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"Ich bin immer Außenpolitiker gewesen"

Während seiner Amtszeit als Verteidigungsminister sei Deutschland ins Herz des transatlantischen Bündnisses zurückgekehrt, sagt Volker Rühe, der das Ressort zwischen 1992 und 1998 leitete. Dazu habe auch die Bereitschaft der Bundeswehr und des Parlaments zu Auslandseinsätzen beigetragen.

Volker Rühe im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Strategisch denkend, atlantisch geprägt, den Ausgleich mit dem Osten suchend – so beschrieb ihn die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" einmal, im Jahr 1990. Und acht Jahre später charakterisierte ihn die "Süddeutsche Zeitung" trefflich als "Verteidigungsminister des Äußeren". Die Rede ist vom CDU-Politiker Volker Rühe, geboren am 25. September 1942 in Hamburg, der zunächst ein Lehramtsstudium für Deutsch und Englisch absolvierte und bis 1976 in seiner Geburtsstadt als Lehrer tätig war, zuletzt als Oberstudienrat.

    Schon früh engagierte sich Rühe, der 1963 der CDU beitrat, kommunalpolitisch, in den 70er-Jahren als Mitglied in der Hamburger Bürgerschaft. Dann führte ihn sein Weg in den Deutschen Bundestag, dem er von 1976 bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2005 angehörte. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fungierte er von 1982 bis 1989 sowie von 1998 bis 2002 als deren stellvertretender Vorsitzender. Berufliche Spitzenpositionen bekleidete Rühe in den Jahren 1989 bis 1992 als CDU-Generalsekretär, wo er den Reformpolitikern der Union zugerechnet wurde, und schließlich von 1992 bis 1998 als Bundesminister der Verteidigung im Kabinett von Helmut Kohl.

    In seine Amtszeit fiel die strategische Neuausrichtung der Bundeswehr sowie der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Rühe, der als intimer Kenner der Verflechtungen zwischen Außen- und Sicherheitspolitik galt und gilt, regierte auf der Bonner Halbhöhe außerordentlich souverän, bisweilen auch, so Kritiker, mit einem robusten bis ruppigen Führungsstil. Er lebt heute in seiner Heimatstadt Hamburg, ist verheiratet mit Anne Rühe und hat drei Kinder.




    Volker Rühe, der Liberale aus Hamburg und seine transatlantische Prägung

    Volker Rühe: Damals war die Außenpolitik Schicksalsfrage des geteilten Landes Deutschland.

    Stephan Detjen: Herr Rühe, in wenigen Wochen, am 1. Oktober jährt sich zum 30. Mal der Tag, an dem Helmut Kohl mit dem ersten erfolgreichen Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik zum Bundeskanzler gewählt wurde. Sie waren damals seit sieben Jahren Mitglied des Bundestages, wurden nach dem Regierungswechsel einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden neben Alfred Dregger. Kohl hat den Machtwechsel damals zur geistig-moralischen Wende stilisiert. Hat das auch Ihr Lebensgefühl damals ausgedrückt?

    Rühe: Da ... mein Lebensgefühl war das, dass ich ja vorher schon, ab 1970, in der Hamburger Bürgerschaft in der Opposition war, und dann ´76 nach Bonn gegangen bin, auch wieder in der Opposition, aber gleichzeitig mit Helmut Kohl. Und insofern war das dann sozusagen die Erfüllung dieser Oppositionstätigkeit, nach sechs auch gemeinsamen Jahren an die Regierung zu kommen – wobei bei mir von Anfang an klar war, dass ich in die Fraktionsführung gehen sollte, um meinem Lieblingsthema nachzugehen, und das war die Außen- und Sicherheitspolitik.

    Detjen: Wobei Sie ja ursprünglich Bildungspolitiker waren, ...

    Rühe: Ja.

    Detjen: ... und noch mal auch vor dem Hintergrund Ihres politischen Spektrums: Was verbarg sich für Sie damals für ein Anspruch mit diesem Regierungswechsel? Dieses Wort von der geistig-moralischen Wende weist ja weit über die konkrete politische Gestaltung im Alltag hinaus.

    Rühe: Gut, das war sehr weit gegriffen, aber ich habe später mal einen Vortrag gehalten, übrigens in der Freitagsgesellschaft bei Helmut Schmidt, zu dem ich auch bis heute einen sehr engen Kontakt habe, und der Titel hieß: "Die Kontinuität der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland durch die Diskontinuität der Regierung", das heißt, durch den Regierungswechsel 1982 war es auch möglich, die Kontinuität der Außen- und Sicherheitspolitik zu erhalten, also die Politik in der NATO, die Frage der Stationierung, die damals eine große Rolle gespielt hat. Und insofern war das schon ein wichtiger historischer Einschnitt.

    Detjen: Kohl war damals ja – natürlich, konnte er gar nicht sein – noch nicht die historische Erscheinung, die er dann nach der Wiedervereinigung wurde. Er galt in den ersten Jahren noch als die "Birne aus der Pfalz", also eine tumbe, provinzielle Erscheinung. Viele haben ihn unterschätzt. Was waren aus Ihrer Sicht, aus Ihrer Kenntnis, auch im Rückblick, eigentlich seine Stärken damals und was waren seine wirklichen Schwächen auch?

    Rühe: Eine große Stärke war, dass er Leute gefordert hat wie mich auch, die machtpolitisch ja überhaupt nichts mitbrachten, ich komme aus Hamburg, also so what? Er hat mich aber von Anfang an gefördert, auch schon, als ich in der Jungen Union war, und auch ... mein Wunsch war ja langfristig, in die Außen- und Sicherheitspolitik zu gehen, das war damals nicht so ganz einfach. Heute werden manche außenpolitische Sprecher ohne jede Erfahrung ... Mich hat es sechs Jahre gekostet, um stellvertretendes Mitglied des Auswärtigen Ausschusses zu werden 1982 dann.

