Samstag, 27. April 2024

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Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben

Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren als ältester von insgesamt vier Söhnen geboren. Aber was sagt das schon? Jörg Laus Biographie äußert sich dazu jedenfalls nicht. Drei Gattinnen läßt er durch das 70jährige Leben Enzensbergers huschen. Auf den 380 Seiten seiner Lebensgeschichte werden sie mit wenigen Bildern bedacht, auf wenigen Zeilen begrüßt und dann verabschiedet. Dieses Buch verzichtet entschlossen auf alles Private - und so lautet der Untertitel: Ein öffentliches Leben. Allerdings hat Enzensberger keineswegs ein öffentliches Leben geführt. Im Gegenteil verstand er, seine Auftritte sorgfältig zu dosieren. Lau wollte wahrscheinlich sagen: sein veröffentlichtes Leben, kurz, der gedruckte und weitgehend lieferbare Enzensberger. Der Karriereweg der Texte. Deshalb hat der Biograph auch darauf verzichtet, seinen Helden und die Zaungäste seines Lebens zu befragen. Ihm genügen die Bibliotheksbestände und ein paar Zeitungsarchive. Fragt sich allerdings, wie er an die Photos aus Enzensbergers Familienalbum gekommen ist.

Walter van Rossum | 14.11.1999
    Da Enzensbergers papierloses Leben nicht Teil dieser Biographie ist, kann seine Herkunft im Handstreich der ortsüblichen Rhetorik abgehandelt werden. Enzensberger ist zwar begnadet spät geboren, jedoch geradewegs im nationalsozialistischen Deutschland aufgewachsen. Der Vater - ein "Spezialist im Fernmeldewesen" - ist früh in die NSDAP eingetreten, selbstverständlich nur aus beruflichen Gründen. Ansonsten hat sein Ehrencharakter genügt, das fiese Gebrüll der Straße nicht in die Seele seiner Familie dringen zu lassen. Es sieht so aus, als wäre auch der kleine Hans Magnus bereits auf dem übervolen Boot der inneren Emigration durch die dunklen Jahre gekommen. Immerhin jedoch wurde er mit 15 Jahren noch zum "Volkssturm" eingezogen. Wir wissen allerdings nicht, ob Jörg Lau sich sich diese fromme Geschichte ausgedacht oder ob er sie unbesehen übernommen hat.

    Auf Seite 28 befinden wir uns bereits im Jahre 1955. Da ist Enzensberger 26 und hat soeben seine Dissertation über "Das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk" eingereicht. Während des Studiums hat er mehrere Auslandsaufenthalte absolviert und die Voraussetzungen für sein polyglottes Leben geschaffen. 1955 werden auch seine ersten Gedichte gedruckt und zwar in der von Walter Höllerer herausgegebenen Zeitschrift "AKZENTE". Im Oktober des selben Jahres erhält er eine Assistenten-Stelle in der bald legendären literarischen Redaktion von Alfred Andersch beim Süddeutschen Rundfunk. Das bedeutet auch das Eintrittsbillet in den Klub der Meistersänger, in die Gruppe 47 - der informelle Zusammenschluß bundesdeutscher Literaten, die über die Literatur hinaus früh eine Art Gegenöffentlichkeit äußerst erfolgreich praktizieren.

    Enzensberger publiziert auf allen Kanälen. 1957 wird aus dem hartnäckigen Gerücht, er sei der kommende Autor, eine belegbare Tatsache. DIE VERTEIDIGUNG DER WÖLFE heißt ein schmaler Band mit 17 Gedichten, dem beinahe einstimmig höchste Anerkennung zu teil wird. Als überaus folgenreich wird sich das programmatische Urteil von Alfred Andersch erweisen:

    "Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen, der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität. Es gibt glückliche Länder, in denen er in Rudeln auftritt, in England vor allem gibt eine ganze Equipe denkbar schlecht aufgelegter junger Herren denkbar gut abgefaßte ‘declarations’ ab. Bei uns gibt es nur einen. Immerhin: dieser eine hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht. Eine Begabung wie diejenige Enzensbergers wird immer gefährdet sein. Was wird mit ihm geschehen, wenn der Zorn einmal nachläßt, wenn nicht mehr Empörung die leichte Hand regiert? Gleichviel - mit diesen 17 Gedichten hat er einer Generation Sprache verliehen, die, sprachlos vor Zorn, unter uns lebt."

