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Hemingways Zwiegespräch mit den eigenen Erinnerungen

"Paris - ein Fest fürs Leben" ist das erste von vielen Büchern, die postum von Ernest Hemingways Erben aus nachgelassenen Manuskripten herausgefiltert worden sind. Der Roman führt zurück in die Zeit Hemingways schriftstellerischer Anfänge und zeigt den Künstler als jungen Mann.

Von Michael Schmitt |
    "Die wichtigste Gabe eines guten Autors ist ein eingebauter, stoßfester Mistdetektor. Das ist der Radar des Autors, und alle großen Schriftsteller haben ihn besessen."

    Das ist ein starker und typischer Satz am Ende eines Interviews, das Ernest Hemingway 1958 der Literaturzeitschrift "Paris Review" gegeben hat, ungefähr zu der Zeit, zu der er auch mit der Niederschrift eines Buches beschäftigt ist, dessen Erfolg er nicht mehr erleben wird: "Paris – ein Fest fürs Leben". Es ist das erste von vielen Büchern, die postum von seinen Erben aus nachgelassenen Manuskripten herausgefiltert worden sind – und vielleicht das Einzige, von dem man vermuten darf, dass Hemingway selbst schon genaue Vorstellungen davon gehabt hat, wie es einmal aussehen sollte. Aber er erschießt sich vor fast genau fünfzig Jahren, Anfang Juli 1961; mutmaßlich verzweifelt, weil er kaum noch einen Satz zu Papier bringt, zerrüttet von Alkohol und Depressionen. Daher erscheint das Buch, herausgegeben von seiner vierten Frau Mary, erst 1964, drei Jahre nach seinem Tod.

    Mit seinen frühen Story-Sammlungen hatte Ernest Hemingway in den Zwanzigern Literaturgeschichte geschrieben, mit seinem Roman "Fiesta" 1926 der sogenannten "Lost Generation" nach dem Ersten Weltkrieg ein Denkmal gesetzt. Dann folgen Jahrzehnte, in denen er als Großwildjäger und als starker Trinker, als Berichterstatter aus dem Spanischen Bürgerkrieg und als "ganzer Kerl" mehr Schlagzeilen macht als mit guten Büchern – sein eigener "Mistdetektor" arbeitet nicht immer zuverlässig. Erst die Novelle "Der alte Mann und das Meer" erhält 1953 wieder einhelliges Lob, wird mit dem Pulitzer-Preis und 1954 mit dem Nobelpreis für Literatur gewürdigt.

    "Paris – ein Fest fürs Leben" führt zurück in die Zeit seiner schriftstellerischen Anfänge und an einen Ort und in ein Milieu, die so verlockend wie klischeebehaftet sind. Das Buch zehrt von einem Mythos, nämlich vom Ruf von Paris als einer Stadt der Künste und der Boheme – und es trägt zu diesem Ruf auch entschieden bei. Es ist nostalgisch und ein bisschen heroisierend, wenn Hemingway darin auf das stetige Ringen um die richtigen Worte und Sätze zurückblickt. Es ist sentimental und auch traurig, wenn er darin an seine erste Ehefrau, an Hadley Richardson, erinnert, die ihn lange stützt, ehe er sie schließlich betrügt und eine andere heiratet.

    (...) Paris war eine sehr alte Stadt, und wir waren jung, und nichts war dort einfach, nicht einmal die Armut, nicht einmal unverhofftes Geld oder das Mondlicht oder Recht oder Unrecht oder das Atmen eines Menschen, der neben dir im Mondlicht lag.

    "Paris – ein Fest fürs Leben" ist ein Zwiegespräch mit den eigenen Erinnerungen. Das Buch lebt von den glamourösen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, mit denen Hemingway Umgang pflegt, die ihn unterstützen, über die er oft aber auch abfällig schreibt – darunter Gertrude Stein, Francis Scott Fitzgerald, Ezra Pound und auch die Buchhändlerin Silvia Beach. Hinzu kommen namenlose Bohemegestalten, die Angler an der Seine, die Boxer und Kellner und Vermieterinnen, die einen Kosmos bevölkern, den alle im Hinterkopf ersehnen, die vom Leben in dieser Stadt träumen - und von sich selbst als kunstsinnigen Seelen.

