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Herausforderung Großstadt

Was kennzeichnet die Entwicklung von Metropolen in Zeiten der Globalisierung? Wie kann die städtische Entwicklung unter Bedingungen steigender Ungleichheit gesteuert werden? Welche Herausforderungen ergeben sich durch die wachsende Zahl von Migranten? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurde im Januar dieses Jahres an der Berliner Humboldt-Universität das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung gegründet.

Von Barbara Leitner | 06.09.2007
    Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren ...

    ... beginnt Georg Simmel seinen Essay "Die Großstädte und das Geistesleben" aus dem Jahre 1903. Darin beschreibt er die Individualisierung sowie das anonyme und dadurch auch gute Nebeneinanderleben von Fremden als die neue Lebensform in den sich damals entwickelnden Großstädten, eine bis in die Gegenwart moderne Definition. .

    "Wir sind aktuell ganz neu wieder mit dieser Grundlegung von ethnologischer, soziologischer aber auch geografischer Stadtforschung befasst, weil sich die Bedingungen unseres Zusammenlebens in unseren Städten doch ändern."

    Hartmut Häußermann, Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität und einer der Vorstände des Zentrums für Metropolenforschung

    "Heute, und das ist die Aktualisierung des Themas, wandelt sich unsere Städten doch so, dass in Folge des Umbaus des Sozialstaates, in Folge der Globalisierung, der Angleichung der Lebensbedingungen weltweit, dass die Formen der Absicherung von individuellen Lebensstilen, wie wir sie in Europa gewohnt waren, das wird nicht mehr so bleiben. Das läuft alles darauf hinaus: Ihr müsst mehr selber machen. Ihr müsst euch mehr um euch selber kümmern und das sind eigentlich Rückgriffe auf traditionelle Lebensformen, die im Zuge der Urbanisierung zurückgedrängt worden sind, weil sie ihre Basis verloren hatten. Und jetzt versucht sich die Reform wieder darauf zu berufen, dass es wieder solche gemeinschaftlichen Formen zu entwickeln gilt. Und das würde wieder heißen, dass die Lebensweise, die Simmel als die bestimmende, als die befreiende beschrieben hat, dass die an Bedeutung verlieren wird und zurückgedrängt wird."

    Einer der Forschungsschwerpunkte von Hartmut Häußermann ist Zuwanderung und Stadtentwicklung. Wie gelingt es denen, die von "draußen" kommen, in die Gesellschaft "hinein" zu kommen und ist Integration nur eine Leistung der Hinzukommenden?

    In den zurückliegenden Jahren verbreitete sich unter dem Stichwort der Parallelgesellschaften die Angst, die Einwanderer würden die soziale und kulturelle Distanz in Großstädten nutzen, um sich ihre eigene Welt zu schaffen, segregierte Städte - so wie man sie aus den Vereinigten Staaten kennt. China Town oder Little Italy. Wie kleine Dörfer inmitten der Großstadt, in denen die Fremden zunächst ankommen, die Regeln des Zusammenlebens kennen lernen, dadurch heimisch werden und gar nicht großstädtisch leben. Auf den ersten Blick meint man auch in Berlin Kreuzberg oder in Köln Chorweiler ein Klein Istanbul vor sich zu haben - wegen der türkischen Läden, Vereine, Unternehmen.

    "Wenn man fragt wie hoch ist der Anteil der Türken an der Bevölkerung, dann ist er bei 30 bis 40 Prozent und dann noch kleinere Nationalitäten, aber das geht über 60 Prozent selten hinaus. Wir haben also immer ein sehr nach Nationalitäten gemischte Situation. Das ist gegen die Wahrnehmung, weil jeder sagt, das ist ein Türkenviertel/, weil sie in den Straßen deutlicher erkennbar sind als Minderheit."

    Ganz nach der Simmelschen Beschreibung leben in vielen Großstadtquartieren Zuwanderer und Einheimischen nebeneinander, ohne etwas miteinander zu tun zu haben. Das internationale Flair zieht Studenten, Intellektuelle, Künstler an. Dennoch bleibt man sich fremd und es gibt kaum Anlässe, einander zu begegnen - es sei denn, man hat ein Kind in der Schule. Dort gibt es kein Entweichen. Die Schule ist der Ort, an dem das anonyme Zusammenleben aufgehoben ist und an dem Eltern, Kinder und Lehrer die Regel neu miteinander aushandeln könnten - wenn die Chance genutzt würde. Doch der Vorwurf lautet: Die türkischen Zuwanderer sind viel zu sehr in ihre eigenen, fremden Strukturen eingewoben.