    Also ich glaube, im persönlichen Gespräch war er sehr gewinnend, hat Perspektiven aufgebaut und mir auch Chancen gegeben. Also ich war stellvertretender Fraktionsvorsitzender, ich war mit ihm zusammen bei Deng Xiaoping, was weiß ich, mit sechs, acht Leuten, und bei Reagan im kleinen Kreis auch. Und deswegen waren das in den 80er-Jahren, als ich stellvertretender Fraktionsvorsitzender war, zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik, die Chance, auch hier zu einer Neuorientierung zu kommen, denn die CDU war ja auch etwas wie festgefahren durch ihr Nein zu den Verträgen, zum Teil einige ... die Enthaltungen im Warschauer Vertrag.

    Und insofern hat er mir eine große gestaltende Rolle gegeben aus der Fraktionsführung heraus, und auch Jahre des Lernens und der Erfahrung, die mir dann später geholfen haben. Das alles, ja, wahrscheinlich im Hinblick auf das, was er mir zugetraut hat, aber nicht so, wie das heute häufig ist, dass man halt Leute fördert, die große Landesverbände hinter sich haben und im Prinzip auch Leute fördert, die einem selbst nicht gefährlich werden können. Das war, glaube ich, immer eine große Stärke von Helmut Kohl, auch Leute reingebracht zu haben, die vielleicht irgendwann später auch mal gesagt haben, was der kann, kann ich auch, und dann zum Rivalen vielleicht geworden sind, Biedenkopf und Geißler und Weizsäcker und andere. Aber er hat es trotzdem gemacht. Das gibt es heute viel zu wenig.

    Detjen: War das dann am Ende eben doch wieder das machtpolitische Kalkül eines Kanzlers, eines Parteivorsitzenden, der seine Partei wirklich bis in die tiefsten Verästelungen herein gekannt und auch beherrscht, durchherrscht hat?

    Rühe: Ja, nicht nur Kalkül, er hat schon gespürt, dass man ...

    Detjen: Oder hat das auch ihrer Sicht bedeutet, dass man es auch eine Orientierungs…

    Rühe: Er brauchte eine neue Generation von Außenpolitikern, Werner Marx war der Chef damals, und es war so eine ganze Riege, wie gesagt, ich konnte noch nicht mal stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss werden, sechs Jahre lang, bis Olaf von Wrangel, der dann später mal mein Freund wurde, seinen Platz geopfert hat. Und Manfred Wörner, der verteidigungspolitische Sprecher, hat gesagt, Olaf, bist du verrückt geworden, den Platz freizugeben? Das heißt, das war eine vernagelte Welt. Und das war eine Garde aus der Vergangenheit, die auch in der Tradition der Ablehnung der Ostverträge stand. Und Helmut Kohl wusste, wenn wir regieren, dass wir hier auch zu einer Neuerung kommen würden, und deswegen war das kein reines Machtkalkül. Macht hatte ich überhaupt nicht.

    Detjen: Ganz anderes Standing, ganz andere Reputation der Außenpolitik, der Außenpolitiker im Bundestag, das Sie da schildern, als es heute der Fall ist, oder?

    Rühe: Ja, natürlich. Ich meine, damals war die Außenpolitik Schicksalsfrage des geteilten Landes Deutschland. Aber sie ist heute auch noch wichtig genug, was die zukünftigen strategischen Ausrichtungen angeht. Aber eigentlich muss man als Außenpolitiker wachsen, über Jahrzehnte muss das aufgebaut werden.

    Detjen: Sie galten als Außenpolitiker immer als Transatlantiker, und wenn man danach sucht, wo das herkommt, dann führt das zurück in die früheren Jahre Ihrer Biografie. Sie waren 1960 Austauschschüler in England, das war der erste Kontakt zur angelsächsischen Welt. Ich habe mal gelesen, der erste deutsche Austauschschüler in England überhaupt nach dem Krieg?

    Rühe: Das weiß ich nicht, aber ich war Hurstpierpoint College und der erste jedenfalls von meiner Schule, Friedrich-Ebert-Gymnasium, in Harburg, das war ein völlig neues Programm, und damals hat man Deutschland ja noch sehr misstrauisch gesehen. Und ich war der einzige Ausländer dort unter lauter englischen Jungs, so war das damals noch, und ich habe nicht nur Englisch gelernt, sondern auch Rugby, und immer wieder gesagt, beides hat mir in der Politik geholfen, wobei Rugby nicht bedeutet, anderen Schmerzen zuzufügen, sondern Schmerzen ertragen zu können in dieser harten Auseinandersetzung. Nein, das hat mich sehr geformt. Ich wollte dann irgendwann mal Botschafter in England werden, war so mein Traumjob, aber später habe ich dann doch gesehen, dass man als Politiker noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten hat.

    Detjen: Wichtiger als Politiker war dann die Orientierung hin in die USA. Wie kam der Kontakt in die USA für Sie zustande?

    Rühe: Ich habe in Hamburg studiert, übrigens, was für Politiker damals ungewöhnlich war, Literaturwissenschaften, also Germanistik, Anglistik, Amerikanistik, Professor Kleinstück. Und dann habe ich irgendwann einen Anschlag gesehen, dass man kostenlos in die USA fliegen kann – ich hatte überhaupt kein Geld – und dann da drei Monate in so Summercamps arbeiten kann und dann auch noch einen Monat Rundreise in Amerika. Und da habe ich mich beworben und habe dann drei Monate in New York State bei "Big Gipsy" in so einem Summercamp gearbeitet, was sehr prägend war, 1963, Kennedy war noch Präsident. Das waren lauter Kinder aus Harlem, überwiegend Schwarze, Puerto-Ricaner, die gar keine Familien hatten, wir hatten einen 15-jährigen Mörder dabei, und auf der Busfahrt von New York City nach Camp Sharparoon, so hieß das, haben wir ihnen erst mal die Waffen abgenommen. Aber die Amerikaner, die das gemacht haben, die Studenten, die wie ich Councillor waren – das waren Idealisten, und die haben mich unglaublich beeindruckt. Und da habe ich Amerika sozusagen erlebt auch von der idealistischen Seite, mit all den Rassenproblemen, die es damals noch gab, manche meiner Freunde, die sind dann in den Süden gegangen und haben versucht, die Segregation zu überwinden, sind selbst in schwierige Situationen gekommen. Und seitdem bin ich über 100 Mal in den USA gewesen.