    Vielleicht konnte ich fern von Paris über Paris schreiben, wie ich in Paris über Michigan schreiben konnte. Ich wusste nicht, dass es dafür zu früh war, weil ich Paris noch nicht gut genug kannte. Aber so sollte es sich am Ende ergeben.

    Ein Zufall spielt dabei mit: 1956 übergibt man dem Schriftsteller im Pariser Hotel Ritz zwei Koffer, die dort seit Jahrzehnten aufbewahrt worden sind – sie enthalten Notizen aus den Pariser Jahren ab 1921; und es heißt, Hemingway habe darin die Chance gesehen, nach "Der alte Mann und das Meer" wieder etwas Neues zu beginnen. Im Herbst 1957 macht er sich an die Arbeit und überschreibt aus der Distanz von 30 Jahren, was er als junger Mann zu Papier gebracht hat. Die Arbeit zieht sich hin, wird phasenweise unterbrochen, 1960 schickt er eine erste Manuskriptfassung an seinen Verlag – aber fertig ist das Buch noch nicht, als er sich erschießt. Die 20 Skizzen der ersten Buchfassung, die 1964 erscheint, ediert seine Frau Mary – und greift dabei teilweise kräftig in den Textbestand ein.

    2009 erscheint daher, angeregt von einem Sohn Hemingways und herausgegeben von einem seiner Enkel, von Sean Hemingway, in den USA eine revidierte Fassung, die diese Eingriffe der Witwe rückgängig machen möchte und zusätzlich weitere Skizzen und Fragmente liefert. Sie beruhe auf einem maschinengeschriebenen Manuskript mit Anmerkungen des Schriftstellers, erläutert Sean Hemingway in seinem Nachwort – seiner Auffassung nach dem letzten Entwurf des Buches von Hemingways Hand. "Die Urfassung" nennt der Rowohlt Verlag daher auch die deutsche Übersetzung dieser neuen Ausgabe – das ist vielleicht ein bisschen kühn, denn diese Ausgabe profiliert sich zwar durch Einwände gegen die Edition von 1964, aber nicht unbedingt durch eine lückenlos plausible Darlegung der eigenen Editions-Kriterien. Dennoch: Die zusätzlichen Kapitel bereichern und variieren das bekannte Bild. Es lohnt sich, diese neue Version zu lesen - aber sie ist eher ein Blick in die Werkstatt als eine "Urfassung". Eine entscheidende Rolle spielt dabei, dass diese neue Fassung nicht von der ehemals "einzig autorisierten" Hemingway-Übersetzerin Annemarie Horschitz-Horst übertragen worden ist, sondern von Werner Schmitz, der den kunstvoll-alltagssprachlichen Duktus von Hemingways Sätzen, seine Anleihen bei der gesprochenen Sprache, in ein entstaubtes und knappes Deutsch übertragen hat.

    1921 kommt Hemingway gemeinsam mit seiner acht Jahre älteren Frau Hadley mit der erklärten Absicht nach Paris, Schriftsteller zu werden. Er ist in Chicago in guten Verhältnissen aufgewachsen, schreibt mit 18 Jahren als Lokalreporter für den "Kansas City Star" und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für den "Toronto Star", in dessen Auftrag er dann als Auslandskorrespondent in der französischen Hauptstadt lebt und neben den Depeschen an seinen ersten Stories feilt.

    Ein Mädchen kam ins Café und setzte sich allein an einen Tisch beim Fenster. Sie war sehr hübsch, ihr Gesicht so frisch wie eine neu geprägte Münze, falls man Münzen in weiches Fleisch auf von Regen erfrischte Haut prägt, und ihr Haar war schwarz wie ein Krähenflügel und an der Wange entlang schräg geschnitten.
    Ich sah sie an, sie brachte mich durcheinander und machte mich ganz aufgeregt. Ich wünschte, ich könnte sie in der Geschichte unterbringen, oder sonst irgendwo, aber sie hatte sich so gesetzt, dass sie die Straße und den Eingang beobachten konnte, und ich wusste, sie wartete auf jemanden. Also schrieb ich weiter.
    Die Geschichte schrieb sich selbst, und ich hatte große Schwierigkeiten, mit ihr mitzuhalten. Ich bestellte noch einen Rum St. James und beobachtete das Mädchen, wenn ich einmal aufblickte oder wenn ich den Bleistift mit dem Spitzer anspitzte und die aufgerollten Späne in den Unterteller unter meinem Glas rieselten.
    Ich habe dich gesehen, Schöne, und jetzt gehörst Du mir, auf wen auch immer du wartest, selbst wenn ich dich niemals wiedersehe, dachte ich. Du gehörst mir, und ganz Paris gehört mir, und ich gehöre diesem Notizbuch und diesem Bleistift.


