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Handkes "Immer noch Sturm" in Paris
Von Kämpfen, Leiden und Träumen

Was Sprache ist, kann nicht verloren sein - das ist das Fazit, das am Ende von Alain Françons Inszenierung von Peter Handkes Familiendrama "Immer noch Sturm" am Pariser Théâtre de l'Odéon steht.

Von Eberhard Spreng | 05.03.2015
    Da sitzt ein Mann auf einer Bank im südosteuropäischen Irgendwo und stellt sich das Leben seiner Verwandten vor. Und dann treten sie tatsächlich in Erscheinung und fordern gegenüber dem Mann ihr Recht ein: Die Vorstellung wird Wirklichkeit und wendet sich mal liebevoll, mal harsch und heftig gegen den Träumenden. Der Autor und seine Fiktion und wie sie sich von ihm emanzipiert, das steht in Alain Françons Pariser Realisation im Mittelpunkt.
    Handkes Text lässt in einer Heide in Südösterreich wie aus dem Nebel Schemen verstorbener Verwandter auftreten und verwebt die Figuren der Großeltern, Mutter, Onkeln und einer Tante mit der Kärntner Geschichte der Jahre nach 1936: Eine kleine, vergessene, slowenisch sprechende Minderheit - Obstbauern, Handwerker, Landvolk - kommt da mit der großen Weltgeschichte in Berührung.
    All seine Bilder schiebt der Prosatext in fließenden Überblendungen ineinander. Hier aber treten sie von vorn herein als solide Theaterfiguren in Erscheinung, auf einer Schräge, die das Jaunfeld im Süden Kärntens symbolisieren soll. Sie läuft nach vorn in einer Spitze zusammen und vor dieser steht ein einsamer Stuhl. Hier hat Laurent Stocker Platz genommen, der das erzählende Ich verkörpert, also niemand anderen als den Autor Peter Handke.
    Der titelgebende Sturm ist die Weltgeschichte
    Zu Beginn schon zeigt sich ein Kampf um die Sprache: Handke, Spross einer Liaison seiner slowenischen Mutter mit einem deutschen Wehrmachtssoldaten, das uneheliche Kind und seine deutsche Sprache gehören nicht in die kulturelle Tradition der Familie:
    "Avec votre langue étrangère vous avez profané la sainteté de notre air du pays. "Tragédie": je ne VEUX pas de ce mot-là chez moi."
    Der Großvater wehrt sich gegen die deutsche Sprache, der die Kärntner Slowenen mit dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich verstärkt ausgesetzt waren. Vor allem lehnt er ab, dass das, was ihnen widerfährt, mit dem Begriff der Tragödie gefasst werden kann. Was auch immer dieses Land und diese Leute hier sein mögen, viele verweigern sich den Kategorien der als Besatzung empfundenen Anwesenheit der Deutschen. So kommt die Mutter, die hier von Dominique Reymond als verträumt strahlende Außenseiterin verkörpert wird, mit dem Rest der Verwandtschaft in Konflikt. Erst ihr Theaterspiel, dann die Affäre mit dem deutschen Soldaten, das passt nicht in ländliche Arbeitsamkeit.
    Der titelgebende Sturm ist die Weltgeschichte, ist der Einbruch des historischen "Außen" in das private "Innen" der Familie: Des Autors Onkel werden zum Militärdienst einberufen, zwei von ihnen fallen an der Front, einer schließt sich ebenso wie die als finster sonderartig verschrieene Tante Ursula den Partisanen an. Dominique Valadié spielt sie in sich gekehrt, trotziger Widerstand prägt sie, privat und politisch. Dieser Partisanenkampf der Kärntner Slowenen war der einzige, der im Reichsgebiet der Nazis stattgefunden hat und er war die Voraussetzung für Österreichs Unabhängigkeit nach dem Krieg. Anerkennung hat ihr bewaffneter Widerstand den Kärntner Slowenen allerdings nicht eingebracht, beklagt der Text.
    Was bleibt nach all dem Kämpfen und Leiden?
    Immer wieder gruppieren sich einzelne Familienmitglieder in verschiedenen Konstellation auf der Bühnenschräge. In kargem, nur auf der Sprache und wenigen Gesten beruhendem Spiel kreisen sie um das forschende, fragende, das Geschehen wertende Autoren-Ich. Der Un-Ort vom Beginn des Textes bevölkert sich mit einer Generation, die die lokale Verhaftung der Großeltern verliert und deren Träume in den Westen ausgreifen.
    Für sie bedeutet das Wort "Hinaus" der Westen, das Wort "Hinunter" die Nachbarländer des Südostens. Besser noch als Deutschland ist der europäische Westen, ist England und besser noch als England sind die USA. Stanislas Stanic spielt den Onkel mit der frühen Pop-Begeisterung der 50er-Jahre und damit auch eine Facette der Autorenpersönlichkeit, den frühen Peter Handke. Sein Stück mit dem einer Shakespeare-Szeneanweisung entnommenen Titel "Immer noch Sturm" überwindet das Gestorbensein der Angehörigen, ruft sie ins Leben zurück, um ihrer Existenz abseits der historischen Aufmerksamkeit eine Bedeutung zu geben.
    "C'est par vous que je reprends mes esprits Vous êtes mes esprits, ma vocation. Ressuscitez! Je vous ressuscite d'entre les morts."
    Am Ende des langen Abends streitet der Autor mit Onkel Gregor um die Frage, was bleibt nach all dem Kämpfen und Leiden. Haben sie die Kraft, Geschichte zu werden? Sind sie Stoff zum Träumen? Nichts bleibt, sagt der erfahrene Onkel. In mir und durch mich bleibt ihr, sagt der Autor. Was Erzählung wird, was Sprache ist, kann nicht verloren sein.