    Enzensberger verkörpert auf Anhieb einen alten Traum: den Traum von der Erheblichkeit der Literatur. Eine Literatur, die den Austausch mit der gesellschaftlichen Realität nicht scheut, sondern ausdrücklich sucht. Als Kronzeuge dieser sogenannten engagierten Literatur wird bis heute Jean-Paul Sartre bemüht. Allerdings hatte der in seinem berühmten Essay WAS IST LITERATUR? 1947 ausdrücklich erklärt, daß engagierte Literatur keineswegs politisierte Literatur heißt - ganz im Gegenteil - und noch schlimmer: In der spätbürgerlichen Gesellschaft spiele die Literatur eine bestenfalls bescheidene Rolle. Deshalb übrigens hatte Sartre die eigene literarische Produktion im engeren Sinne eingestellt.

    Wenn man genau liest, glaubt auch Enzensberger nur bedingt an die gesellschaftliche Sinnstiftungsmacht der Literatur. Selbst in seinen zornigen Gedichten bringt er leisen Vorbehalt zu Gehör und er wird immer ein intelligenter poetischer Zweifler bleiben. Andrerseits beflügelt ihn dieses Mandat. Es ist seine Chance. Zugleich schürt er seinen einschlägigen Ruf durch seine brillanten Essays. Mit seinem Aufsatz über "Die Sprache des SPIEGEL" errichtet er eine Art Leuchtturm moderner Kulturkritik. Dieser Analyse des sogenannten Nachrichtenmagazins folgt eine ganze Reihe medienkritischer Texte, die bei weitem alles in den Schatten stellten, was sich sonst so Kritik nannte. Mit spaziergängerischer Leichtigkeit, zugleich aber enormer analytischer Durchschlagskraft trat hier ein noch sehr junger Mann gegen einen gewaltigen Medienkonzern an und riß ein enormes Loch in die bis ins Mark gefälschte Aufklärungsrhetorik des Blattes. Kurz darauf folgten ähnliche Analysen der FAZ, der Wochenschau und anderer Zentralorgane der Mediengesellschaft, die so erfuhr, daß sie eine ist.

    Man konnte glauben, der Geist sei wieder eine ernst zu nehmende Streitmacht. Allein Enzensberger mißtraut dem Beifall und den Kritikprivilegien der Kultur: Deutlich nachzulesen auch in seinem zweiten Lyrikband LANDESSPRACHE. Er erschien 1963 und diesmal wurde der Autor - 34 Jahre alt - sogleich mit dem Büchner-Preis geehrt - der bedeutendsten literarischen Auszeichnung der Bundesrepublik, die üblicherweise wesentlich älteren Herren mit wesentlich umfangreicheren Werken verliehen wurde.

    Das alles hindert Enzensberger nicht, jahrelang das Gebiet der Landessprache zu meiden. 1957 heiratet er eine Norwegerin und zieht in ihre Heimat. Kurz darauf lebt er einige Zeit in Italien. Doch Anfang der 60er Jahre taucht er in Frankfurt auf - als Lektor des einflußreichen Suhrkamp Verlags, wo auch seine Bücher erscheinen. Der Jahrgangsgenosse Peter Rühmkorf berichtet in seiner Autobiographie DIE JAHRE, DIE IHR KENNT von seiner Begegnung mit dem umtriebigen Multimedia-Genie Enzensberger:

