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Günter Lempa: Der Lärm der Ungewollten

Da Vollzeitarbeitsplätze unter den gegebenen Bedingungen immer knapper werden, Erwerbsarbeit in der alten Form aber ihre gesellschaftliche Geltung behalten hat, scheint sich die moderne Gesellschaft den skandalösen Luxus erlauben zu können, die aus dem produktiven Arbeitszusammenhang Ausgegliederten auf Dauer vom System gesellschaftlich anerkannter Arbeit fernzuhalten. Natürlich geschieht das in der Regel nicht bewusst und offen. Aber sowohl die krankmachenden Erosionen in den Beziehungsverhältnissen, denen trotz wuchernder Institutionen zur sozialpsychiatrischen Betreuung kaum nachhaltige Heilungsperspektiven angeboten werden, als auch die vielen Hindernisse, die der Selbstorganisation der Ausgegliederten in den Weg gelegt werden, sprechen eine eindeutige Sprache und legen nahe, aus Symptomen auf eine dahinter stehende Strategie zu schließen. Nicht die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist das Ziel solcher Behandlung, sondern allenfalls die Bewahrung einer minimalen Lebensfähigkeit. Darin scheint sogar ein Funken funktioneller Vernunft zu liegen. Warum auch sollte eine Gesellschaft, die unter chronischem Überfluss an lebendiger Arbeitskraft leidet, ein vitales Interesse daran haben, Arbeitsfähigkeit zu erhalten, wo doch nur geringe Chancen bestehen, ihr einen angemessenen Boden der Betätigung, ein field of employment, zu verschaffen.

Marianne Bäumler |
    Der Soziologe Oskar Negt schreibt das in seinem jüngsten Buch, das "Arbeit und menschliche Würde" überschrieben und bei Steidl in Göttingen erschienen ist. Negt analysiert die Krise des kapitalistischen Beschäftigungssystems, beschreibt, warum alle Reparaturversuche gescheitert sind und macht auf die Folgen lang anhaltender Dauerarbeitslosigkeit für Demokratie und Gesellschaft aufmerksam. An diesem Punkt setzt auch der Münchener Psychoanalytiker Günter Lempa an. "Der Lärm der Ungewollten" hat er seine Studie über gesellschaftliche Desintegration und das Erstarken rechtsradikaler Gewaltbereitschaft überschrieben, die bei Vandenhoeck und Ruprecht erschienen ist.

    Innerhalb der Gesellschaft einen Platz zu haben, sich selbst innerhalb des Ganzen einen sinnvollen Platz zuweisen zu können, ist physisch und psychisch überlebensnotwendig.

    Schreibt der Münchner Psychoanalytiker Günter Lempa.

    Gelingt es nicht, innerhalb der Gesellschaft seinen Platz, seinen Anteil an den Gütern, seine Anerkennung in einem als sinnvoll und gerecht erlebten Ausmaß zu finden, ergibt sich soziale Panik und die Aufkündigung der Loyalität. Auf diesem Niveau werden alle Selbstkontrollen aufgegeben, selbst die Logik kann als eine fremde und betrügerische Macht erlebt werden.

    Günter Lempa stellt als Resümee seiner psychologischen Interviews eine beunruhigende Tendenz zum Aussteigen aus dem Sozialkontrakt fest. Etliche Männer - mehr aus dem Osten als aus dem Westen - würden zu Gesetzesbrechern ohne Unrechtsbewusstsein, weil ein unausgesprochener Vertrag nicht eingehalten werde. Angesichts wachsender Ungleichheit und der Erosion von Gerechtigkeit und Chancengleichheit entstehe ein Gefühl der Schutzlosigkeit, des Ausgeliefertseins, das zu einer Entzivilisierung führe. Im Normalfall stimme die Gleichung:

    In einer Art Handel werden zivilisiertes Verhalten und Denken gegen Anerkennung und Partizipation getauscht.

    Nicht so für jene "Erniedrigten und Beleidigten", die auf Dauer ausgegrenzt und der Ignoranz der Erfolgreichen ausgesetzt sind. In solcher Isolation wächst der Wunsch, endlich einer Gruppe zugehörig zu sein, Zusammenhalt, Stolz und Bestätigung in der "Kameradschaft" zu erleben.

    Rechtsradikale Organisationen sind bereit, wirklich jeden zu nehmen. Das ist weniger ein Ausdruck von Toleranz als in der Struktur rechtsextremer Gruppierungen begründet. Man interessiert sich wenig für die Vorgeschichte der Mitglieder. ... So kommt das Angebot, jemand zu sein, sich zeigen zu dürfen und endlich einmal positiv, nämlich als Deutscher definiert zu werden, all ihren Problemen und Identitätsunsicherheiten entgegen. Damit wird aus einer schweren Pathologie ein erwünschtes und anerkanntes Verhalten.

    Diese lückenhafte Identität wird von den organisierten Rechten systematisch für ihre Zwecke genutzt, und den Ausgegrenzten werden zum Beispiel als Saalordner scheinbar legitime Angebote der Spannungsabfuhr unterbreitet.

    Außerdem liefert ihnen die rechte Ideologie erfreuliche Lösungen für ihre sozialen Defizite. Sie sind nicht selbst schuld an den Misserfolgen, die sie in großer Zahl erleben, es sind die Fremden, die Ausländer. Damit ist ihr Kampf gegen die Fremden mit der Illusion verbunden, dass sie, wenn die Eindringlinge weg sind, endlich auch das bekämen, was ihnen bislang vorenthalten wurde.

    Insofern bietet sich "die Einwanderungsproblematik als Projektionsfläche" auch an, wenn jemand in seiner Kindheit schon massiv "demütigend abgewiesen" wurde. Ausländer nähmen "Arbeitsplätze weg, obwohl der Staat Schulden habe," so ein interviewter Straftäter. Desinformation durch so manche kommerziellen Medien sowie hoher Alkoholkonsum begünstigen solche dumpfen Kurzschlüsse. Der Analytiker konstatiert, dass die Rechtsextremen instinktiv auf die Widersprüche des neoliberalen Kapitalismus reagieren, vor allem auf die Überforderung des Sozialstaats. Auch lege die "progressive" Öffentlichkeit "ein Tabu über die realen interkulturellen Konflikte". Insofern kann die Gewaltproblematik und der damit einhergehende erschreckende Verlust von Einfühlung nur dann sinnvoll angegangen werden, eine "Sozialintegration" gelingen, wenn auch das Verleugnen struktureller Chancenungleichheit von Seiten der sozial Abgesicherten aufhört.

    Günter Lempa, "Der Lärm der Ungewollten", Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen. 177 Seiten zu 22.39 Euro.