    Detjen: Das war ja dann eine Zeit, und Ihre Studienzeit führt dann bis in dieses bedeutende Jahr 1968 rein, in der Amerika Ihre Generation auch gespalten hat. Da Ihre sind Generationsgenossen in Scharen auf die Straße gegangen gegen Amerika. Und Sie sind in die Junge Union gegangen. Was war das für eine Erfahrung?

    Rühe: 1963 schon, und vor allen Dingen auch wegen der Europapolitik, die SPD war damals ja noch kritisch, aber ich habe auch für die Amerikaner demonstriert auf der Straße, was Vietnam angeht. Aber ich habe daraus auch gelernt im Hinblick auf spätere Dinge, denn die Argumentation war ja damals Dominosteine, also wenn Vietnam fällt, dann fällt auch Berlin. Und sozusagen der Zusammenhang mit der deutschen Frage war da, und das war natürlich Unsinn, denn man hat völlig unterschätzt den Konflikt zwischen Vietnam und China, etwa dann auch den Konflikt zwischen China und der Sowjetunion, der sich anbahnte. Aber ich war relativ unkritisch pro-amerikanisch zu dem Zeitpunkt.

    Detjen: Wann kam dann die Kritikfähigkeit dazu?

    Rühe: Im Laufe der Jahre, und ich habe später ja auch gesehen, dass die Amerikaner von ihren wirklichen Freunden auch erwarten, dass sie Kritik äußern. Also ich war zum Beispiel sehr kritisch gegenüber dem Irakkrieg, viel kritischer als Angela Merkel, als wir noch in der Opposition waren, habe eher mal, von den Methoden abgesehen, die Schrödersche Position geteilt. Und das haben sie mir nie übel genommen. Das gehört auch zu guten Freunden, dass man Kritik äußert.

    Detjen: Haben Sie sich damals, Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre als Konservativer empfunden?

    Rühe: Nein, ich war zwar so auch, glaube ich, mal Chef einer Jugendorganisation, christlich-demokratische und konservative Jugendorganisation - nein, eigentlich eher als liberaler Großstadtpolitiker aus Hamburg mit großem außenpolitischen Interesse, aber nicht konservativ in dem Sinne, alles zu bewahren, nein, das war was, was eigentlich nicht so besonders auf mich gepasst hat.

    Deutschlandfunk – das "Zeitzeugen"-Gespräch. Heute mit Volker Rühe, dem ehemaligen Bundesminister der Verteidigung

    Rühe: Europa muss einfach sehen, dass es sein Gewicht in der Weltpolitik nur dann entfalten kann, wenn es mit Amerika zusammen handelt, wo immer das möglich ist.


    Oppositionszeiten, frühe Kontakte nach Osteuropa und die neue Rolle der USA

    Detjen: Sie haben eben schon erzählt, dann 1976: Sie kamen in den Bundestag, wurden da Außenpolitiker und da bestand Reformbedarf in der außenpolitischen Orientierung der CDU, die eben ja damals sich profiliert hat hauptsächlich in der Opposition, gegen die Ostpolitik Willy Brandts.

    Rühe: Ja, aber es war dringend notwendig, dieses zu verändern, es gab damals, ich glaube, die Presse hat die Schlagzeilen gemacht, die Stahlhelme gegen die Genscheristen, und ich wurde da als Genscherist bezeichnet. Aber ich habe ...

    Detjen: Mit dem Sie später viel kritischer ins Gericht gegangen sind.

    Rühe: Ja, aber auch ... Natürlich, wo es notwendig war, das ist richtig. Aber die Erneuerung war unbedingt notwendig für die CDU, wenn sie erfolgreich regieren wollte. Und was mich sehr beeindruckt hat: Ich war auch schon Anfang der 70er-Jahre in Polen, ab also 1971 im ganzen Land unterwegs, habe die Kraft des Landes gespürt, und das habe ich sehr systematisch fortgesetzt, eben auch, als dann die Solidarnosc kam. Und das hat mir geholfen. In den 80er-Jahren habe ich schon, ´85 als stellvertretender Fraktionsvorsitzender mal eine Rede im Bundestag gehalten, wo ich gesagt habe, dass, wenn Deutschland wiedervereinigt wird, dann wird die Ostgrenze die Oder-Neiße-Grenze, und dass es eine politische Bindungswirkung des Warschauer Vertrages für ein wiedervereinigtes Deutschland gibt, keine rechtliche, aber eine politische. Da schlug mir geballter Hass in der Fraktion entgegen.

    Detjen: Aus den Vertriebenenverbänden, auch sehr stark damals natürlich …

    Rühe: Ja, aber auch über die hinaus in der Fraktion, Strauß hat sogar meinen Ausschluss gefordert. Da hat der Helmut Kohl mich immer auch geschützt in der Situation, auch wenn er dann schwierige Auftritte bei den Schlesiern hatte. Aber für mich ist ...

    Detjen: Und Ihr Fraktionsvorsitzender war Alfred Dregger, der Vertreter der Vertriebenenverbände.