    Das ist eine Urszene; sie beschwört alles auf einmal und verdichtet es zu einer Art von Idyll: die Stadt der Liebe, das Café als urbaner Ort, die Zufälligkeit der Begegnungen und ihre Anonymität, die Einheit von Leben und Kunstschaffen – die europäische Metropole als Magnet und Ort der Erweckung für neugierige Amerikaner. Nach dem Ersten genauso wie auch wieder nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubt der starke Dollar vielen jungen Leuten an diese alte Tradition anzuknüpfen; hier und da rechnet Hemingway in seinen Skizzen sogar vor, wie viele Dollar er braucht, um sich und seine Familie am Leben zu halten. Und solange er als Korrespondent für die kanadische Zeitung schreibt, ist das Geld wohl auch kein großes Problem. Schwieriger wird es erst, als er den Journalismus aufgibt, 1922, um sich nur noch dem Schreiben zu widmen; als symbolische Erfolge – etwa erste Veröffentlichungen in Anthologien – und gelegentliche Honorare von deutschen Zeitungen das Auskommen sichern müssen.

    Derjenige, der seine Arbeit macht und daraus Befriedigung zieht, leidet unter der Armut nicht so sehr. Badewannen und Duschen und Toiletten mit Spülung waren für mich Dinge, die Leute besaßen, die uns unterlegen waren, oder die man auf Reisen genoss, was wir häufig taten. Es gab immer das öffentliche Badehaus am Ende der Straße unten am Fluss. Meine Frau hatte sich darüber nie beklagt (...) Ich hatte mich töricht angestellt, als sie eine graue Lammfelljacke haben wollte, und dann kaufte sie die Jacke doch, und sie gefiel mir sehr. Ich war auch in anderen Dingen töricht gewesen. Das alles gehörte zum Kampf gegen die Armut, den du nur gewinnst, wenn du nichts ausgibst. (...) Allerdings betrachteten wir uns gar nicht als arm. Wir akzeptierten das einfach nicht. Wir hielten uns für etwas Besseres, und andere Leute, auf die wir herabsahen, waren reich.

    Er und Hadley bewohnen eine Zwei Zimmer-Wohnung über einem Sägewerk und ziehen dort auch den gemeinsamen Sohn Bumby auf. Das Geld reicht, um in den Wintern von 1925 und 1926 monatelang in Schruns in Österreich Winter- und Arbeitsurlaube zu machen. Einiges Geld gewinnt Hemingway bei Pferdewetten – es ist, mit einem modernen Wort, ein "prekäres Leben" – aber die behauptete Armut gehört zu einer Fiktion, dient einer Mystifikation von großem Reiz, dem Bild von einem idealtypisch gezeichneten Künstlerleben. In den Briefen, die Hemingway in diesen Jahren an seine Freunde oder auch an seine Frau geschrieben hat, liest sich das alles nicht ganz so lyrisch.

    Aber die Aura ist das, was bleibt. Peter Matthiesen und George Plimpton werden ihr in den frühen Fünfziger Jahren verfallen und in der französischen Hauptstadt die "Paris Review" gründen. Und auch Woody Allen greift sie in seinem neuen Film "Midnight in Paris" auf und inszeniert eine Art von Zeitsprung von der Gegenwart zurück in die Jahre, in denen man in Paris jungen Leuten begegnen konnte, die voller Unrast und mit Energie an der Erneuerung von Kunst und Literatur arbeiteten.

    Vielen von ihnen scharen sie sich um den Salon von Gertude Stein, wo auch Hemingway ein paar Jahre lang ein und aus geht.

