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Herrscher über die Hohe See
Der Ozean braucht eine Verwaltung

Ozeane übernehmen vielfältige Funktionen für uns: Sie regulieren unser Klima, stellen Nahrung und Transportwege bereit und bieten Erholung. Das war schon immer so. Neu ist, dass wir dies immer stärker in Anspruch nehmen. Der Nutzungsdruck durch Fischerei, Schifffahrt oder Tiefseebergbau ist enorm gewachsen.

Von Tomma Schröder | 05.05.2016
Der Rundnasen-Grenadier (Coryphaenoides rupestris) lebt in der Tiefsee des nördlichen Atlantik
Der Rundnasen-Grenadier (Coryphaenoides rupestris) lebt in der Tiefsee des nördlichen Atlantik (WWF / Oystein Paulsen / Robert Guenther)
"Das Meer gehört allen, weil es so grenzenlos ist, dass niemand es besitzen, aber alle es nutzen können."

Hugo Grotius, "Mare Liberum - Die Freiheit der Meere", 1609.
Mike Orbach: "Die Doktrin von der Freiheit der Meere sagte, du darfst machen, was du willst auf dem Ozean. Es gibt keine Regeln, weil niemand entscheiden konnte, wer die Regeln macht. Das Problem ist der 'Mach,-was-du-willst'-Teil. Das funktioniert heute nicht mehr, wo wie in großem Stil Dinge aus dem Ozean fischen und ihn verschmutzen. Das gab es nicht, als diese Doktrin Anfang des 17. Jahrhunderts aufgestellt wurde. Aber viele Menschen glauben immer noch an diese Doktrin. Und das müssen wir ändern."
Sebastian Unger: "Es gab einen als historisch bezeichneten Beschluss bei den Vereinten Nationen, nach fast zehn Jahren Vorgesprächen, die offiziellen Verhandlungen für ein neues Übereinkommen zu starten."
"Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft,
Dein Spiegel ist's. In seiner Wellen Mauer,
Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer,
In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft."

Charles Baudelaire, "Der Mensch und das Meer", 1. Strophe.
Die meisten Menschen werden die Hohe See nie in ihrem Leben sehen. Sie ist nicht im Mittelmeer, nicht in der Nordsee und schon gar nicht in der Ostsee zu finden. Denn sie beginnt erst dort, wo im Umkreis von 200 Seemeilen, also 370 Kilometern, keine Küste zu finden ist. Die Hohe See ist also das, was wir uns gerne als den großen, freien, beinahe unendlichen Ozean vorstellen.
Fakten-Telegramm:
  • Handelsflotte weltweit: 40.000 Containerschiffe
  • Anteil am weltweiten Warentransport: 90 Prozent
  • Kosten für den Transport einer Weinflasche von Australien nach Europa: 15 Cent
Die Ozeane verbinden die Kontinente, regulieren das Klima, schlucken unsere Abgase, ernähren uns, schenken uns in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht auch Metalle für unsere Smartphones. Doch es gibt auch eine weitere Dienstleistung der Meere, die wir so eigentlich kaum nennen und die wir trotzdem nicht missen mögen: ihre Schönheit, ihre Tiefe, ihre Unberührtheit. Passt beides zusammen?
Zehn Jahre hat es gedauert, bis die Vereinten Nationen sich zu der Erkenntnis durchgerungen haben: Wenn es überhaupt noch weitgehend unberührte Orte im Meer geben soll, muss der Umgang mit den Ozeanen anders werden. Mike Orbach, emeritierter Professor für Meerespolitik an der Duke University in Durham:
"Wir regeln unsere Ressourcen in der Atmosphäre sehr detailliert und sehr sorgfältig. Aber wir lassen den Ozean aus. Deshalb bezeichne ich den tiefen Ozean als Schwarzes Loch der Politik auf diesem Planeten. Und das müssen wir ändern."
Dass etwas geändert werden müsse, war vor knapp 50 Jahren schon einmal erkannt worden. An einem Herbsttag, im November 1967 steht Arvid Pardo in New York vor der UN-Vollversammlung. Eine in großen Teilen wohl sehr skeptische Zuhörerschaft fragt sich, warum dieser unbedeutende maltesische Diplomat dort vorne so komisch redet und wovon er überhaupt spricht.