    "Habe vergessen, wann ich Enzensberger kennenlernte; es muß jedenfalls Ende der Fünfziger gewesen sein und kurze Zeit nach der Kubanischen Revolution. Er besuchte mich in meiner Parkallee-Wohnung, wo ich zwischen Apfelsinenkisten hauste, und mokierte sich über den Antagonismus Fidel-Arno Schmidt, den ich für mich in einen Goldrahmen gespannt hatte. Sagte ‘So geht das aber auch wohl nicht, Herr Rühmkorf’, was damals allerdings weniger gegen Schmidt als gegen Castro zielte (..) Wenn wir uns zufällig einmal trafen, entwich er alsbald in dringende Termine, Verabredungen auf Flugplätzen, Besprechungen in Hotel-Lobbys, Projektkonferenzen für alle Medien und auf allen Wellenlängen. Vermutlich ist er überhaupt kein Festkörper, sondern ein Luftwesen, das Prinzip Hoffnung auf Rädern, der Weltgeist auf Achse, sich den Zeitströmungen auf eine seglerhafte Weise akkomodierend, dennoch sie schamlos nutzend zum Transport einerseits seiner selbst und zweitens seiner politischen Nutzlast (oder umgekehrt) (...) Was ihn anzog, als gäbe es da reine Himmelskost zu naschen, waren internationale Zeitungskioske, die umschwirrte er wie ein Kolibri, hier kurz den Schnabel in ‘Daghens Nyheter’ tunkend, dort in den ‘Paese Sera’, um schon wieder bei der ‘Prawda’ zu sein und gleich darauf bei ‘Le Monde’ oder ‘Saturday Evening Post’."

    Tatsächlich hat Enzensberger ein geradezu unheimliches Gespür für die Latenzen der Zeit. Anfang der 60er Jahre wittert er die kommende Radikalisierung auf allen Ebenen und setzt sich an die Spitze. 1965 schafft er sich ein Instrument, das die intellektuelle Öffentlichkeit binnen weniger Jahre dominiert, die Zeitschrift KURSBUCH - die es bald zu einer Auflage von über 100000 Stück bringt.

    Jörg Lau räumt den Jahren um 1968 viel Raum in seiner Darstellung ein und bringt dabei das Kunststück fertig, den SDS, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, nicht einmal zu erwähnen. So entsteht der Eindruck, Enzensberger und die in seinem KURSBUCH geführten Debatten mit Martin Walser oder Peter Weiss wären die entscheidenden Motoren der Studentenbewegung gewesen. Doch wäre es interessant zu erfahren, welche Berührungspunkte es tatsächlich zwischen der Studentenbewegung und ihrem literarischen Arm - den Autoren des Kursbuchs - gab. Schwer vorzustellen, daß Enzensberger sich unters aufmüpfige Fußvolk gemischt haben soll. Vielleicht deshalb spitzte er auf dem Papier schneidig zu, was sonst keiner so scharf programmatisch plakatieren wollte:

    "In der Tat, was auf der Tagesordnung steht, ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die Revolution. Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muß es durch ein neues ersetzen. Tertium non dabitur."

    So heißt es in einem Aufsatz von Enzensberger zum Stand der Dinge 1968. Allerdings weilt der Verfasser bald darauf in den USA, als Stipendiat einer kleinen amerikanischen Universität. Dort hält es ihn nicht allzu lange. Mit einigem öffentlichen Zorn-Getöse bricht er seine Zelte ab, erklärt die Vereinigten Staaten für unbewohnbar und reist nach Kuba, das er kurz zuvor entdeckt hat. In Havanna empfiehlt er sich der Castro-Regierung als Revolutionsberater. Es scheint jedoch, als legten die Revolutionäre nicht sonderlich viel Wert auf diesen eigenwilligen europäischen Intelligenzvertreter. Und Enzensberger behagt sowohl der karibische wie auch der realsozialistische Gang der Dinge immer weniger.

    Und damit beginnt sein Abschied aus der Avantgarde der Kritik. Damit beginnt der Bruch, der die Biographie des Intellektuellen Enzensberger in zwei Teile teilt. Zwölf Jahre lang war er unaufhörlich nach vorne geprescht. Aus dem zornigen jungen Lyriker war ein sich entschlossen gebender Radikaler geworden, der die Literatur nun eine lächerliche Alibiveranstaltung nannte - was ihn nicht hinderte, weiterzudichten. Jetzt holte ihn die Wirklichkeit ein. Seit etwa 1970 war der fröhliche Protest verstummt und hatte einer eisigen geschichtsphilosophischen Offensive Platz gemacht. Die sogenannten K-Gruppen - untereinander bitter zerstritten - vollstreckten die Gesetze der Geschichte. Die sogenannte Stadtguerilla begann, zu den Waffen zu greifen. Der Staat blies erbarmungslos zur Radikalenhatz. Viele muntere Streiter der einstigen APO saßen exakt in der Falle, die Enzensberger zum Programm erhoben hatte: Entweder Anpassung oder Revolution. Tertium non dabitur. Ein Drittes wird es nicht geben. Auch nicht für Enzensberger. Allerdings hatte er da wohl bereits beschlossen, fortan die real existierenden Verhältnisse gegen ihre Kritiker zu verteideigen.