    Die Bilder waren wunderbar und die Gespräche sehr gut. Hauptsächlich redete sie, erzählte von modernen Bildern und Malern – mehr über sie als Menschen denn als Maler -, und sie sprach über ihre Arbeit. Sie zeigte mir die Unmengen an Manuskripten, die sie geschrieben hatte und die ihre Gefährtin täglich abtippte. Täglich schreiben machte sie glücklich, doch als ich sie besser kennenlernte, wurde mir klar, für ihr Glück war es auch notwendig, dass dieser stetige tägliche Ertrag, der zwar mit ihren Kräften schwankte, aber regelmäßig war und daher gewaltige Ausmaße annahm, gedruckt erschien und sie offizielle Anerkennung erlangte.

    Als ich sie kennenlernte, war das noch kein Problem, denn sie hatte drei Geschichten veröffentlicht, die für jedermann verständlich waren. Eine dieser Geschichten , "Melanctha", war sehr gut, und gute Proben ihrer experimentellen Texte waren in Buchform erschienen und von Kritikern, die sie kannten, sehr gelobt worden. Sie besaß einen solche Persönlichkeit, dass man ihr, wenn sie jemanden für sich einnehmen wollte, nicht widerstehen konnte, und Kritiker, die sie kennelernten und ihre Bilder sahen, gaben ihren Texten, die sie nicht verstanden, einen Vertrauensvorschuss, weil sie von ihr als Mensch so begeistert und von ihrem Urteilsvermögen überzeugt waren.


    "Es gab kein Gemeinschaftsgefühl. Wir wussten uns gegenseitig zu schätzen", urteilt Hemingway 1958 im Gespräch mit der Paris Review über diese Zeit. Und vielleicht ist diese Nüchternheit ein gutes Korrektiv für manche der suggestiven und verklärenden Sätze in "Paris – ein Fest fürs Leben". Ohnehin ist Hemingway kein Mann für enge und verlässliche Freundschaften. Er hat wenig Hemmungen, sehr scharf über die Menschen zu urteilen, von denen er erzählt – und er scheint auch gerne gerade die Hände zu beißen, die ihn füttern wollen. Das Idyll der Künstler ist zugleich eine kleine Hölle voll egozentrischer Charaktere. Hemingway deutet das oft an, bleibt jedoch in der ursprünglichen wie in der neu vorgelegten Fassung recht diskret, wenn es um die Details geht. Seine eigene Rolle beschreibt er meist als die eines Menschen, der offenen Auseinandersetzungen eher ausweicht – es gibt auch keine eingehend geschilderten Debatten über Kunst und Ästhetik in seinen Pariser Skizzen – neben vielen eingestreuten Bemerkungen über Hemingways großes, unerreichbares Vorbild Cézanne, findet sich vor allem rustikal-pathetische Beschwörungen des schriftstellerischen Handwerks.

    Es war wunderbar die vielen Treppen in dem Bewusstsein hinunterzusteigen, dass ich mit der Arbeit gut vorangekommen war. Ich arbeitete immer, bis ich etwas geschafft hatte, und hörte immer auf, wenn ich wusste, wie es weitergehen würde. Auf diese Weise konnte ich sicher sein, am nächsten Tag weiterzukommen. Aber manchmal, wenn ich eine neue Geschichte anfing und nicht in Schwung kam, saß ich vor dem Kamin und quetschte die Schalen der kleinen Orangen über der Flamme aus und sah ihrem blauen Funkenstieben zu. Oder ich stand auf und schaute über die Dächer von Paris und dachte: 'Keine Sorge. Du hast immer geschrieben und wirst auch jetzt schreiben. Du brauchst nur einen einzigen wahren Satz zu schreiben. Schreib den wahrsten Satz, den du kennst.'
    Damals war es einfach, denn es gab immer einen wahren Satz, den du kanntest oder gelesen oder von jemandem gehört hattest.


    Das ist eine berühmte Stelle aus diesem Buch, sie wird immer wieder gerne zitiert. Hemingway ergänzt diese Erläuterungen zudem an anderen Stellen um weitere Facetten. Immer geht es um eine Form von Disziplin, nicht um Inspiration; um ein Selbstbewusstsein, das sich aus Arbeit an den Worten, genauso wie an der eigenen Person herleitet. Und es gehört zur Tragik im Leben von Hemingway, dass diese Arbeit an der eigenen Person vermutlich immer nur die Gestalt exzessiver Kompensationen tiefsitzender Zweifel angenommen hat.