"Die dunklen Ozeane waren der Schoß allen Lebens: Aus dem schützenden Ozean ging das Leben hervor. Wir tragen in unseren Körpern noch immer die Spuren dieser fernen Vergangenheit - in unserem Blut, in der salzigen Bitterkeit unserer Tränen. Der Mensch, der momentane Herrscher über die Erde, zeichnet den Weg der Vergangenheit nach und kehrt in die Tiefen der Ozeane zurück."

Aus der Rede Arvid Pardos vor der UN Generalversammlung 1967.
Was Pardo so poetisch beschreibt, sind die Anfänge des Tiefseebergbaus. Das Interesse an rohstoffreichen Knollen und Krusten Tausende von Metern unter der Wasseroberfläche und fernab der Küstenstreifen spült einige grundsätzliche Fragen an die Oberfläche: Wem gehört eigentlich das Meer? Wer darf seine Schätze heben?
Die gut siebenstündige historische Rede von Arvid Pardo markiert einen Neuanfang in dieser Diskussion. 15 Jahre später, am Ende eines langen Kampfes, steht das größte Regelwerk der Menschheit: das Seerechtsübereinkommen. Es teilt die Ozeane grob gesagt in drei verschiedene Zonen: Die Küstenmeere enden zwölf Seemeilen hinter dem Festland, die Ausschließliche Wirtschaftszone ragt bis zu 200 Seemeilen in die Ozeane, wobei diese Zone für den Meeresboden sogar auf bis zu 350 Seemeilen ausgedehnt werden kann. Alles andere ist die Hohe See, beziehungsweise "the area", also "das Gebiet", wie der Meeresboden in internationalen Gewässern heißt. Für "das Gebiet" konnte Pardo durchsetzen, was ihm von Anfang an für die gesamte Hohe See vorschwebte. So heißt es im Seerechtsübereinkommen, Artikel 136: "Das Gebiet und seine Ressourcen sind das gemeinsame Erbe der Menschheit."
Die Hohe See: Das Erbe der Menschheit?
Das am 15. April 2002 von der NASA veröffentliche Foto zeigt die Bahamas-Inseln in der Karibik und Kuba (unten), aufgenommen am 16.3.2002 von MODIS (Moderate Resolution Imaging Spectroradiometer). In der Bildmitte liegt die Andros Insel umgeben vom hellblauen Wasser der Great Bahama Bank, einem Korallenriff. 
Die Tiefsee aus dem Weltraum fotografiert. (picture alliance / dpa / epa afp Nasa)
"Ja, was ist rechtlich das Menschheitserbe? Da kann man ganz lange drüber reden und drüber streiten. Es haben sich aber ein paar Elemente herauskristallisiert: Nämlich Ein Raum, den man sich nicht einfach so aneignen kann - oder auch dessen Ressourcen. Eine Institutionalisierung, eine Behörde, wenn Sie so wollen, oder Organisation, die für die Regelung und Verteilung zuständig ist, und ein Teilen der Gewinne, also irgendetwas, was dann an den Rest der Menschheit zurückkommt. Es heißt nicht, dass man das nicht nutzen dürfte!"
So beschreibt es die Kieler Seerechtlerin Nele Matz-Lück. Obwohl damit eine durchaus revolutionäre Neuerung im Umgang mit den Meeren erreicht war, zeigte sich Pardo enttäuscht. Denn die ganze Wassersäule, alle Fische waren hier nicht inbegriffen. Es ging allein um die Schätze des Meeresbodens, so dass Pardo der Ansicht war, dass das Konzept des Gemeinsamen Erbes der Menschheit reduziert worden sei auf "hässliche kleine Steine, die in den dunkelsten Tiefen der Schöpfung herumliegen".
"Das sind einmal zwei schöne Manganknollen, die eine ist so ein bisschen kartoffelgroß, die andere doppelt so groß. Richtig schön rund, knollig ausgebildet." - Der Meeresgeologe Sven Petersen findet die Manganknollen ganz und gar nicht hässlich. Die beiden Exemplare, die in seinem Büro am Kieler Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung auf dem Tisch liegen, sehen zwar recht unspektakulär aus. Doch im Innern finden sich mit Kobalt, Nickel und Kupfer wichtige Metalle, mit denen die wachsende Rohstoffnachfrage befriedigt und die Abhängigkeit von einzelnen Export-Ländern beschränkt werden könnte, meint Petersen.
