Archiv


Heiratsverbot und Sklavenarbeit in Indien

Alle Inder sind gleich. So steht es in der seit 1950 geltenden Verfassung. Doch die Wirklichkeit sieht anders auch. Noch immer gilt das Kastensystem, und besonders auf dem Land werden die Unberührbaren bis heute diskriminiert.

Von Leila Knüppel und Nicole Scherschun |
    In Keshavapuram soll bald Pongal gefeiert werden: das südindische Erntedankfest. Gewürze, Linsen und Erbsen liegen schon auf bunten Tüchern auf dem Lehmboden des Hofes. Anil (und Shrilata sitzen vor der Tür ihres kleinen Hauses. Ihnen ist nicht nach Feiern zumute. Dabei sind sie jung und verliebt.

    Im College haben sie sich kennengelernt, erzählt der 23-jährige Anil. Seit einigen Monaten sind sie verheiratet – und seitdem muss er Angst haben. Angst vor Angehörigen einer höheren Kaste, die ins Dorf kommen könnten, um ihn zu bedrohen, zu schlagen und vielleicht zu töten. Angst vor Shrilatas Eltern.

    "Er stammt aus einer anderen Kaste. Sein Leben ist deshalb in Gefahr. Bisher ist zum Glück noch nichts passiert. Ich hatte keinen Kontakt mit meinen Eltern seit der Hochzeit. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Augen verschließen und alles vergessen können. Ich fürchte noch immer um sein Leben."

    Anil ist ein Dalit. Einer, der im indischen Kastenwesen als unberührbar, als unrein gilt.

    Seine Frau Shrilata stammt aus einer höheren Kaste. Sie ist eine Reddy.

    Eine nicht geduldete Liebe. Heiraten über Kastengrenzen hinweg ist in Indien noch immer ein Tabu, sagt Anil.

    "Ich habe Angst. Aber ich weiß, dass ich gegen das System der Kasten ankämpfen muss. Ein erster Schritt ist es, eine Frau außerhalb meiner Kaste zu heiraten. Und ich liebe Shrilata sehr, also war die Hochzeit genau das Richtige."

    Etwa 500 Dalits leben hier in Keshavapuram, mitten im Nirgendwo. Nur ein staubiger Pfad führt durch Reis- und Baumwollfelder zu dem kleinen Dorf. Die meisten Häuser bestehen aus Lehm und Wellblech. Wasserbüffel liegen im Schatten einiger Palmen, Hühner scharren im Straßenstaub.

    Nur etwa 150 Kilometer ist Keshavapuram von der südindischen High-Tech-Metropole Hyderabad entfernt.

    Auf dem Land gelten andere Regeln als in der Stadt. Auch wenn die indische Verfassung Unberührbarkeit verbietet und Gewalt gegen Dalits unter Strafe stellt. Hier, auf dem Dorf könne niemand der festen Hierarchie des hinduistischen Kastenwesens entkommen, sagt der Aktivist und Menschenrechtler Babu Gogineni. Er besucht die Dörfer rund um Hyderabad regelmäßig.

    "In einem Dorf, nur 130 Kilometer von Hyderabads Flughafen entfernt, wurde ein Dalit vor eineinhalb Jahren zu Tode gesteinigt, weil vermutet wurde, er sei ein Zauberer. Das zeigt nicht nur, dass Dalits nicht als Menschen gesehen werden, sondern dass die gesamte Gesellschaft an einem Mangel an Menschlichkeit krankt. Die menschliche Solidarität ist völlig dahin. Und so etwas geschieht wegen des Kastensystems. Diese Hierarchie in der Gesellschaft ist das Problem; ein wirklich großes, aktuelles Problem."

    Von Geburt an ist jeder Inder in eine feste Struktur eingebunden, für die die Ordnungsbegriffe Jati und Varna stehen.

    Jati bezeichnet bestimmte lokale Gruppen oder auch traditionelle Berufe wie Dhobi - die Wäscher, oder Gandhi – die Parfümverkäufer. Über 2.000 solcher Jati gibt es in Indien.

    Varna dagegen ist eine mythologische, fest hierarchische Unterscheidung.

    Bereits in alten hinduistischen Texten, den Veden, ist diese Einteilung erwähnt, sagt der Soziologe Pralhad Jogdand. Sie schreiben das Kastensystem und die Unberührbarkeit fest.

