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Hat nichts zu tun mit Liebe

Themen gäbe es viele. Vom Wetter über die letzten beruflichen Erfolge bis hin zu den ungeratenen Kindern der Gastgeber. Um jemanden auf einer Party ins Gespräch zu verwickeln – oder besser: nach dem ersten Smalltalk-Kontakt so lange zu becircen, bis er sich selbst als Sexualpartner erkennt –, muss man schon ein bisschen mehr bieten. Irgendetwas Zielführendes, das zugleich subtil genug ist, die eindeutigen Absichten für die Dauer des Gesprächs zu verschleiern; das gebietet der Anstand. Wie wäre es mit Röntgenaufnahmen? Mit dem seltsamen Erlebnis, im Alter von zwölf Jahren Röntgenbilder geschenkt bekommen zu haben, strukturell pornographisches Material, denn obgleich man darauf außer Knochen nichts sah, entzündete sich die kindliche Phantasie daran. Ein Vorgang, der sich auch unter Erwachsenen wiederholen lässt, denn "niemand konnte lange über Körperlichkeit nachdenken, ohne irgendwann Sex zu streifen."

Florian Felix Weyh |
    Hat nichts zu tun mit Liebe. Sondern mit Lust und Begehren, mit Sehnsucht nach Haut und Schweiß, nach Berührung und schmerzenden Umarmungen. Alle neun Erzählungen unter dem seltsamen, doch zutreffenden Obertitel bewegen sich auf dem Terrain sexueller Anziehung und Abstoßung. Auch was so verheißungsvoll mit einem Gespräch über Röntgenbilder beginnt, hat nicht lange Bestand. Irgendwann ist der geangelte Liebhaber wieder weg, und das Problem der Protagonistin kehrt in alter Schärfe zurück: Woher nur die Streicheleinheiten nehmen, den lebensnotwendigen Kontakt zu männlichen Händen? Frau kann dafür bezahlen, aber sie erhält viel weniger Gegenleistung als ein Mann in vergleichbarer Lage. Ein medizinischer Masseur bietet sich als unvollständiges Liebhaber-Surrogat an, weil er nicht die eigene Identität unterminiert, wie das ein Callboy täte. Wer für Sex bezahlt, beweist, nicht mehr gefragt zu sein; also bezahlt frau nur für die Berührung, überbrückt die Notzeiten auf der Massageliege und wärmt die Röntgenbildergeschichte so lange wieder auf, bis der nächste Fisch anbeißt.

    Strukturell pornographisch ist das Skelett auf dem Röntgenbild in der Erzählung »Ersatz-Befriedigung«, strukturell pornographisch wirkt die ganze versammelte Literatur A.L. Kennedys im vorliegenden Sammelbändchen. Selten sieht man mehr als das nackte, weiße Knochengerüst, doch man ahnt, was sich jenseits des Sichtbaren abspielt. Nichts romantisch Verklärtes, eher ein Abgrund an weiblicher Unterwerfungsbereitschaft und zurückgenommenem Lebensgestaltungswillen. Die noch kindliche Prostituierte in »Freitag, Zahltag« ergibt sich einer grausamen Biographie sexueller Ausbeutung, die namenlose Protagonistin in »Fallen verlernen« koppelt ihr Gefühlsleben ans Schrillen eines Telefons, das ihr unverzügliche sexuelle Dienstbarkeit abverlangt. Der Versuch, den Spieß einmal umzudrehen und den Liebhaber seinerseits zum Sex herbeizuordern, wird mit dem Verlust desselben bestraft – das Spiel funktioniert nur von männlicher Dominanz zu weiblicher Unterwerfung.

    Schriebe ein männlicher Autor solche Geschichten, gälte er als höchst reaktionär. Wie ihre um eine Generation ältere amerikanische Kollegin Joyce Carol Oates schont Alison Louise Kennedy ihre weiblichen Figuren nicht. Ihr Frauenbild ist – zumindest aus der Warte der Emanzipation betrachtet – tiefschwarz und bar jeder Hoffnung; als gäbe es einen geheimen Schalter, den die Männer nur umzulegen bräuchten, um eine willfährige Sklavin zu erhalten. Durchzogen von einer masochistischen Grundkomponente, scheint Liebeserleben – von Glück kann gar keine Rede sein – nur um den Preis der Selbstaufopferung möglich. Dem Abgrund aber wohnt ein böser Zauber inne, dem sich niemand entziehen kann, und das macht die Faszination der Lektüre aus. Eine Belletristik freilich, die der männlichen Minderheit an Lesern womöglich besser gefällt als der weiblichen Mehrheit.