Natürlich bliebe der Abbau der Manganknollen nicht ohne ökologische Folgen: "Die Manganknollen selbst liegen ja auf einem relativ weichen Sediment und würden entfernt. Dabei wird zum einen die Sedimentfahne in der Wassersäule verteilt, da gibt es Diskussionen, wie lange diese in der Wassersäule bleibt, in welcher Entfernung. Fakt ist aber, dass große Bereiche davon beeinflusst werden würden. Der zweite Punkt ist: Wenn wir die Manganknollen entfernen, ist kein Hartsubstrat mehr für Lebewesen wie Schwämme oder Korallen da, die auf ein Hartsubstrat angewiesen sind. Es würde auf jedem Fall zu einem großflächigen Eingriff in die Natur kommen. Das gleiche haben wir aber auch an Land. Es gibt keinen Abbau von Rohstoffen ohne eine Umweltbeeinträchtigung.
"Ihr beide seid von heimlich finstrer Art.
Wer taucht, o Mensch, in deine letzten Tiefen,
Wer kennt die Perlen, die verborgen schliefen,
Die Schätze, die das neidische Meer bewahrt?"

Fortsetzung "Mensch und Meer", 2. Strophe.
Fakten-Telegramm:
  • größtes Gebiet für Manganknollen: Clarion-Clipperton-Zone, Pazifik
  • 15 bis 75 Kilogramm sollen hier pro Quadratmeter lagern, und zwar in einer Tiefe von 5000 bis 6000 Metern
  • geschätztes Gesamtvorkommen: 21 Milliarden Tonnen
  • Wert pro Kilogramm: 1,50 Dollar
Bisher ist der Tiefseebergbau noch Zukunftsmusik. Immer wieder wurde ein wahrscheinlicher Start nach hinten geschoben. Und bei den derzeitigen Rohstoffpreisen wird ein baldiger Abbau nicht eben wahrscheinlicher. Doch viele Länder, darunter auch Deutschland, haben ihre Claims bereits abgesteckt: Im Atlantik, in der Clarion-Clipperton-Zone, hat die Internationale Seebodenbehörde 14 Explorationslizenzen für ein Gebiet von der Größe Grönlands vergeben, das zwischen Entwicklungs- und Industrieländern geteilt werden soll. Sollte es hier in den kommenden fünf bis zehn Jahren tatsächlich zum Abbau kommen, wacht die Behörde nicht nur über technologische, ökologische und ökonomische Standards, sondern sorgt auch dafür, dass den Entwicklungsländern technisches Knowhow vermittelt wird, wie Christian Reichert von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover erklärt:
"Der weitere Hintergrund ist, dass, wenn es zu einer Nutzung dieser Rohstoffe kommt, dass das in erster Linie auch den Entwicklungsländern und den am wenigsten entwickelten Ländern zu Gute kommen soll. Sprich: es werden auf etwaige Gewinne Abgaben erhoben, über deren Höhe jetzt gerade auch noch debattiert wird und dann später entschieden wird."
Reichert arbeitet nicht nur für die Bundesanstalt, sondern sitzt sozusagen im Maschinenraum der Internationalen Seebodenbehörde: Der Geologe leitet den wichtigsten Ausschuss dort und arbeitet mit an den Regularien für den späteren Abbau. Er schätzt vorsichtig, dass die Abgabe über sieben Prozent des Gewinns liegen wird. Die Frage, die bleibt, ist allerdings: Sollte der Tiefseebergbau auch in Zukunft eher von geopolitischer, denn von wirtschaftlicher Bedeutung sein, wie groß werden dann die Gewinne sein? Wem also nützt am Ende die schöne Bezeichnung "Erbe der Menschheit"? War es ein Fehler, mit der Internationalen Seebodenbehörde den Abbau von Tiefsee-Ressourcen gleichsam zu institutionalisieren und damit ein Moratorium von vornherein auszuschließen?
Immerhin, so gibt die Seerechtlerin Matz-Lück zu bedenken, hat hier das Vorsorgeprinzip gegriffen: "Hier haben wir tatsächlich die Möglichkeit, jetzt schon ein Regelungswerk für eine zukünftige Tätigkeit zu schaffen. Also nicht erst anzufangen und dann zu gucken und zu sagen: 'Oh, das geht ja alles schief, jetzt müssen wir regulieren', sondern hier, basierend auch auf der Erfahrung der Explorationstätigkeit, ganz gute Regelungen zu schaffen."