    Brahmanen – Priester – stehen an der Spitze dieser Gesellschaftsordnung; gefolgt von den Kriegern, den Händlern und schließlich den Shudra, den Bediensteten.

    "In den Schriften steht, Brahmanen wurden aus dem Kopf erschaffen, die Krieger aus den Armen, die Händler aus dem Bauch, die Bediensteten aus den Füßen. Der Kopf steht für die obere, allen anderen überlegene Kaste. Die Füße für das Minderwertige. So wurde das Varna-System begründet."

    Die Dalits stehen außerhalb dieser Einteilung, gelten als kastenlos und unberührbar. Sie arbeiten traditionell in Berufen, die als unrein gelten wie Straßenfeger, Latrinenputzer oder Tagelöhner. Insgesamt sind mehr als 160 Millionen Menschen, etwa 16 Prozent der Bevölkerung Indiens kastenlos.

    Im Dorf Keshavapuram wohnen ausschließlich Dalits. Da sie traditionell niedere Tätigkeiten verrichteten, mit Dreck, Exkrementen oder Tod zu tun hatten, wurden sie bereits vor Jahrhunderten aus den übrigen Dörfern ausgegrenzt.

    Auch heute schauten die Bewohner aus den Nachbardörfern auf sie herab, erzählt einer der Männer in Keshavapuram.

    "Die anderen Dorfbewohner behandeln uns nicht normal. Sie sagen: Geh weg, du bist ein Dalit. Und wenn wir ihnen nah kommen, beschweren sie sich, sie hätten ihre Reinheit verloren. Und dann beginnen sie, Mantras und Gebetsformeln zu murmeln und heiliges Wasser zu versprenkeln, um sich selbst wieder zu reinigen."

    Auf dem Campus des National Institut of Technology in Nagpur, einer der Eliteuniversitäten Indiens: Studenten spazieren die breiten Alleen entlang, vorbei am Tennisplatz und Bibliotheksgebäude.

    Elektrotechnik, Mechanik oder Bergbau - wer hier studiert, dem steht eine glänzende Zukunft als Ingenieur bevor, erzählt Professor Devidas Maiske. Gemeinsam mit seinem Kollegen Awanikumar Patil ist er auf dem Weg ins Computerlabor der Universität.

    "Ich unterrichte Informatik. Nach meinem Studium bin ich hierhergekommen, habe meinen Doktor gemacht. Das war 1982. Seitdem arbeite ich hier."

    "Er war der erste Dalit-Professor hier. 1985 kam ich dann ans Institut. Als ich Dozent war, sind wir Freunde geworden."

    Mittlerweile unterrichten auch noch andere Dalit-Kollegen an der Uni. Zahlreiche Jugendliche aus den benachteiligten Kasten studieren hier. Denn in Indien gilt eine Quotenregelung: 15 Prozent der Studienplätze sind für Dalits reserviert. Auch andere benachteiligte Kasten haben sich mittlerweile eine Quotenzuteilung erkämpft, sagt Dozent Patil.

    "Hier studieren Jugendliche aus ganz Indien. Es ist also ein ganz anderes Miteinander, unter den Studenten gibt es keine Unterschiede, keine Abgrenzung zwischen höheren und niederen Kasten. Aber tief in der indischen Gesellschaft, tief in ihnen wachsen sie nicht zusammen. Sie werden nicht über die Kastengrenzen hinweg heiraten. Und sie werden dort ihr Haus kaufen, wo Menschen ihrer Kaste bereits wohnen. Das Zusammenwachsen braucht eben seine Zeit."

    Quoten gelten nicht nur hier - an der Universität -, sondern auch im öffentlichen Dienst. Zahlreiche Dalits arbeiten aber nur in unteren Positionen, bei Beförderungen werden sie kaum berücksichtigt – bisweilen auch wegen ihrer schlechten Ausbildung.

    Die Quotenregel ist umstritten. Denn statt Leistung zähle die Kastenzugehörigkeit, sagen Kritiker. Ein Argument, dem Maiske vehement widerspricht.

    "Einem Teil der Gesellschaft wurden viele Dinge verwehrt wie Bildung oder bestimmte Berufe. Sie wurden nicht als Menschen behandelt. Aber unsere Verfassung sagt, jeder ist gleich. Wie soll das gehen, wenn einigen jahrhundertelang die einfachsten Dinge versagt blieben?! Durch die Quote müssen sie zusätzliche Hilfe erhalten. Schon in meiner Generation hat sich vieles gewandelt."