    Rühe: Ja, sicher, der war auch auf einer anderen Linie, aber ich habe sehr früh gespürt durch Enge, ich habe auch Kontakte im Untergrund mit der Solidarnosc gehabt und mit Onyszkiewicz, der dann später auch Verteidigungsminister wurde, haben wir uns getroffen im Untergrund, er war mehrfach im Gefängnis, und gespürt: Die waren für die deutsche Wiedervereinigung, solange die Grenzfrage geregelt ist. Denn die DDR versperrte ihnen den Zugang zum demokratischen Westen. Und deswegen war diese Zeit in den 80er-Jahren, die ich eben ohne ein Staatsamt genutzt habe, um intensive politische Kontakte, eben nicht nur nach Amerika, sondern auch nach Polen und auch schon nach Russland zu pflegen, eine ganz wichtige Grundlage für die Entwicklung meiner politischen, außenpolitischen Überzeugungen.

    Detjen: Sie haben jetzt erzählt Ihre Beobachtungen, Ihre Erfahrungen mit der polnischen Bewegung, dann kam Gorbatschow in Russland, und von Ihnen sind auch die Äußerungen überliefert, die davor warnten, Gorbatschow zu überschätzen, die Kraft seiner Reformbewegung zu hoch zu bewerten. War das eine Fehleinschätzung aus heutiger Sicht?

    Rühe: Das weiß ich nicht, zu welchem Zeitpunkt ich das gesagt hatte und aus welchem Anlass. Aber für mich waren sehr viel stärker und sehr viel wichtiger die Veränderungen in Polen, aber auch in Prag. Ich habe mich auch mit der Charta-Bewegung getroffen, als ich Helmut Kohl auf einen offiziellen Besuch nach Prag begleitet habe, und in Ungarn die Kontakte zu den Reformkräften, Gyula Horn etwa, auch schon Mitte der 80er-Jahre, und anderen in der kommunistischen Partei, und die haben die eigentlichen Veränderungen herbeigeführt. Gorbatschow, ich glaube, habe ich dann auch 1988 kennengelernt, als ich wiederum noch als stellvertretender Fraktionsvorsitzender dann mit dem Bundeskanzler in Moskau war.

    Detjen: Damals hat sich abgezeichnet, dass sich die Welt neu ordnen würde, und das hat ja dann auch – und das sehen wir heute deutlicher als je zuvor – unser Verhältnis zu Amerika berührt, der Typus des Transatlantikers, wie Sie ihn verkörpern, den gibt es heute gar nicht mehr, nicht mehr in Deutschland, nicht in Europa, und wir sehen ja auch, wie sich Amerika gerade jetzt unter Obama von Europa wegwendet, hin zu den pazifischen Räumen wendet. Was bedeutet dieser Wandel für Sie, für Deutschland, für Europa?

    Rühe: Ja, aber das, was Sie "wegwenden" nennen, das ist ja eigentlich eine Normalisierung. Die Amerikaner haben natürlich eine entscheidende Rolle im Kalten Krieg gespielt, unsere Sicherheit zu erhalten, und auch die Wiedervereinigung wäre ohne die Präsenz der Amerikaner in Europa gar nicht erreichbar gewesen. Auch im West-West-Verhältnis hätten sich viele unbehaglich gefühlt mit einem zu starken, wiedervereinigten Deutschland, wenn nicht die Amerikaner auf dem Kontinent gewesen wären. Und ich glaube, dass letztlich auch die Russen dann ihr "Ja" zu einem wiedervereinigten Deutschland in der NATO gegeben haben wegen dieser amerikanischen Rolle und der Einbindung Deutschlands. Und man muss jetzt einfach in die Zukunft schauen und sehen, dass sozusagen – das hat ja mal der erste Generalsekretär der NATO gesagt: Die NATO ist dazu da, die Russen rauszuhalten, die Amerikaner in Europa zu halten und die Deutschen niederzuhalten –, dass das so nicht mehr stimmt. Das braucht man ja nicht weiter zu erklären, aber dass wir trotzdem im 21. Jahrhundert dafür sorgen müssen, dass Amerikaner und Europäer auf neue Weise zusammenarbeiten, das ist, glaube ich, wichtig für die Weltpolitik, auch wenn die Gewichte sich in Richtung Osten, Asien, verschieben. Und hier haben die Europäer aus meiner Einschätzung und auch das wiedervereinigte Deutschland also noch Schwierigkeiten, diese neue Rolle anzunehmen.

    Detjen: Aber ist es nicht so, dass wir gerade jetzt auch im Zeichen der Finanzkrise sehen, dass da Differenzen sind zwischen einer angelsächsisch geprägten Welt und einer kontinentaleuropäischen Welt zwischen einer angelsächsisch geprägten Welt und einer kontinentaleuropäischen Welt, die weit über die geostrategischen Interessen, die Sie jetzt geschildert haben, hinausgehen, nämlich die kulturelle Unterschiede sind, die sich jetzt eben manifestieren – in unterschiedlichen Auffassungen über Finanzökonomie, über die Haushaltspolitik?

    Rühe: Die hat es auch in den 70er-Jahren gegeben, da hat es auch Auseinandersetzungen gegeben im Bereich der Finanzpolitik und der Wirtschaftspolitik. Aber das Entscheidende ist, dass wir doch überwiegend ganz überragend gemeinsame Interessen haben in der Weltpolitik, dass wir Demokratien sind, die die Wertesysteme teilen. Und ich meine, auch schon mit England gibt es natürlich unterschiedliche Auffassungen, auch in der Finanzpolitik, aber Europa muss einfach sehen, dass es sein Gewicht in der Weltpolitik nur dann entfalten kann, wenn es mit Amerika zusammen handelt, wo immer das möglich ist, und im Übrigen wenn es auch nicht abkommt von dem Weg der europäischen Einigung. Und das ist das, was man eigentlich sehen muss. Politiker reden davon, von mehr Europa, um die Probleme zu lösen, aber ich fürchte, wenn man das zur Abstimmung stellen würde, würde man all diese Abstimmungen verlieren, weil die Stimmung im Lande sich ganz anders entwickelt hat und nicht nur in Deutschland.

    Heute im "Zeitzeugen"-Gespräch: der ehemalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe

    Rühe: Ich glaube, dass die SPD deswegen verloren hat, weil sie nicht glaubwürdig für die Wiedervereinigung war, mit Ausnahme von Willy Brandt.


