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Homosexuelle Muslime
Glaube ohne Selbstverleugnung

Muslimisch und homosexuell - Muhsin Hendricks sieht das nicht als Widerspruch. Der Imam stammt aus einer tiefreligiösen muslimischen Familie und hat in Pakistan islamische Theologie studiert. In seinem Heimatland Südafrika lebt er offen in einer homosexuellen Partnerschaft.

Von Martina Sabra | 23.10.2014
    Ein pakistanischer Muslim liest den Koran während des Fastenmonats Ramadan in Peshawar.
    "Sodom und Gomorrah wurden zerstört, weil die Einwohner Vergewaltiger und Verbrecher waren. Aber im Koran steht nicht, dass Homosexualität der Grund für die Zerstörung war," meint Mushin Hendricks. (picture alliance / dpa / Bilawal Arbab)
    "Fitrah" ist Arabisch und bedeutet übersetzt so viel wie die "Natur" eines Menschen. Der Ko-Autor Imam Muhsin Hendricks will mit dem Film auf die teilweise schweren seelischen Konflikte von Musliminnen und Muslimen weltweit aufmerksam machen.
    "Die Dokumentation zeigt, wie Musliminnen und Muslime versuchen, ihre Religiosität und ihre sexuelle Orientierung unter einen Hut zu bekommen. Viele haben damit große Probleme. Sie nehmen Drogen, sie wenden sich vom Glauben ab, im Extremfall nehmen sie sich das Leben. Ich persönlich kenne fünf Menschen, die deswegen freiwillig aus dem Leben geschieden sind. Der Film zeigt sehr deutlich, dass man seine Religion ablegen kann, aber nicht seine sexuelle Identität."
    Muhsin Hendricks hat diese heftigen inneren Konflikte selbst erlebt. Er wurde 1970 in Kapstadt in eine tiefreligiöse Familie geboren. Sein Großvater und sein Vater waren Imame, seine Mutter Islamlehrerin. Dass er irgendwie anders war, spürte er schon früh. Als er in die Pubertät kam, plagten ihn heftige Zweifel.
    "Ich kämpfte sehr mit mir, steigerte mich in religiöse Rituale hinein. Ich war extrem fromm, weil ich dachte, dass ich sonst in die Hölle kommen würde."
    Glauben nicht aufgegeben
    Muhsin Hendricks hielt sich für einen schlimmen Sünder. Wie die meisten Muslime glaubte er an die ursprünglich biblische Geschichte von Sodom und Gomorrha, die in abgewandelter Form auch im Koran vorkommt. Dort heißt es, dass die Einwohner von Sodom und Gomorrha vernichtet wurden, weil sie gleichgeschlechtlichen Sex hatten. Hendricks hoffte, dass der Glaube ihm helfen würde, seine sexuelle Orientierung zu ändern. Er studierte islamische Theologie in Pakistan, wurde nach seiner Rückkehr Islamlehrer, heiratete eine gläubige Muslimin, bekam drei Kinder mit ihr - obwohl beide wussten, dass er homosexuell war. Doch das permanente Versteckspiel nutzte nichts. Hendricks ließ sich scheiden, machte seine Homosexualität öffentlich. Seinen Glauben an die Einheit Gottes und an den Koran gab er dennoch nicht auf.
    "Sodom und Gomorrah wurden zerstört, weil die Einwohner Vergewaltiger und Verbrecher waren. Aber im Koran steht nicht, dass Homosexualität der Grund für die Zerstörung war. Der Koran ist ein Buch aus dem siebten Jahrhundert, das man im historischen Kontext seiner Entstehung lesen muss. Außerdem ist der Koran ein poetisches Meisterstück, und Texte mit einer poetischen Dimension sind naturgemäß offen für viele verschiedene Interpretationen."
    Dass der gegenwärtige islamische Mainstream das ganz anders sieht, ist Hendricks bewusst, doch er verweist auf die islamische Geistesgeschichte, in der Homosexualität zeitweise durchaus akzeptiert worden sei, und auf islamische Grundwerte wie die Gnade Gottes und die Authentizität.
    "Warum sollte ein Mensch mit einer anderen sexuellen Orientierung gezwungen sein, diese zu verbergen? Eines der wichtigsten Prinzipien im Islam ist die Ehrlichkeit. Wenn wir uns selbst und andere belügen, können wir keine guten Muslime sein."
    Glaube ohne Selbstverleugnung
    Ein guter Muslim sein - dazu gehört für Muhsin Hendricks auch nach seinem Coming-out das Bekenntnis zur Ehe und Familie. Im Rahmen der Kampagne zur Einführung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften erklärte er 2006 im südafrikanischen Parlament, dass aus islamischer Sicht nichts gegen die Homo-Ehe spräche. Einige Monate später trat das Gesetz in Kraft. Seither hat Muhsin Hendricks selbst als Imam in seiner Gemeinde bereits neun muslimische Paare getraut. Interessantes Detail: Nicht nur Homosexuelle bitten um den Segen der Gemeinde:
    "Auch heterosexuelle Paare haben bei uns angefragt, ob wir sie trauen können: zu Beispiel ein gemischtes muslimisch-christliches Paar. Die Frau war Muslimin, der Mann war Christ. Andere Moscheen hätten die beiden nur akzeptiert, wenn der Mann zunächst zum Islam konvertiert wäre. Bei uns ging es auch so. Beide konnten ihre Religion behalten. Das kommt immer häufiger vor."
    Mittlerweile ist Muhsin Hendricks auch selbst wieder offiziell liiert - mit einem Mann. Gemeinsam mit seinem Partner zieht er ein weiteres Kind groß.
    "Was die Familie angeht, so ist aus meiner Sicht der einzige Unterschied zwischen homosexuellen und heterosexuellen Menschen die sexuelle Orientierung. Es gibt viele heterosexuelle Menschen, die zwar eine Familie haben, die aber ihre Rollen nicht ausfüllen, zum Beispiel indem sie keine guten Eltern sind."
    "Viele Menschen an einem authentischen Islam interessiert"
    Ein Glaube ohne Selbstverleugnung, ohne Unterdrückung - danach suchen nicht nur homosexuelle Muslime. "The Inner Circle", die liberale muslimische Gemeinde, die Muhsin Hendricks gegründet hat, erhält wachsenden Zulauf auch von heterosexuellen Muslimen, die sich in anderen Moscheen nicht angenommen fühlen.
    "Wir haben gerade unsere jährliche Konferenz beendet. In diesem Jahr haben 110 Menschen teilgenommen, von denen über die Hälfte heterosexuell waren. Daraus schließe ich, dass viele Menschen an einem authentischen Islam interessiert sind."