Es ist schon kurios, dass ausgerechnet die Nutzung, die es noch gar nicht gibt, bisher am genausten geregelt ist und am besten kontrolliert werden kann. Im Kampf gegen die Überfischung, die Verschmutzung, die Übernutzung der Meere aber reicht das hart erkämpfte Seerechtsübereinkommen nicht mehr aus. Es bietet allenfalls einen gesetzlichen Rahmen, der mit neuen Inhalten gefüllt werden muss. Doch das ist gar nicht so leicht.
Martin Visbeck, Leiter des Exzellenzclusters "Ozean der Zukunft": "Wenn man eine einfache Welt hätte, würde man sagen: Och, dann nehmen wir das Seerecht und ergänzen das Recht an sich. Das würde bedeuten, man verhandelt das Seerecht um, nach, weiter - das traut sich keiner! Das Seerecht ist das größte Rechtswerk, das die Vereinten Nationen jemals gemacht haben, die haben da, glaube ich, 20 Jahre dran gearbeitet. Und die wissen genau, wenn man das einmal wieder aufmacht, dann wird man wieder 20 Jahre verhandeln und es vielleicht nie abschließen. Und deswegen gibt es immer diese Durchführungsübereinkommen, die eben schwächer sind, weil sie nicht den Status eines Rechts haben."
Charles Eden, Botschafter von Trinidad und Tobago bei den Vereinten Nationen, UN-Versammlung: "It is so decided!"
Ein solches Durchführungsübereinkommen, so sieht es ein Beschluss des letzten Jahres vor, soll nun erarbeitet werden. Schon das sei ein großer Erfolg, meint Douglas McCauley von der University of California in Santa Barbara - auch wenn die Arbeit gerade erst begonnen hat und noch viele Jahre dauern wird: "Das ist eine große Sache und wirklich hochspannend! 64 Prozent unserer Ozeane gehören zur Hohen See. Und bisher haben wir einen ziemlich schlechten Job gemacht mit einer viel zu kleinteiligen Politik. Wir haben keinen einheitlichen Blick auf die Hohe See, keine einheitlichen Regelungen dafür, wie wir diesen riesigen, sehr artenreichen Teil unseres Planeten verwalten wollen."
IMO, ISA, ICES, RFMO, IOC - wer einen Überblick darüber gewinnen möchte, wo was auf den Ozeanen geregelt wird, versinkt in einem Wust an Institutionen und Zuständigkeiten. Trotzdem gibt es genügend Dinge, die gar nicht verwaltet werden. So ist es bis heute nicht möglich, ein rechtlich verbindliches Schutzgebiet auf der Hohen See zu errichten, ganz einfach, weil niemand die Kompetenz dafür hat. Dabei geht es vor allem und immer wieder um eine der ältesten und wichtigsten menschlichen Tätigkeiten auf dem Meer: die Fischerei.
Fakten-Telegramm:
  • Fangmenge weltweit: 80 Millionen Tonnen
  • dazu durch illegale Fischerei: geschätzte elf bis 26 Millionen Tonnen
  • Anteil der Fische, die auf Hoher See gefangen wurden: sechs Prozent
Mike Orbach: Im Recht gibt es zwei Konzepte: Eines lautet: Du kannst machen was du willst, bis jemand zeigt, dass dein Tun irgendwelche schlimmen Auswirkungen hat. Die andere Möglichkeit ist: Man darf gar nichts machen, bis jemand gesagt hat, dass es in Ordnung ist. Und ich denke wir müssen uns in Richtung dieser zweiten Annahme bewegen."
Die beste Lösung wäre Mike Orbach zufolge ganz einfach: Da ohnehin nur wenige Nationen auf Hoher See fischen, könnte man die Fischerei hier auch ganz verbieten. Eine Idee, die in der Wissenschaft viele Anhänger hat, von Realpolitikern aber eher belächelt wird. Auch die Idee, das Prinzip des Menschheitserbes vom Tiefsee-Bergbau auf die Fischerei auszudehnen, birgt Schwierigkeiten, wie Matz Lück ausführt:
"Letztlich hapern solche Vorschläge im Ergebnis daran, dass man dann eine Behörde bräuchte, die das auch verteilt. Beim Tiefseebodenbergbau hat man jetzt ganz isolierte Felder noch, wo eventuell irgendwann in der Zukunft Staaten anfangen, das ist letztlich eine Tätigkeit in kleinerem Umfang als weltweit die Fischerei auf Hoher See. Das wäre eine Art FIFA für die Meere mit allen Problemen, die man dann hat, in Bezug auf Korruption."
