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"Here We Go"
Ein kurzes Stück über das Sterben

Theaterkritik zu dem Stück "Here We Go" von Caryl Churchill, welches am Royal National Theatre in London uraufgeführt wurde.

Von Ulrich Fischer |
    Caryl Churchills neues Stück "Here We Go" – auf Deutsch am besten wohl mit "Auf geht's" übersetzt – ist ein unkonventionelles Schauspiel. Es hat keine fest umrissenen Figuren. Auch ihre Zahl ist unbestimmt und statt der üblichen Akte oder Szenen hat Caryl Churchill Blöcke geschrieben. Im ersten Block sammelt sie Fetzen einer Unterhaltung auf einer Feier nach einem Begräbnis:
    "Yes, his mind/extraordinary mind/literature of course, but also/could have been."
    Kein Satz ist vollständig. Selbst, wer genau zuhört, kann sich kein Bild des Verstorbenen machen. Die meisten Bemerkungen sind höflich, einige sarkastisch, alle oberflächlich. Was man eben so sagt.
    Im zweiten Block berichten die Figuren, wann und unter welchen Umständen sie gestorben sind. Krankheit, Alter, und auch ein Unfall. Die Toten sprechen:
    "I die the next day. I'm knocked over by a motorbike crossing a road in North London."
    Es gelingt den Schauspielern immer wieder, den schwarzen Humor im Text zu entbinden. Trotz des ernsten Themas wird bei der Uraufführung oft gelacht.
    Der dritte Block ist der spektakulärste. Die Überschrift lautet "After" – "Danach". Gemeint ist, nach dem Sterben. Eine Figur befindet sich auf dem Weg ins Jenseits. In London ist es ein Mann an der Schwelle des Alters. Er weiß nicht, was ihn erwartet und hat Angst. Ihn plagt die Furcht, es könne so etwas wie eine Hölle geben, obwohl er, als er noch lebte, nicht daran glaubte.
    In diesem Block wird die zentrale Frage des Stücks gestellt. Leben wir unser Leben intensiv genug? Nutzen wir es oder vertändeln, verschwenden wir unsere wertvolle Zeit?
    Caryl Churchill endet mit einer stummen Szene. Ein Greis, zu schwach, um sich selbst anzukleiden, wird von einer Pflegerin angezogen. Dann wieder ausgezogen. Anschließend wieder angezogen – eine lähmende Routine.
    Ähnlich wie Elfriede Jelinek gibt Caryl Churchill den Theaterleuten ein hohes Maß an Freiheit. Sie können entscheiden, wie viele Figuren auftreten – in London sind es neun – und wie genau der Text arrangiert werden soll. Elemente des zweiten Blocks können gut in den ersten eingefügt werden. Der Regisseur und die Schauspieler haben viele Möglichkeiten.
    In London inszenierte Dominic Cooke die Uraufführung. Der Regisseur hat lang am Royal Court in London gearbeitet, der britischen Bühne für die Avantgarde. Er greift die Herausforderungen Caryl Churchills auf und arbeitet vor allem die Intensität des Stücks heraus.
    Die letzte Szene wirkt am stärksten. Ein Einzelzimmer eines Altenheims wird mit Bett, Sessel und einem Rollator angedeutet. Eine Pflegerin zieht einem alten Herrn mit unendlicher Geduld den Schlafanzug aus, das Hemd, die Hose, Strümpfe und Schuhe an. Der alte Herr nimmt mühsam im Sessel Platz. Dann das Entkleiden, der Schlafanzug, das Bett. Drei Mal. Langsam verlöschen die Scheinwerfer. Es ist still geworden im Zuschauerraum, man könnte die sprichwörtliche Nadel fallen hören.
    Die Aufführung ist stark, das Ensemble spielt konzentriert. Auf die Gefahr, das Leben nicht ernst genug zu nehmen, soll das Stück hinweisen. Das überzeugendste dieses kurzen, nur 40 Minuten dauernden Schauspiels ist die Mahnung ans Publikum, zu erkennen, wie einzigartig menschliches Leben ist. "Here We Go" ist sowohl ein Stück über Zerfall, Sterben und Tod als auch gleichzeitig über die Kostbarkeit menschlichen Lebens.
    Beides gehört untrennbar zusammen.