    Generalsekretär in Zeiten der Wiedervereinigung und der gesamtdeutsche Weg der CDU

    Detjen: Herr Rühe, das Jahr 1989 wurde, noch bevor es zur welthistorischen Zäsur wurde, ein Wendepunkt in Ihrer Berufsbiografie. Im Frühjahr, ich glaube, im April 1989 hat Helmut Kohl Sie vorgeschlagen als neuen Generalsekretär der CDU. Das war eine Zeit, wo die Ära Kohl schon für viele fast wie eine Endzeit wirkte. Auf dem Parteitag im September kam es dann zu einem Putschversuch, Geißler spielte da eine Rolle, Spät. Was haben Sie sich in der Phase, bevor die Mauer fiel, von Kohl noch erwartet?

    Rühe: Zunächst einmal: Vorgeschlagen hat er mich Ende August ´89, aber er hat mit mir schon im Juni vor der Sommerpause geredet, und wir haben das aber zwei Monate lang geheim halten können, und mich gefragt, ob ich bereit wäre, dies zu machen, und ich habe dann zugestimmt, obwohl ich eigentlich mich mehr als Parlamentarier verstanden habe und ich nie daran gedacht habe, Generalsekretär der Partei zu werden. Und ich glaube, dass sein Konflikt mit Heiner Geißler offensichtlich war, aber er verhindern wollte, dass das als eine Richtungsänderung verstanden wurde. Und das war einer der Gründe, warum er mich angesprochen hat, weil bei mir ja niemand sagen konnte, ja, also das ist die Hinwendung zum Konservativen und die totale Wegwendung ... Ich war zwar nicht Sozialpolitiker wie Heiner Geißler, aber wie ich schon glaube, stehe ich ja für die Großstadt-CDU und liberale Politik. Ich habe zugesagt aus der Verbundenheit heraus mit Helmut Kohl, ohne zu wissen, dass dann völlig neue Bedingungen kommen mit der deutschen Einheit. Und man muss ja im Nachhinein auch sagen: Wenn es nicht zu der Wiedervereinigung gekommen wäre, sondern zu den normalen bundesrepublikanischen Wahlen 1990, dann hätte Helmut Kohl und die CDU/CSU wahrscheinlich die Wahlen verloren gegen Oscar Lafontaine, trotz des Generalsekretärs Volker Rühe. Das hätte ich auch nicht verhindern können. Und für mich war ...

    Detjen: Aber das war die Perspektive, die Ihnen auch vor Augen stand?

    Rühe: Ja, aber ich war da auch irgendwie pflichtbewusst, und ich meine, Helmut Kohl hat ja auch so viel für mich gemacht, für meine Entwicklung, dass ich gar nicht nein sagen konnte. Und für mich war es natürlich auch ein Glücksfall. Als Außenpolitiker aber auch Deutschlandpolitiker war ich auch zuständig für die Beziehungen zwischen den damals beiden deutschen Staaten als stellvertretender Fraktionsvorsitzender, dass ich sozusagen nicht den klassischen Generalsekretär in Normalzeiten spielen musste, denn nun besonders auszuteilen und polemisch einseitige Positionen zu vertreten, das war nicht so meine Sache.

    Detjen: Der Fall der Mauer, der 9. November hat ja dann alle politischen Agenten verändert. Sie sind angetreten zunächst mit dem Anspruch, mit dem Ziel, die CDU zu erneuern. Dann kam eben eine ganz neue Aufgabe. War es eigentlich, wenn man noch mal vorausgreift, dann am Ende erst eine viel spätere Generalsekretärin Angela Merkel, die dann zunächst als Generalsekretärin und auch später dann als Parteivorsitzende die Erneuerung der CDU wirklich eingeleitet und umgesetzt hat, die Ihnen, weil Sie sich eben auch als einen urbanen, liberalen Politiker geschildert haben, damals schon vor Augen schwebte?

    Rühe: Also das würde ich so nicht sagen. Ich meine, die Vereinigung von zwei Parteien, die ganz unterschiedlich waren – und ich habe ja damals dafür gekämpft, eben nicht nur mit der Ost-CDU zusammen zu regieren und habe mir den Hass eingetragen, ich habe freiwillig ... ich habe den Notar ins Kanzleramt kommen lassen, wir haben freiwillig auf 40 oder 50 Millionen Vermögen, schöne Häuser in Ostberlin und Hotels und andere der Ost-CDU verzichtet, weil mir klar war, dass das die neue, die gesamtdeutsche CDU belasten würde, wenn wir hier nicht einen Schlussstrich ziehen. Das waren ganz harte Auseinandersetzungen, und gut, ...

    Detjen: Trotzdem hat die CDU natürlich eine enorme politische Beute durch die Integration der Ost-CDU gemacht.

    Rühe: Ja, aber es wäre verhängnisvoll gewesen, wenn wir uns auf die Ost-CDU beschränkt hätten, nicht? Manche, die ich dann ja auch kennengelernt habe, die haben die Mitgliedschaft dort benutzt, um nicht in die SED eintreten zu müssen, aber es hat auch viele in der Ost-CDU gegeben, die besonders regimetreu gegen Gegner und Dissidenten vorgegangen sind. Also das war glaube ich schon eine ganz wichtige Rolle, dort deutlich zu machen, ... Und das ist nicht immer von Helmut Kohl unterstützt worden, am Anfang ja und später nein, also da gab es auch manche einsame und schwierige Stunden, harte Auseinandersetzungen. Aber ich glaube, dass es nicht so erfolgreich gewesen wäre, dieses Zusammenwachsen, wenn wir schlicht und einfach ohne viel Selbstkritik uns mit der Ost-CDU vereint hätten.