An Behörden und Organisationen mangelt es dem Meer nicht. Das Problem liegt woanders: Schon heute gibt es verschiedene regionale Fischereiorganisationen, die oft gute Arbeit leisten und auf Grundlage wissenschaftlicher Empfehlungen genaue Vorgaben machen, wer wo fischen darf, wie viel und mit welchem Fanggerät. Die North East Atlantic Fisheries Commission - kurz NEAFC - ist so eine regionale Organisation. Das Gebiet, das sie verwalten soll, liegt im Atlantik und der Arktis und ist ungefähr so groß wie ganz Europa zusammen.
Wie kontrolliert man die Einhaltung der Gesetzte?
Tintenfisch in der Tiefsee, fotografiert in 854 Metern Tiefe.
Tintenfisch in der Tiefsee, fotografiert in 854 Metern Tiefe. (picture alliance / dpa / MBARI)
"Die Leute, die im UN-Hauptquartier am Tisch sitzen, können alle möglichen Gesetze zur Hohen See verabschieden. Aber so lange man nicht wirklich sehen kann, was dort draußen passiert, sind solche Gesetze letztlich bedeutungslos."
Der Meeresbiologe und Politologe Douglas McCauley, selbst einst Fischer, baut auf eine Technik, die auch die Umweltorganisation WWF für sich entdeckt hat. Stefan Lutter vom WWF-Zentrum für Meeresschutz zeigt auf eine Karte des Atlantiks, in der merkwürdige schwarze Linien eingezeichnet sind: "Wir haben jetzt also in zwei Jahren nacheinander massive Verstöße. Auch das hier ist zum Beispiel einer. Man sieht das an den Mustern hier, ne? Wenn hier so eine Linie einmal quer über den Atlantik geht, dann ist das nur eine Passage, das ist natürlich vollkommen erlaubt."
Lutters Finger fährt über die Karte. Mit Hilfe von AIS, einem Automatischen Identifikations-System, das jedes größere Fischerboot mitführen muss, können die genauen Routen der Fischer nachverfolgt werden. Gerade Linien sind nur Durchfahrten, verschlungene Zickzacklinien dagegen weisen auf Bodenfischerei hin. Und die ist in dem Gebiet am artenreichen mittelatlantischen Rücken, das der WWF beobachtet, aufgrund ihrer verheerenden Auswirkungen am Meeresboden verboten. Lutter:
"Deswegen haben wir versucht, diese Daten, die öffentlich verfügbar sind, zu analysieren. Und fangen an zu vergleichen. Und das ist zum Beispiel unsere Karte mit den AIS-Signalen, die aber nicht sagen, welches Fanggerät eingesetzt wurde, weil es mit Fischerei ja gar nichts zu tun hat. Das müssen wir also selber herausfinden."
Hier beginnt die Puzzlearbeit. Von der Fischereikommission NEAFC erhält die Umweltorganisation Daten zu eingesetztem Fanggerät, nicht aber über das Schiff und die Flagge, unter der es fährt. Diese Informationen besorgt sich Stefan Lutter dann über das frei zugängliche AIS und kombiniert. Alle Verstöße werden schließlich wiederum der NEAFC gemeldet. Ein recht kompliziertes Prozedere, das nur deshalb funktioniert, weil die EU die strengsten Regeln zur Verwendung von AIS auch auf Fischereifahrzeugen hat. Mc Cauley:
"Die Fischbestände nachhaltig zu bewirtschaften ist wirklich eine globale Herausforderung. Aber die Regulierung ist sehr fragmentiert. Man hat viele verschiedene Gruppen, die verschiedene Regeln und Gesetze haben und verschiedene Mitglieder. Aber Fischer fahren über den ganzen Ozean auch zwischen diesen verschiedenen Management-Organisationen hin und her. Es gibt einfach kaum einen Datenaustausch zwischen diesen Organisationen.
Und die Fischer, die sich nicht an die Regeln halten, wissen das und nutzen es aus. Es ist zum Beispiel schon schwierig genug, die Namen der Boote, die dort draußen fischen, zu erfahren und auch zu erfahren, ob und wie diese Namen in der Vergangenheit geändert wurden. Deswegen sollten Fischerboote eine internationale Identifikationsnummer bekommen und einen Transponder haben, den sie auch vorschriftsmäßig verwenden."