    250 Seiten lang hat Jörg Lau gebraucht, um die kometenhafte Karriere Enzensbergers von 1957 bis 1970 nachzuzeichnen. Allerdings hat man nach diesen 250 Seiten nicht den geringsten Schimmer, was es mit dem Phänomen Enzensberger auf sich hat. Ein Leben besteht aus einer Reihe von Ereignissen, die sich im Licht einer Geschichte verstehen. Lau vertraut allein dem Fluß der Jahre, der an wechselnden Uferlandschaften vorüberzieht und von Zeit zu Zeit das Strandgut der Texte hinterläßt. Das alles aber ergibt keine Geschichte, sondern nur einen Stapel von chronologisch geordneten Büchern. So wenig wie über die Person Enzensberger erfahren wir über den herausragenden Dichter und seine außergewöhnliche Wirkung, noch über 50 Jahre deutscher Intelligenzgeschichte, die Enzensberger verkörpert wie wahrscheinlich kein anderer. Auch in seine lyrischen Verfahren und den geradezu grotesken Mangel an Deutungsperspektiven kompensiert Lau durch schlaumeierhafte Kommentierung bestimmter Debatten oder Texte aus der Perspektive des historisch Distanzierten. Doch Lau - Jahrgang 1964 und damit genau halb so alt wie Enzensberger fehlt es oft an Einfühlung in Personen und historische Situationen. Die Atomängste der ersten Nachkriegszeit amüsieren ihn, als ob der Nierentischgeneration Schrecken dieses Formats gar nicht zustände.

    Laus erzählerischem Temperament fällt vor allem einer zum Opfer: Hans Magnus Enzensberger: Er vertrocknet geradezu in diesem unsinnlichen und leidenschaftslosen Buch. Man muß ihn nicht lieben, aber bitte sehr: was für eine Ausnahmeerscheinung! Mit welchem Sinn für die Zeit, ihre Ambivalenz und die eigenen Ambivalenzen! Vor allem: - was für ein Schriftsteller! Er war drauf und dran, ein Voltaire unserer Tage zu werden. "Die Tiefe ihrer Werke war ihr Publikum" hat Sartre über die Aufklärer des 18. Jahrhunderts bewundernd geschrieben. Das durfte man auch von Enzensberger sagen. Aber von wem sonst noch? In Laus fadem intellektuellen Curriculum spüren wir wenig von dieser Einzigartigkeit, nichts von der Dramatik und auch nichts von den erstaunlichen Kursänderungen.

    Die restlichen 30 Jahre der Enzensberger-Story passen dann auf knapp 100 Seiten. Und in der Eile, mit der jetzt die Bücher, Aufsätze und Jahrzehnte runtergerissen werden, fallen sogar schon mal die Titel umfangreicher Bücher unter den Tisch - wie z. B. ACH EUROPA! von 1987, das nicht einmal Eingang in die Bibliographie findet, ebenso wenig wie die Komödie über Denis Diderot, DER MENSCHENFREUND. Doch vielleicht hätte die Untersuchung von Enzensbergers oft geäußerter Liebe zu Diderot auch Anlaß für ein etwas lebendigeres Portrait geboten.

    Dabei bieten auch die letzten 30 Jahre reichlich Stoff - allerdings für eine andere Geschichte, einen anderen Enzensberger, der sich zum Vorgänger beinahe tragikomisch verhält. Denn bei der grauen Übung, im Frieden mit den Verhältnissen und doch sehr distinkt davon zu leben, kommen Enzensbergers Talente nur schwer zur Geltung - statt brillanten Zorn mimt er jetzt krampfig heiteres Unbehelligtsein. Allerdings muß man auch hier wieder einräumen, daß Enzensberger zu den ersten gehörte, die im großen Stil versucht haben, die Mitte als heimischen Ort zu möblieren, und um so verbissener je mehr die real existierende Normalität verfassungsfeindliche Züge annahm. Der Zorn des nunmehr nicht mehr so jungen Mannes richtete sich vornehmlich gegen Kritiker, so noch vorhanden.