    Detjen: Aber noch mal: Die Möglichkeit der CDU, eine komplette Blockpartei zu integrieren mit ihren Mitgliedern, mit einem großen Teil ihres Vermögens, mit der Parteiinfrastruktur, hat natürlich die ...

    Rühe: Nein, nein, Vermögen haben wir nicht übernommen, sondern ich habe ja gesagt, wir haben auf alles verzichtet, was die Ost-CDU an ... wir haben schon versucht, hier einen wirklichen Neuanfang zu machen. Das hat nicht allen gepasst.

    Detjen: Aber da war doch sehr viel Infrastruktur da, einfach durch Mitglieder, durch Organisation, auf die Sie sich stützen konnten und die ja die politischen Wettbewerbsbedingungen aus Sicht der SPD mit guten Gründen ja verzerrt hat damals, und die SPD hat einen hohen Preis bezahlt dafür.

    Rühe: Ich glaube, dass die SPD nicht deswegen verloren hat, sondern weil sie nicht glaubwürdig für die Wiedervereinigung war in der Situation, mit Ausnahme von Willy Brandt. Sie brauchen ja nur sich daran zu erinnern, wie Lafontaine und andere eigentlich mehr Sympathien für gewisse Gegenden in Norditalien deutlich gemacht haben und dass die Wiedervereinigung nicht ihr Herzenswunsch war. Ich glaube, dass das der Grund war, warum dann auch in den ersten Wahlen im März 1990 die CDU zu dem Erfolg gekommen ist. Aber natürlich ist die Ost-CDU dort auch gewählt worden, gemeinsame Liste mit den neuen Bewegungen, aus der ja auch Angela Merkel kam, demokratischen Aufbruch, weil man sich versprochen hat, eben unter der Führung von Helmut Kohl, der ganz klar für die Wiedervereinigung stand, eben möglichst schnell zu gemeinsamen Lebensverhältnissen zu kommen.

    Rühe: Das kann sehr unmoralisch sein, Soldaten einzusetzen, das kann aber auch sehr unmoralisch sein, Soldaten nicht einzusetzen.


    Verteidigungsminister im wiedervereinigten Deutschland, Auslandseinsätze und die Rolle von Bündnisverpflichtungen

    Detjen: Für Sie gab es 1992 die nächste Zäsur, den nächsten Schritt in der Berufsbiografie: Kohl berief Sie als Bundesverteidigungsminister als Nachfolger von Gerhard Stoltenberg auf die Hardthöhe ins Bundeskabinett. Hatten Sie sich das erträumt oder war das einfach eine, auch im Rückblick, glückliche Fügung in Ihrer Biografie?

    Rühe: Befürchtet, befürchtet hatte ich das. Gerhard Stoltenberg, mit dem ich ja auch befreundet war, der wurde sogar mein Vorbild auch, war als norddeutscher Politiker, der hatte mich schon während seiner Amtszeit, als es gar keine Probleme gab, immer mal angesprochen, ich müsste sein Nachfolger werden. Da habe ich immer gesagt, um Gottes Willen, das traue ich mir nicht zu. Und das Komische ist, ich habe, als ich Generalsekretär wurde, eigentlich doch eine ganze Zeit gefremdelt mit dem Job, habe auch nächtelang nicht geschlafen, weil ich mich nicht identifizieren konnte, bis dann sozusagen das Thema der Wiedervereinigung kam. Aber Verteidigungsminister, wo ich einen Heidenrespekt hatte vor dem Job und nun wusste, wie schwierig der war, riesige Organisation zu führen, habe ich eigentlich von der ersten Minute an gewusst, was ich wollte, nachdem ich das war, und das dann auch umgesetzt und mich total identifiziert. Und ich habe eigentlich viel weniger schlaflose Nächte gehabt, als ich die als Generalsekretär gehabt habe, und insofern war das wirklich eine gute Fügung.

    Und nachdem ich zwei Parteien zusammenfügen konnte, Deutschland West und Ost auch zwei Armeen zusammenzuführen, dort nachzusteuern, auch wirklich zu investieren, mit Führungseinrichtungen in Ostdeutschland Bundeswehr für Auslandseinsätze zu öffnen ... denn man muss ja sehen: Als ich das erste Mal in Amerika war als Verteidigungsminister, habe ich gespürt, wie wir an den Rand des Bündnisses gelangt waren, weil wir bei den neuen Einsätzen nicht zur Verfügung standen, hab ich mir geschworen, kommst du nie wieder nach Washington, bevor nicht diese Dinge in Angriff genommen wurden. Und ich habe gerade in den letzten Tagen gesehen, es ist ein Buch erschienen vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt über die Luftbrücke nach Sarajevo. Dort können Sie auch die Widerstände sehen, das war im Sommer 1992, zwei, drei Monate nach meinem Amtsantritt. Und ich habe einfach in einer bestimmten Lage, wo auch die Luftwaffe sich geweigert hatte, weiterzufliegen, angeordnet: Ihr fliegt, wann immer die anderen fliegen im Bündnis. Und als die dann gesagt haben, das sind wir nicht gewohnt, habe ich ihnen einfach gesagt, wo ich gerade drei Monate im Amt war: Ihr müsst euch halt dran gewöhnen. Und dadurch ist Deutschland in das Herz des Bündnisses zurückgekehrt, weil wir deutlich gemacht haben: Wir tragen dasselbe Risiko wie die Italiener, die Franzosen, die Engländer, die Kanadier.

    Detjen: Das war ja ein sehr umfassender Wandel, den Sie da gestalten mussten. Da ging es um Reorganisation der Bundeswehr, da ging es um drastische Budgetkürzungen, um Sparen, es ging aber auch um einen Mentalitätswandel, eben Deutschlands Rolle im Bündnis, Deutschlands Rolle als Militärmacht neu zu definieren. Was war eigentlich das Schwierigste von diesen Feldern?