    Im Computerlabor sind alle Plätze besetzt. Junge Männer beugen sich über Zahlenkolonnen. Wer hier sitzt, erhofft sich einen Job in Indiens Zukunftsbranche, als Software-Entwickler oder Ingenieur.

    An einigen Rechnern sind Urlaubsfotos oder Facebook-Einträge zu erkennen. Als Maiske und Patil das Labor betreten, werden die Seiten schnell weggeklickt.

    "Mit der wachsenden Wirtschaft in Indien, ziehen immer mehr Menschen in die Städte. Es gibt dort zwar immer noch Kasten-Unterschiede, aber sie verschwinden mehr und mehr. Denn in der Stadt gibt es bessere Bildungs- und Jobchancen. Hier können sie selbst wählen, in den Dörfern sind sie an ihre traditionellen Kasten-Berufe gebunden oder die Landwirtschaft. Auch mein Großvater war Bauer. Wenn solche Leute heute in die Städte ziehen, geht es ihnen meist besser. Allerdings kann das ein oder zwei Generationen dauern."

    Nach dem Aufstehen fegt Mandula Ellamma den Hof und kocht Reis für ihre kleinwüchsige Tochter und ihren blinden Mann. Dann macht sie sich auf den Weg zu den Feldern der Großgrundbesitzer, mehrere Kilometer von Keshavapuram entfernt.

    "Ich bekomme 1 Euro 50 für einen Tag Arbeit, wenn ich Reis pflanze oder Baumwolle pflücke. Aber so einen Job gibt es nicht jeden Tag. Deswegen ernte ich sonst Erdnüsse für 30 Cent pro Korb. Am Tag schaffe ich es, zwei Körbe zu füllen, bekomme also 60 Cent am Tag. Das sind die üblichen Löhne hier."

    Heute arbeitet Ellamma mit ihren Nachbarn auf dem Reisfeld. Gebückt stapft sie durch das knöchelhohe Wasser und pflanzt Setzlinge. Dalits sind typischerweise in der Landwirtschaft beschäftigt – als Tagelöhner, denn eigenen Boden besitzen die wenigsten.

    Einige der Dorfbewohner haben bei ihren Arbeitgebern Schulden gemacht und müssen diese nun abarbeiten – unter Bedingungen, die an Leibeigenschaft oder Sklaverei erinnern. Sterben sie, gehen die Schulden oft auf die Kinder über.

    2000 Rupien verdiene er im Monat, erzählt einer der verschuldeten Männer. Knapp 30 Euro. Mit dem Geld müsse er sofort seine Schulden begleichen. Wenn seine drei Kinder Kleidung benötigen oder andere Anschaffungen anstehen, müsse er sich wieder Geld leihen.

    Morgens um fünf steht er auf. Vor zehn Uhr abends kommt er selten nach Hause, erzählt der Mann, 365 Arbeitstage im Jahr. Ein Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist.

    Doch was soll ich tun, sagt er. Ich muss doch essen.

    J. Veeraswamy kommt aus einem der Nachbardörfer Keshavapurams und kämpft seit Jahren gegen unrechtmäßige Landenteignung der Dalits und für gerechte Löhne. Die Arbeitsbedingungen in dem Dorf zeigen für ihn eins: An der Diskriminierung der Dalits hat sich bis heute nichts geändert.

    "In der Immobilienbranche, im Hotel-Business, im Bereich Kommunikation oder IT, in all diesen Berufsfeldern sind kaum Dalits anzutreffen. Das ist die moderne Diskriminierung heutzutage. Wir kämpfen für unsere Rechte, beispielsweise um unser Land. Aber die anderen Kasten haben Macht und Geld. Der Unterschied ist noch immer riesig."

    Das indische Kastenwesen begründet sich in der hinduistischen Religion, teilt aber auch die Anhänger anderer Glaubensrichtungen in die soziale Hierarchie ein. Daher sind nicht nur die 80 Prozent indischen Hindus von dem rigiden System betroffen, sondern auch beispielsweise die 13 Prozent Muslime und etwa zwei Prozent Christen.