    Als Mitte der 80er Jahre ein moraliner amerikanischer Intellektueller die Bestsellerlisten mit der These stürmte, daß die verkabelte Gesellschaft sich womöglich zu Tode amüsiere, antwortete Enzensberger mit der These vom "Nullmedium Fernsehen". Das Fernsehen verbreite keine Botschaften, sondern nur Müll und sei insofern für Kritik gar nicht erreichbar. So sah die jüngste Version seiner kritischen Medientheorie aus. Leider ließ sie sich mit den Tatsachen nicht mehr im Geringsten vereinbaren. Aus dem einstigen Adorno-Schüler wurde jetzt ein ebenso eifriger Luhmann-Jünger - von einer Theoriekirche in die nächste. Solche Konversionen ereilten eine ganze Generation, allerdings im Rudel und in aller Stille. Eine ganze Generation, die nach den Abenteuern der Gesellschaftskritik den Heimweg suchte. Enzensberger ging voran. Doch niemand brauchte ihn. Den Lieferanteneingang der Normalität fand jeder allein und bevorzugte, kein Aufhebens davon zu machen. Enzensberger war kein intellektueller Scharfschütze mehr, der seinem Publikum einheizte, er wurde zum Präzeptor der Bekehrung. Er gab Beispiel: Man konnte in aller Öffentlichkeit zur Tagesordnung übergehen und brauchte weder sich noch sonst jemanden zu erklären, warum Vietnam, Hunger, Ausbeutung und der eindimensionale Mensch heute kein Problem mehr sind.

    Hätte Enzensberger erst nach 1970 die Bühne betreten, wäre er als Essayist vielleicht als begabter und eigensinniger Leitartikler bekannt geworden. Seine Aufsätze geraten zu antizyklisch bemühten Platitüden über MITTELMAß UND WAHN - so der Titel einer Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1988, mit dem zutreffenden Untertitel "Gesammelte Zerstreuungen", die allenfalls die Benutzeroberfläche des Feuilletons zu kräuseln vermochten. Alfred Andersch hatte Recht: eine Begabung wie die Enzensbergers wird immer gefährdet sein. Sein Zorn hatte sich gelegt, aber ausgerechnet die leichte Hand des Lyrikers hat den inneren Bürgerkrieg überstanden. DER UNTERGANG DER TITANIC von 1978 bis zu den letzten Gedichten LEICHTER ALS LUFT sind von staunenswerter Anmut und - mit Rühmkorf gesprochen: - "Im Vollbesitz seiner Zweifel".

    Leider hat diese Lyrik bedenkliche Rückfälle ins Apodiktische nicht verhindern können. 1991 empfiehlt er den Deutschen die Beteiligung am Golfkrieg. Er vergleicht Saddam Hussein mit Hitler - nur daß es sich diesmal um fanatisierte islamische Horden handelt. Und so bot er den Deutschen nach 50 Jahren die Chance an, endlich Hitler zu besiegen - am Persischen Golf und leider mal wieder mit Alliierter Hilfe. Selbst ein Wohlwollender mußte sehen, daß das Nullmedium in Enzensberger einen propagandistischen Volltreffer gelandet hatte. Andererseits konnte Enzensberger glauben machen, Intellektuelle spielten beim Vollzug der Wirklichkeit eine maßgebliche Rolle.

    Kurz darauf warnt er, die Menschenrechte allzu ernst zu nehmen. Schließlich leben 5/6 der Menschheit jenseits der Kenntnis auch nur des Wortes "Menschenrechte". Und es wäre eine etwas vermessene Vorstellung, einen Befreiungszug gegen den Rest der Welt zu führen. Als 1999 die Bundeswehr an ihrem ersten Kampfeinsatz out of area teilnimmt, empfiehlt Enzensberger im Namen der Menschenrechte die Bewaffnung der UCK.

    ZICKZACK heißen gesammelte Essays aus den 90er Jahren. So ist es. Hans Magnus Enzensberger schuldet uns kein widerspruchsfreies Gesamtwerk noch eine prinzipielle Existenz. Offensichtlich haben die Mäander aus Lebenslauf und Gedankengang seinen ersten Biographen einigermaßen überfordert.