    Rühe: Also ich glaube, dass es gut war: Ich war und bin immer Außenpolitiker gewesen, also sagen wir mal das Innere des Panzers, das hat mich nicht so sehr interessiert. Und in militärischen Einzelheiten – ich habe starke Leute auf der Hardthöhe versammelt, aber ich habe dann im Grunde genommen so drei Linien vollzogen, einmal wirklich eine faire, gesamtdeutsche Armee zu schaffen, ich habe Führungseinrichtungen eben nach Dresden, Heeresoffiziersschule geschaffen, wo hervorragende Gebäude in Hannover und München waren – freiwillig wollte nur die Hundeführerstaffel-Ausbildung aus dem Westen verlagert werden, alles andere musste einfach hart durchgesetzt werden, habe ich auch geschafft gegen viele Widerstände –, bis hin zum Militärgeschichtlichen Forschungsamt, die wollten nicht nach Potsdam, weil sie sagten, dort kommen wir unter den Einfluss des Preußentums. In Wirklichkeit gefiel es ihnen am Kaiserstuhl so gut und die hatten die Unterstützung örtlicher Politiker wie auch Wolfgang Schäuble. Und ich habe einfach die Möbelwagen bestellt und die sind umgezogen, und heute sind sie sehr glücklich in Potsdam und die Forschungen leiden also nicht unter der Nähe zu dem Preußentum. Und das Zweite waren die Auslandseinsätze: Kambodscha war der erste. Und da habe ich gleich das Gespräch mit Hans-Ulrich Klose gesucht, den ich aus Hamburg kannte, weil ich wusste: Das muss man in kleinen Schritten machen und möglichst mit der Unterstützung der Sozialdemokraten. Und er und Engholm haben das auch unterstützt, es war ein Blauhelm-Einsatz. Und dann kam Somalia und dann auch Bosnien.

    Detjen: Es hat Ihnen aber auch Kritik in den eigenen Reihen zugetragen bis hin zu der Mutmaßung, Rühe strebt eigentlich eine große Koalition an. War da was dran? Kamen Sie mit denen besser zurecht als mit manchen Leuten in den eigenen Reihen?

    Rühe: Nein, nein, nein, überhaupt nicht in der Situation was die Bundeswehr angeht und Auslandseinsätze angeht. Ich glaube, ich habe mir noch Briefe aufbewahrt, also von Frauen, deren Männer in Somalia waren und die dann ständig in der Zeitung lesen mussten, ... es gab ja dann die Prozesse in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht, ...

    Detjen: Ja, auch aus der Regierung mit angetrieben. Und die FDP hat mit geklagt gegen [unverständlich] aus der Bundesregierung.

    Rühe: Die FDP hat gegen ... Genau, genau, genau. Und ... völlig richtig, habe ich auch nicht vergessen, wie kurzsichtig dieses war. Man schuldet es einfach Soldaten im Einsatz, die das Risiko tragen, ihr Leben zu verlieren, einen möglichst großen Konsens zu haben. Das war eine Überzeugung, hat mit der Großen Koalition überhaupt nichts zu tun gehabt. Und noch einmal: Wir haben Deutschland in das Herz des Bündnisses zurückgeführt. Ich habe damals ... bin ja auch vors Gericht gezogen worden von der SPD und der FDP, weil ich die deutschen Soldaten an Bord der AWACS-Aufklärungsflugzeuge belassen habe. Das war auch das einzig Richtige, gemeinsame Instrumente nicht einseitig zu verlassen. Ich hätte mir nie vorgestellt, wenn 20 Jahre später eine CDU-geführte Regierung Soldaten aus den AWACS-Maschinen abzieht, ... Das zeigt eigentlich, dass man nicht begriffen hat, wie wichtig dass ist, eben rein nationale militärische Verteidigung zu überwinden, und deswegen muss man die Instrumente, die man gemeinsam betreibt, die müssen wir ausweiten, und da muss aber auch Verlass sein auf Deutschland, dass man dann nicht, wenn es ernst wird, diese verlässt. Und diese Linie, die haben wir mit dem Team auf der Hardthöhe schon vor 20 Jahren durchgesetzt.

    Detjen: Und da kommen wir ja heute wieder an verfassungsrechtliche Grenzen: Das AWACS-Urteil, das damals in Ihrer Zeit erstritten worden ist, hat die Bundeswehr als Parlamentsheer definiert, jeder Einsatz muss vom Parlament genehmigt werden. Heute tritt die Bundesregierung mit Angela Merkel vor den Bundestag und sagt, darüber muss mal gesprochen werden, und die Bundesregierung, die Bundesrepublik steht im Bündnis da als eine Armee, die durch diesen massiven Parlamentsvorhalt gebremst wird in ihrer Bündnisfähigkeit.

    Rühe: Das sehe ich gar nicht so. Ich meine, es ist ja nicht das Parlament gewesen, was die deutschen Soldaten aus den AWACS-Flugzeugen im Zusammenhang mit dem Libyen-Einsatz abgezogen hat, es war die Regierung. Es ist auch nicht das Parlament gewesen, ... Natürlich war es ein Fehler, schwerer Fehler, und es war die Regierung, die die Solidarität vor allen Dingen mit den europäischen Verbündeten, Engländern und Franzosen, mit denen wir gemeinsame Systeme aufbauen müssen in der Zukunft, ... Das war nicht das Parlament. Und deswegen: Wenn man was für richtig hält als Regierung, dann muss man sich auch zutrauen, ins Parlament zu gehen und dafür die Unterstützung zu bekommen.

    Detjen: Aber das ist ja was, was Deutschen vorgehalten wird, auch von den Bündnispartnern: Ihr habt da so ein kompliziertes System, dauernd muss da das Parlament gefragt werden und dann gibt es da noch ein Verfassungsgericht, das sowieso kein Mensch im Ausland versteht.