Dass sich ausgeschaltete AIS-Transponder und gefälschte Daten identifizieren lassen, konnte McCauley jüngst in einem Artikel der Fachzeitschrift Science zeigen. Mit ausgefeilten Analysemethoden und strikteren Regeln zur Verwendung der Satellitenüberwachung per AIS könne man daher einen echten Datenschatz heben, so der Meeresbiologe:
"Es war, als wenn man das Licht in einem ansonsten ganz dunklen Raum anmacht und plötzlich sehen kann, wo und wie die Fischer die Meere nutzen. Und das ist wirklich entscheidend. Denn wir können keine Gesetze für ein Gebiet machen, das wir gar nicht beobachten können!"
Und dass wir den Ozean - trotz seiner unermesslichen Weiten - gut beobachten sollten, davon ist McCauley überzeugt: "Es gibt viele neue menschliche Aktivitäten auf der Hohen See. Die wichtigste nach der Fischerei ist wahrscheinlich der Tiefsee-Bergbau. Man kann sich ja vorstellen, dass es Auswirkungen für die Umwelt hat, wenn man einen 300-Tonnen-Roboter herunterlässt, der die Aufgabe hat, den Meeresboden und damit das ganze Ökosystem dort abzuschaben. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass so viele Augen wie möglich darauf schauen, wo diese Aktivität ausgeübt wird und wann."
Werden immer noch häufig Opfer von Kollisionen mit Containerschiffen: Ein Grauwal im Meer mit Fontäne
Werden immer noch häufig Opfer von Kollisionen mit Containerschiffen: Ein Grauwal im Meer mit Fontäne (dpa/ picture-alliance/ epa HO)
Auf die Handels- oder Personenschifffahrt richten sich bereits viele Augen. Hier ist die Satellitenüberwachung zur Vermeidung von Kollisionen bereits Pflicht, und jeder kann sich im Internet anschauen, wo welche Schiffe wie schnell unterwegs sind. Doch auch hier wäre es sinnvoll, Daten miteinander zu verknüpfen und die Routen anderer Meeresnutzer mit in die Planung einzubeziehen, meint McCauley:
"Wir gewinnen durch die Verbindung verschiedener Daten viele neue spannende Einblicke: Nehmen wir zum Beispiel Containerschiffe und Wale, die leider immer noch viel zu häufig kollidieren. Das ist eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass sich bestimmte bedrohte Walarten nicht erholen. Wenn wir nun Gebiete identifizieren könnten, die sowohl Wale als auch Containerschiffe stark nutzen, könnten wir hier Regeln für die Schifffahrt aufstellen, und damit die Sterblichkeit der Wale senken."
Im Gegensatz zu den nationalen Wirtschaftszonen gibt es weit draußen keine Gebiete, die für die Schifffahrt gesperrt sind. Dabei könnte man auch hier Straßen einführen, wie Stefan Lutter erklärt:
"Theoretisch ist das möglich, das auch auf der Hohen See zu tun. Und so eine Überlegung hat es gegeben für den Bereich Nord-Ost-Atlantik, sie ist auch immer noch im Raum, wird aber leider zurzeit kaum verhandelt. Und da wäre zu überlegen, ob man ein Gebiet auch als 'area to be avoided', wie das dann im Fachjargon der IMO heißt, erklärt, wegen der Wale und der Gefahr, dass auch Kollisionen stattfinden zwischen normalen Schiffen und Großwalen. Der Vorschlag ist da - aber zurzeit, ja, eingefroren!"
Auch hier liegt das Problem in den unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen: "Der ganze Prozess zwischen den Staaten, die diese Gebiete am mittelatlantischen Rücken ausgerufen haben, den Nord-Ost-Atlantik-Staaten, für die das bindend ist, und der Weltgemeinschaft, sei es bei der Schifffahrtsorganisation IMO oder bei der Meeresseebodenbehörde ISA oder der Thunfischorganisation ICCAT, ist ein unheimlich schleppender. Es hat Verhandlungen gegeben, es hat Vorschläge gegeben für gemeinsame Maßnahmen, der WWF hat Kataloge vorgelegt. Und es ist außer den Fischereimaßnahmen nichts passiert."
"Du liebst es, zu versinken in dein Bild,
Mit Aug' und Armen willst du es umfassen,
Der eignen Seele Sturm verrinnen lassen
In seinem Klageschrei, unzähmbar wild."