    Der amerikanische Literaturkritiker Alfred Kazin hat dieses Pathos des Handwerks in einem Porträt von Hemingway als Beleg eines Vertrauens in die sinnvolle Aneinanderreihung von Worten gedeutet, das in Hemingway seinen letzten Vertreter gefunden habe. Vom Journalismus hatte Hemingway gelernt, knapp und schnörkellos zu schreiben. Er hat daraus auch seine "Eisberg-Poetologie" hergeleitet und immer wieder betont, der Schriftsteller müsse vor allem weglassen, und wenn ihm das gelinge, dann werde der verbleibende Text dadurch stärker, und alles Weggelassene bleibe dennoch spürbar – eben so wie bei einem Eisberg nur ein Achtel der gesamten Masse über Wasser zu sehen sei.

    Arbeit konnte fast alles heilen, glaubte ich damals und glaube es noch heute,

    heißt es auch in "Paris – ein Fest fürs Leben". Und aus diesem Geiste lässt sich vermutlich erklären, wie Hemingway in diesen Skizzen über Francis Scott Fitzgerald schreibt. Über niemanden – außer vielleicht über seine Frau Hadley – erfährt der Leser in "Paris – ein Fest fürs Leben" so viel und so unterschiedliches wie über Scott Fitzgerald und dessen Frau Zelda. Nicht über Ezra Pound, dem Hemingway als Gegenleistung für seine Unterstützung das Boxen beibringen will; nicht über Sherwood Anderson, nicht über James Joyce, nicht über Gertrude Stein oder über vergessene Poeten.

    Der nur wenig ältere Jungstar der amerikanischen Literatur, der mit seinem ersten Roman und vielen Kurzgeschichten, die ihm von den Zeitschriften für horrende Honorare aus den Händen gerissen werden, berühmt geworden ist, kommt 1925 nach Paris und bewegt sich dort nach Hemingways Beschreibung wie ein Fremdkörper. Das wird von gemeinsamen Freunden, etwa dem Literaturkritiker Edmund Wilson, durchaus bestätigt – Fitzgerald sei oft durch "sehr amerikanische" Verhaltensweisen aufgefallen. Aber Hemingway urteilt drastischer als andere, uneinheitlicher, pendelnd zwischen Respekt, Anteilnahme und Spott. Er beschreibt Fitzgerald anfangs als einen schönen Mann, aber auch als weichlich und außer Form; bei einer gemeinsamen Reise mit dem Auto von Lyon nach Paris schildert er ihn als unerträglichen Hypochonder; und in einer Szene in einer Bar fast karikaturhaft als einen Mann, der nichts verträgt.

    Er saß am Tresen, das Champagnerglas in der Hand, und plötzlich schien sich seine Gesichtshaut zu spannen, bis alles Gedunsene verschwunden war, und dann spannte sie sich noch mehr, bis das Gesicht dem Schädel eines Toten glich. Die Augen sanken ein und sahen aus wie tot, die Lippen waren straff gespannt, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht, sodass es die Farbe von gebrauchtem Kerzenwachs annahm. Ich bildete mir das nicht ein und meine Schilderung ist nicht übertrieben. Sein Gesicht wurde zu einem echten Totenschädel, oder zu einer Totenmaske, direkt vor meinen Augen.

    Scott Fitzgerald hat kurz zuvor seinen zweiten Roman "Der große Gatsby" veröffentlicht, aber das Buch verkauft sich nicht – anders als die unterhaltsamen Kurzgeschichten, die Scott Fitzgerald wie am Fließband produziert, um das Geld für seinen Lebenswandel aufzutreiben. Hemingway, der sich erst noch einen Namen machen muss, plädiert dafür, die Storys, diese "Hurenjobs", ganz aufzugeben und sich nur mehr einer ernsthaften Schreiberei zu widmen. Scott Fitzgerald verrät ihm im Gegenzug vieles über das Innenleben der Buchbranche. Im Anspruch an die eigene Arbeitsdisziplin scheinen die beiden Männer sich zu gleichen; Scott Fitzgerald aber wirkt schon zerrüttet, zunehmend unfähig, dem Willen auch Taten folgen zu lassen. Und Hemingway schreibt das vor allem dem zerstörerischen Einfluss von Fitzgeralds Frau Zelda zu, die auf die Literatur ihres Mannes eifersüchtig sei und sie deshalb hintertreibe.