    "Wenn man sich Untersuchungen anguckt, und das haben wir gemacht, wie sind die Netzwerke und die Bekanntschaftsstrukturen von Türken, die in Gebieten wohnen mit hohen Türkenanteil im Vergleich zu denen mit niedrigen Türkenanteil. Da stellen sie fest, da ist kein systematischer Unterschied und das ist entscheidend, wenn man den Bildungsgrad kontrolliert, wenn man Berufstätigkeit kontrolliert. Wenn man sagt, wir können nur vergleichen Türken und Deutsche mit ähnlichen Bildungsstand und ähnlicher Berufstätigkeit. Wenn sie das berücksichtigen, folgt daraus, dass nur noch zu einem kleinen Teil zurückbleibt der Einfluss, wo man wohnt. Sondern entscheidend ist, wer man ist, ob man Kontakte zu Einheimischen hat oder nicht. Und da kann man generell sagen, je niedriger der Bildungsstand, je schlechter die Arbeitssituation, desto isolierter wohnen die Zuwanderer und desto stärker sind sie konzentriert. Es ist aber nicht eine Frage der räumlichen Konzentration, sondern dies ist eine Folge der sozialen Unterprivilegierung. "

    "Migration, Differenz und Identität" sowie "Raum, Milieu und Segregation" sind zwei der zehn Forschungskreise, denen sich das neu gegründete Georg Simmel Institut zuwendet. In ihm wirken Soziologen und Geografen, Ethnologen und Psychologen, Ökonomen, Juristen, Erziehungswissenschaftler, Informatiker und Ökologen von der Humboldt Universität unter einem Dach zusammen - insgesamt 16 Fächer. Auch wenn sie sich die jeweiligen Fragestellungen mit der besonderen Brille ihres Gebietes anschauen - sie eint das gemeinsame Interesse an Stadtforschung. Ihr Ziel ist es, innovative inter- und auch transdisziplinäre Ansätze zu erproben und zu nutzen, um die verschiedenen Entwicklungen in Metropolen zu entschlüsseln - beispielsweise das Phänomen der Creative Industries, der Kulturwirtschaft

    "Da brauchen sie Leute aus der Ethnologie, um zu verstehen, welche Subkulturen sich in die Kulturwirtschaft da einbringen. Sie brauchen aber auch Ökonomen, um zu verstehen, was für ein Phänomen das ist, ob das wirtschaftlich was bringt, auch Soziologen, weil viele Migrationsfragen damit zusammen hängen, Leute in die Stadt kommen und anfangen, sich in solchen Netzwerken zu bewegen oder anfangen, neue Netzwerke zu bilden, einfach weil sie keine eigenen haben. Da brauchen sie integrative Forschung."

    Harald Mieg, Professor am geographischen Institut der Humboldt-Universität und Sprecher des Vorstandes des Zentrums für Metropolenforschung.

    Seit ca. 20 Jahren beobachtet man in Großstädten, dass bestimmte, früher einfach mit Dienstleistungen bezeichnete Industrien stetig expandieren, Bereiche in denen akademisch qualifizierte Menschen ihre Arbeit finden und kreativ tätig sind: In der Werbung, in den Medien, der Softwareentwicklung, in der Kunst, im Design oder der Musikproduktion erstellen, vermarkten, verbreiten oder handeln sie mit kulturellen Gütern. Diese Kulturwirtschaft wird als die städtische Ökonomie der Zukunft betrachtet und sie verhilft auch Berlin als Metropole zu einer neuen Anziehungskraft.

    Die Stadtforscher untersuchen dabei, wie globale und lokale Transformationen ineinander greifen, die Alltagspraxen verändern und was das für den Status der Zugewanderten bedeutet.

