnen, verpasst diese großartige Erfahrung. Zu Beginn des Buches ist gerade sein letztes Kind, das 6. empfangen worden. Es ist von Anfang an mit dabei. Dieses Buch ist gewissermaßen schwanger mit einem Kind und das Ende des Buches fällt zusammen mit dem Ende der Schwangerschaft. Und doch treffen wir die Kinder, von denen wir wissen, dass sie geboren wurden, nie. Das war von mir durchaus beabsichtigt, denn ich hatte bereits lange vorher geplant, dass wir diese Kinder am Schluss des Buches entdecken. Das ist für mich das emotionale Zentrum des Buches: am Ende kurz all diese Kinder treffen zu können und zu begreifen, was für warme, interessante und hoffungsvolle Menschen sie sind.

    Nach all den gescheiterten Beziehungen, von denen der Roman erzählt, ist das eine der wenigen optimistischen Passagen des Buches, fast schon eine Art Happy End. Eigentlich sollte der Roman selbst zur Feier des Lebens werden, immerhin geht es um die Liebe. Doch unter der Hand verwandelten sich die fünf Reisen ins Universum der weiblichen Reize ist eine Demonstration männlichen Versagens. Jim Crace spielt mehrere Varianten der Verführung durch, die Frauen so meisterlich beherrschen, um Männer um den Verstand zu bringen. Jede hat ihre eigene Methode, aber alle nutzen sie die männliche Schwäche mangelnder Selbstkontrolle aus, geht es um den Sex. Der Mensch, schreibt Crace an einer Stelle, ist unvernünftig und triebgesteuert wie ein Tier. Wohl wahr, wenn auch wenig schmeichelhaft.