    Am Ende steht in beiden nun vorliegenden Ausgaben von "Paris – ein Fest fürs Leben" eine Art von Verbannung: Scott Fitzgerald sei ein Schriftsteller der zwanziger Jahre gewesen, heißt es, als Hemingway von einer Szene im Pariser Ritz berichtet, in der er einem Kellner zu erklären versucht, warum Jahrzehnte später so viele Touristen immer wieder nach diesem Scott Fitzgerald fragen:

    'Er hat zwei sehr gute Bücher geschrieben und eins, das nicht fertig wurde und von dem die, die seine Werke am besten kennen, sagen, es wäre sehr gut geworden. Er hat auch ein paar gute Kurzgeschichten geschrieben.'
    'Seltsam, dass ich an ihn keine Erinnerung habe', sagte George.
    'Alle diese Leute sind tot.'


    In den ergänzenden Skizzen der jetzt veröffentlichten "Urfassung" liest man nun noch einiges mehr als früher über das Glamourpaar Scott Fitzgerald und Zelda – genauer gesagt darüber, wie Hemingway die beiden wahrnimmt. Und vielleicht ist es eine höhere Gerechtigkeit, die dafür sorgt, dass auch Ernest Hemingway schon tot ist, ehe diese und andere Sätze über einen alten Freund zum ersten Mal gedruckt werden. Man darf sich nämlich fragen, ob die Herausgeber der sogenannten "Urfassung" dem überlieferten Bild von Hemingway wirklich einen Gefallen tun, indem sie die zusätzlichen Szenen und die handschriftlich vorgefundenen Fragmente vor aller Augen ausbreiten. Manches ist doch recht süßlich, anderes ungewohnt und ein bisschen hilflos intim. Und vor allem in den Fragmenten, in den immer neuen Anläufen Hemingways zu einem Vorwort, wird sein eigener Verfall dramatisch sichtbar. Entwurf um Entwurf, Seite um Seite variiert er die Reihenfolge einiger weniger Sätze und Gedanken , dreht sie um und um - und scheint doch keine passende Ordnung mehr dafür zu finden.

    Zwei Dinge sind wichtig. Nichts ist uns dauerhaft geblieben, egal wie gut die Absicht war, und heute fahren sie viel besser Ski als in unserer Zeit. Niemand muss mehr auf Seehundsfellen klettern, es sei denn, man will es, aber heute sind sie wunderbar ausgebildet und in allem besser. Leute brechen sich das Bein, und manche Leute auf der Welt brechen sich immer noch das Herz. Sie kommen schneller runter und fallen wie Vögel, die viele Geheimnisse kennen. Sie haben keine Zeit, im Vorbeifahren ihre Geheimnisse zu teilen. Jeder kennt heute viele Geheimnisse, und jeder hat alles geschrieben und wird noch mehr schreiben. Es wäre schön, wenn das alles wahr sein könnte, aber da dem nicht so ist, habe ich in diesem Buch nur versucht, es interessant zu machen. Niemand war unverwundbar, aber damals glaubten wir, wir seien es, und wenn du heute die Stimme der anderen am Telefon hörst, weißt du, dass sie es immer noch sind und dass sie es verdient haben.

    Was in der bislang veröffentlichten Ausgabe von "Paris – ein Fest fürs Leben" die Erinnerungen meist nur wie schöne Trauer, wie leise Zweifel durchzieht, tritt zuletzt in aller zerstörerischen Kraft heraus, in stammelnden Sätzen, die keinerlei Vertrauen mehr in die Kraft der Worte rechtfertigen. Alles, was "Paris – ein Fest fürs Leben" ausmacht, klingt noch einmal an, die Ereignisse wie die Register der Erinnerungsarbeit; aber die Worte halten nichts mehr fest, fügen nichts mehr zusammen. Hier wird immer noch gearbeitet, aber ein Sinn stellt sich nicht mehr ein.

    Veröffentlicht man so etwas, um einen Schriftsteller zu ehren? Es ist eigentlich traurig, aber auch ergreifend; und es ist deshalb die zwiespältige Qualität dieser Ausgabe von "Paris -- ein Fest fürs Leben", wie eng darin der Anfang und das Ende eines großen Schriftstellerdaseins benachbart sind.

    Ernest Hemingway: Paris – ein Fest fürs Leben. Die Urfassung.
    Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
    Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011