    "Wir sind unterschiedlichen Objekten materieller Kultur gefolgt. In Berlin war das Kaffee to go und Wasserpfeife, was überraschen mag, weil gerade diese beiden Objekte gegensätzlich Imaginäre mit sich tragen. Kaffee to go, wo es um Zeitsparen und man hat New York im Hinterkopf und die Wasserpfeife, was mit Zeit verbringen, verdösen und so ein Orientalisches Imaginäre hat und in diesem Bereich hatten wir natürlich mit Gewerbetreibenden mit Migrationshintergrund zu tun ... "

    Alexa Färber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität. Welche dieser kulturellen Güter werden angeeignet und welche behalten die Zuschreibung des Fremden?

    Aus allen Ländern der Welt kommen gegenwärtig Menschen nach Berlin, eröffnen in ehemaligen Fabriketagen ein Tonstudio oder ein Atelier und verbreiten den Ruf von Berlin als einer hippen Metropole. Auch viele Künstler, Designer, Computerexperten sind Migranten und werden doch mit ihrer unternehmerischen Aktivität als positiv, als Bereicherung wahrgenommen.

    "Was mich an diesem ganzen Bereich Kulturwirtschaft, Kulturproduktion interessiert ist genau dieses Verhältnis von wirtschaftlichem Erfolg oder nicht. "

    Wie organisieren sich diese Kreativen? In welchen Netzwerken agieren sie? Wie ist ihr Verhältnis zur Stadtverwaltung, zur Politik? Bei ihrer Feldforschung schaute sich die Ethnologin neue Formen von "Kaufhäusern" an:

    "Existenzgründungen im Bereich der Kulturproduktion, die sich Raum teilen, weil sich das Risiko dadurch mindert, sie größere Anziehungskraft zum Teil haben in einigen Kaufhäusern und die ökonomische Last, die es trotzdem mit sich bringt, teilen. Auch durch Zeit, indem einige der Teilnehmer nur einen Tag in der Woche da sind, dann die Jobs der anderen mitbetreuen und dann anderen Erwerbszweigen nachgehen, auf Märken verkaufen. Und da ist interessant, dass sich einige halten mit mehr oder weniger großen finanziellen Erfolg, das einige bewusst die städtische oder von Europäischer Ebene in den Bezirken zur Verfügung gestellten Ressourcen in Anspruch nehmen, um diese Kooperation am Leben zu erhalten und andere wiederum gar nicht. "

    Bei ihren Begegnungen mit den Akteuren achten die Ethnologen nicht nur darauf, was diese tun, sondern auch was es bedeutet und wer sie sein wollen - auf die symbolische Praxis. Dabei fallen Alexa Färber sehr verschiedene Rhetoriken auf. Die Politiker verkaufen Berlin als arm aber sexy. Die Marketingexperten verweisen auf die Wachstumsraten der Kreativen in den ehemaligen Fabriktagen. Jene Unternehmer aber, die dort Bioprodukte und Yoga gleichzeitig anbieten, können oft nur tapfer durchhalten. Auch das lässt eine Stadt auseinander driften.

    "Wir hatten im vergangenen Jahr auch so eine Ausstellung, Stadtkosmonauten, so eine Partyszene, die durch die Stadt wandert. Da müssen sie dabei sein. Sonst sehen sie die gar nicht. Das alles zeigt: Stadtverwaltung kann nicht mehr so einfach funktionieren wie früher."

    Der Metropolenforscher Harald Mieg.
    Damit entstehen neue Fragen danach, wie Metropolen zu steuern sind.
    An der Wende zum 20. Jahrhundert entdeckte Georg Simmel in den Großstädten mit ihrer Mannigfaltigkeit und Beziehungsdichte die Bedingungen, damit sich die Geldwirtschaft und auch die Kultur entwickeln konnten. Was er noch nicht ahnen konnte - die Globalisierung, wie wir sie heute erleben.

    Heutzutage sind die Städte international sehr stark vernetzt, manche Städte. Es gibt so etwas wie eine weltweit sich organisierende Wirtschaft.

    "Dort sind die internationalen Schaltzentralen, Börse, Finanzplätze und Flughäfen. Das ist relativ wichtig heute, dass man relativ schnell von einem Ort zum anderen kann, bestimmte Leute trifft und alle Prozesse zusammenhängen. Und das war ein Phänomen, was so präsent noch nicht war. Städte wie Mumbai, ehemals Bombay, haben sie nebeneinander: steinzeitliche Wohnformen neben hypermodernen, das Internetcafe, allen möglichen Service für Unternehmen, Computernetzeinrichtigen, Hightech und daneben haben sie Slum und Handkarren. Und solche Phänomene gibt es immer häufiger, dass solche Ungleichzeitigkeiten nebeneinander existieren, weil sich so viel beschleunigt hat und die Welt so verknüpft ist."