Fortsetzung "Der Mensch und das Meer", 3. Strophe.
Wenn der Ozean weiter geplündert, verschmutzt und übernutzt wird, könnte er irgendwann zurückschlagen und seine vielfältigen Gaben verweigern. Zusammengebrochene Fischbestände, überschwemmte Küstengebiete, abgestorbene Korallenriffe - dies sind nur einige Vorboten. Die UN hat die Meere daher mit in ihre Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen und ein Ziel entwickelt: "Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen", lautet es.
Ein neues Seerechtsabkommen: "Es geht eher um das Wie als das Ob"
Handeln gerade ein neues Seerechtsübereinkommen aus: UN-Logo am Eingangstor der Vereinten Nationen in Genf
Handeln gerade ein neues Seerechtsübereinkommen aus: UN-Logo am Eingangstor der Vereinten Nationen in Genf (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen )
"Ziele sind allgemeine Willensbekundungen: 'Lasst uns das Wasser sauberer machen, lass uns die Fischbestände verbessern, lass uns die Küstenwirtschaft verbessern!' Was wir wirklich brauchen sind spezielle Vorgaben, wie wir diese Ziele erreichen. Was wollen wir? Wollen wir 90 Prozent der biologisch bedeutsamen Gebiete unter Schutz stellen? Wie identifizieren wir diese Gebiete? Und bis wann sollen sie unter Schutz gestellt sein? Diese Detailliertheit braucht man für eine gute Planung."
Charles Ehler ist mitnichten gegen ein UN-Nachhaltigkeitsziel für die Ozeane. Doch der erfahrene Meeresplaner und Pragmatiker hat es gerne etwas konkreter - auch wenn das mit den vorhandenen Daten nicht immer leicht ist: "Wartet man bis man die perfekte Datenlage hat, oder beginnt man einfach mit den besten Daten, die verfügbar sind. Die beste Möglichkeit ist, einfach anzufangen."
Anfang April ist in New York die Vorbereitungskommission für einen neuen UN-Vertrag zum Seerechtsübereinkommen zusammen gekommen. Sie soll in den kommenden zwei Jahren Vorschläge erarbeiten: Wie Schutzgebiete auf der Hohen See wirksam eingerichtet werden könnten. Wie und vom wem die Fischerei besser kontrolliert werden könnte. Und auch, wie mit genetischen Ressourcen der Hohen See umgegangen werden soll, aus denen eventuell einmal Medikamente, Kosmetika oder andere Dinge resultieren. Die Antworten auf diese Fragen fallen noch recht unterschiedlich aus, ein Anfang aber, so berichtet Sebastian Unger vom Instiute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam, ist gemacht:
"Was mich positiv überrascht hat, war die insgesamt starke Unterstützung für den Prozess. Man kann sicherlich sagen, dass es bei vielen Punkten nicht um das Ob, sondern um das Wie geht. Staaten wie auch die USA, die in der Vergangenheit diesem ganzen Prozess ablehnend gegenüber standen, sind zu starken Unterstützern geworden. Also insgesamt eine sehr positive Entwicklung, die ich in dieser Form so nicht erwartet hätte."
Das Meer war schon häufig Objekt romantischer Verklärung: Malerisches Sturmtief vor Helgoland
Das Meer war schon häufig Objekt romantischer Verklärung: Malerisches Sturmtief vor Helgoland (Christof Martin / picture alliance / dpa)
"Und doch bekämpft ihr euch ohn' Unterlass
Jahrtausende in mitleidlosem Streiten,
Denn ihr liebt Blut und Tod und Grausamkeiten,
O wilde Ringer, ewiger Bruderhass!"

Fortsetzung "Der Mensch und das Meer", 4. Strophe.
Den Ozean verwalten. Geht das? Es widerspricht unserer romantischen Vorstellung von den Meeren als Sehnsuchtsort, als unendliche, bedrohlich-faszinierende Weite. Es scheint viel davon abzuhängen, ob wir uns von dieser Vorstellung lossagen können. Für den Ozean und für seine Freiheit.
Martin Visbeck: "Der schien so groß, dass man machen konnte mit dem, was man wollte, so viele Fische rausholen, wie wir bräuchten, da ist noch ganz viel da. Und ich glaube, die Menschheit hat eigentlich begriffen, dass auch der Ozean irgendwie endlich ist."