    Bis heute ist unklar, wie das Kastenwesen in Indien entstand. Einige Historiker vermuten, dass der Volksstamm der Arier die strenge soziale Hierarchie etabliert hatte. Um das Jahr 2000 vor Christus waren die Arier nach Indien eingewandert. Durch das Kastenwesen wollten sie womöglich eine Vermischung mit der unterworfenen einheimischen Bevölkerung verhindern.

    Menschen in weißer Kleidung drängen in den riesigen Kuppelbau des buddhistischen Tempels; dem Deekshabhoomi in der nordindischen Stadt Nagpur.

    Devidas Maiske zieht vor dem Eingang seine Schuhe aus. Betreten dürfen Besucher das Heiligtum nur barfuß.


    In der Mitte des Marmorsaals steht eine Buddha-Statue, davor die Urne eines Nationalhelden: Bimrau Ambedkar. Er war einer der Urheber der indischen Verfassung, die schon 1950 die Gleichheit aller Inder vor dem Gesetz festschrieb; ohne Rücksicht darauf, welcher Kaste sie angehören.

    Maiske faltet die Hände vor der Brust und verbeugt sich kurz vor dem Heiligtum. Für ihn ist Ambedkar eine Art Befreier aus der Knechtschaft des Kastenwesens.

    Denn selbst Bhimrao Ambedkar, Vater der Verfassung und ehemaliger Justizminister, konnte dieser Diskriminierung nicht entgehen. Einmal Dalit, immer Dalit. Aus Protest trat Ambedkar 1956 zum Buddhismus über. Auch Maiske, dessen Vater mit Ambedkar befreundet war, gehörte zu den Hunderttausenden, die bei der Zeremonie dabei waren.

    "Ich war kaum drei Monate alt, als wir alle konvertierten. Meine Mutter hat mich damals mitgenommen. Später erzählte sie mir immer, wie die Leute in Massen nach Nagpur strömten – etwa 500.000."

    Vor dem Stupa singen Musiker Lieder, die von dem Massenübertritt handeln.

    Ambedkar habe die Leute inspiriert, erzählt Maiske. Noch heute drücken sie ihre Dankbarkeit in ihren Liedern aus.

    Eine einheitliche politische Bewegung konnte Ambedkar allerdings nicht formen. Die von ihm gegründete Republican Party of India zerfiel wenige Jahre nach seinem Tod 1956 in Dutzende Splittergruppen.

    Trotzdem sind einige Dalits heute in hohen politischen Ämtern vertreten. Sowohl die Parlamentssprecherin Meira Kumar als auch die ehemalige Regierungschefin im Bundesstaat Uttar Pradesh Mayawati Kumari stammen aus der Kaste der Dalits.

    Zum Erntedankfest haben in Keshavapuram alle Dorfbewohner zusammengelegt und eine Kuh zum Schlachten gekauft.

    Nach dem Festmahl werden ein paar Plastikstühle vor die Hütten gestellt und es wird Tee getrunken. Zeit für Gespräche. Schnell geht es um die Dorfschule. Dort arbeitet eine neue Lehrerin. Und die mache Probleme, erzählen einige Bewohner.

    Sie würde die Schulmahlzeiten nicht essen. Nicht einmal Wasser trinke sie hier, sagt Miriyala Bhadrayya. Denn von Dalits zubereitete Nahrung gilt als unrein.

    Nun möchten die Dorfbewohner mit der Lehrerin sprechen und sich beschweren. Denn nur durch Protest können sie etwas ändern, meint Bhadrayya. Der 46-Jährige erinnert sich an eine Geschichte, die vor zehn Jahren im Dorf passiert ist.

    "Da gab es hier in der Nähe einen Brunnen, aus dem wir nicht trinken durften. Wenn wir durstig waren, mussten wir neben dem Brunnen warten, bis uns jemand aus einer höheren Kaste Wasser holte. Bei einer der Ernten hatten wir schließlich genug davon und haben uns gefragt: Warum, verdammt noch mal, lassen sie uns nicht zu dem Brunnen? Und dann sind wir alle zusammen einfach ins Wasser gesprungen."

    Eine ältere Frau fällt dem Erzähler ins Wort, auch andere reden plötzlich mit. Jeder möchte von der Heldentat erzählen.

    In der Geschichte geht es nur am Rande um Durst oder Trinkwasser. Durch den Sprung in den Brunnen haben die Dalits ein jahrhundertealtes Tabu gebrochen. Sie konnten so ein neues Selbstbewusstsein entwickeln.