    Die Städte entwickeln sich anders, als es in Europa seit dem Mittelalter üblich war. Die europäische Stadt war eine Stadt der Bürger, die sich selbst verwaltete und in der für die Integration aller gesorgt wurde. Doch diese traditionellen Steuerungsformen sind längst in die Krise geraten und unbezahlbar geworden.
    Wie hält man eine Metropole zusammen, in der sich das Leben weiter ausdifferenziert und polarisiert?

    "Das ist nicht nur, dass zwei verschiedene Fußballklubs, die die Stadt regieren, sondern dass sie mit völlig neuen Lebensformen zu rechnen haben, vielleicht auch mit Leuten, die nicht als Besucher, nicht als alte Stadtbürger, sondern in irgendeiner Weise ein temporäres Verhältnis zur Stadt eingehen. Die Expatriation. Dass sie Leute haben, die hier arbeiten im Rahmen von internationalen Konzernen. Die werden morgen wieder wo anders hin versetzt und das können 10 000 sein und so etwas prägt natürlich eine Stadtentwicklung."

    Bisher konnte man in der Großstadt fremd bleiben und doch miteinander Geschäfte machen. Man traf sich auf dem Markt. Doch um ökonomisch und psychisch in der Fremde zu überleben, darf man sich gerade nicht gleichgültig und distanziert verhalten. Vielmehr braucht es ganz neue Wege, die vielen Individuen in der Großstadt in ihrer Besonderheit wahrzunehmen und einzubeziehen, meinen die Metropolenforscher Hartmut Häußermann und Harald Mieg:

    "Man spricht von Governance. Die Idee ist, das man bestimmte Formen von Kooperation, Ideenfindung, aber auch Konsensfindung, dass man die wesentlich formalisierter, verstärkter, systematischer in die Stadtverwaltung mit einbringt - zum Beispiel Mediation. Es geht nicht nur um existierende Konflikte, sondern Konfliktvermeidung, dass man versucht, verschiedene Interessensgruppen an einen oder mehre Tische zu bringen und quasi von dem was früher als Verwaltung auffasste, dass man das heute eher in eine Art von Verhandlung bringt."

    "So dass sich das, was sich in einer Stadt entwickeln kann, diese Unterstützung braucht durch Anerkennung, durch Anerkennung. "

    Das ist eigentlich das wichtigste: Das es heißt, du bist willkommen. Du kannst hier was leisten. Du hast wie jeder anderer dein Plätzchen. Du kannst auch auf Ressourcen der Stadt zurückgreifen, nicht üppig, aber immerhin. Es gibt keine Diskriminierung und daraus kann sich etwas entwickeln, was früher das private Vergnügen von Kulturvereinen oder Sportvereinen war. Plötzlich sind das die entscheidenden Ressourcen für die Stadtentwicklung.

    Nicht anders funktioniert in gewisser Weise auch das Zentrum für Metropolenforschung. Für die 200 Doktoranden, die in Berlin eine Dissertation zum Thema Stadt schreiben bringt das den Vorteil, dass sie leichter auf das Wissen aus anderen Gebieten zugreifen können. Sie forschen nach neuen Erkenntnissen auch zu solchen Themen wie Wasser oder Wohnen, suchen Antworten auf die Frage nach der Sicherheit in der Großstadt, überlegen, wie Fernerkundungstechniken für die Stadtentwicklung zu nutzen sind und lassen dabei technische, naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Kenntnisse ineinander fließen. Alexa Färber.

    "Das schöne am Georg-Simmel-Institut ist, dass wirklich noch viel Raum zur Gestaltung ist und es gab den Gedanken mit anderen so genannten Urbanisten, mit Architekten, eine Form von Atelier zu etablieren innerhalb des Georg-Simmel Institutes, wo die wissenschaftliche Forschung, nicht going public, aber einen anderen Akteur auch wahrnehmen und lernen kann und das Zentrum selbst in der Stadtöffentlichkeit sichtbar wird."