    Rühe: Ich sehe das nicht so. Das Problem ist die Regierung gewesen. Und eine Regierung, die ins Parlament geht und sagt, wir müssen jetzt solidarisch sein mit Engländern und Franzosen und die sich nicht durchsetzt – ja, gut, die hat halt ihre Mehrheit und ihre Gestaltungskraft verloren. Was problematisch ... Also es ist eigentlich auch eine Stärke, wenn man das Parlament dann hinter die Soldaten bringt. Was übertrieben ist: dass das Parlament sich in Einzelheiten einmischt, dass sie auf dem Feldherrenhügel mitmischt. Dann hat es auch gar keine Kontrollmöglichkeit mehr. Also wenn Sie als Parlament nun im Einzelnen festlegen, ob da nun 13 oder 15 Soldaten da oder dort sein müssen – wie wollen Sie dann noch eine Regierung kontrollieren, wenn Sie selbst sich aktiv daran beteiligen? Aber im Prinzip ist es falsch, zu sagen: Das Parlament ist das Problem. Also das kann so bleiben, die Parlamentsarmee – aber eine Regierung muss auch führen, die muss vorangehen. Und das haben wir damals gemacht, und wir haben Mehrheiten etwa für den Einsatz in Bosnien bekommen, die dann später auch zu einem Umdenken bei den Sozialdemokraten und vor allen Dingen auch bei den Grünen geführt hat, denn ich habe damals auch, als es um Bosnien ging, deutlich gemacht: Das kann sehr unmoralisch sein, Soldaten einzusetzen, es kann aber auch sehr unmoralisch sein, Soldaten nicht einzusetzen. Und was ich vermisse, ist, dass in der jetzigen Situation dieser Mut da ist, voranzugehen und das zu begründen im Parlament. Ich glaube, dass man das Parlament gewinnen kann für die notwendigen Einsätze im Interesse Deutschlands und auch des Bündnisses, und wenn man das nicht mehr kann, dann hat man auch nicht verdient, zu regieren.

    Rühe: Man braucht in der Politik immer Gewichte und Gegengewichte.


    Außenpolitik mit und ohne Kompass, die Rolle von Angela Merkel und die Endstation: Parteispendenaffäre

    Detjen: Helmut Kohl hat in diesem Jahr nach der Diskussion um den Libyen-Einsatz und die Nichtbeteiligung Deutschlands daran in einer Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik einen sehr kritischen Aufsatz über die deutsche Außenpolitik geschrieben und mit Blick auf diese Entscheidung gesagt: Deutschland hat den Kompass verloren in der Außenpolitik.

    Rühe: Völlig richtig, ja. Ich habe mich auch sehr massiv geäußert, und ich weiß, dass viele der Beteiligten das inzwischen auch selbstkritisch sehen. Aber es ist gar nicht mal so, dass man anderer Meinung ... Man darf, kann anderer Meinung sein als die Amerikaner, aber die Franzosen und Engländer ... wenn wir wegkommen wollen von rein nationalen Armeen – und das müssen wir, denn alles andere ist gar nicht bezahlbar –, wenn wir gemeinsame Waffensysteme haben wollen, wenn wir auch den Luftraum anderer schützen, wenn wir vielleicht U-Boot-Flotten zusammenlegen, dann muss aufeinander Verlass sein, und deswegen sehe ich das sehr kritisch, diesen deutschen Sonderweg, den es gegeben hat. Man muss unter Europäern …

    Detjen: Aber war das ein Einzelfall, oder hatte das tieferliegende Ursachen, dieser Begriff "Deutschland hat den Kompass verloren" von Helmut Kohl weist ja darauf hin: Da ist eine grundsätzliche Orientierungsschwierigkeit.

    Rühe: Ich glaube, dass einfach in der Regierung keine Leute waren, die gewarnt haben. Ich habe Mitte der 90er-Jahre für Einsätze Mehrheiten bekommen, die damals sehr schwer durchzusetzen waren. Und meine Vorstellung war eigentlich, wir machen das in kleinen Schritten, aber 20 Jahre später machen wir dasselbe wie die Engländer und die Franzosen. Und man muss eben sehen: Wir zerstören Europa, wenn wir nicht dasselbe machen. Wir hätten auch eine ganz andere Europabezogenheit der Menschen heute, wenn es um den Euro geht, wenn die Menschen sehen würden, dass wir in der Verteidigung sozusagen positiv voneinander abhängig sind. Wir werden niemals gegeneinander Krieg führen mehr, wenn wir angegriffen werden als Europäer, können wir nicht uns alleine wehren, und von daher spricht alles dafür, eben dieses auszubauen, die gemeinsamen Systeme, und die darf man dann nicht verlassen in einer kritischen Situation. Und deswegen hoffe ich, dass dieser Kompass der deutschen Europapolitik, das ist das eigentlich ... Wenn man die Währung teilt, teilt man ein Schicksal, das sehen wir ja jetzt, wie schwierig das ist. Aber warum ist es dann möglich, in Fragen von Leben und Tod sozusagen Sonderwege zu gehen und zu sagen, was die Engländer und Franzosen da machen, das geht uns nichts an oder das ist falsch? Das ist wirklich ein Mangel an Kompass gewesen.

    Detjen: Die Fragen, die Sie jetzt aufwerfen, die Kritik dieser Kollegen, die richtet sich ja auch gegen die Kanzlerin. Die muss Orientierung vermitteln. Sie haben Angela Merkel sehr früh kennengelernt, schon als Generalsekretär. Wie haben Sie sie kennengelernt, als was für eine Politikerin haben Sie sie kennengelernt?

    Rühe: Gut, ich habe ja sehr eng mit ihr zusammengearbeitet, sie auch sehr gefördert, auch weil sie eben zum demokratischen Aufbruch gehört hat, eben nicht aus der alten Ost-CDU kam, hatten wir damals auch eine besonders enge Verbindung. Jeder ist natürlich geprägt. Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen, sozusagen im NATO-Bündnis, und sie war in der DDR und hat erlebt, dass alles negativ geschildert wurde, was Amerika und das Bündnis angeht, und deswegen war sie etwa auch in der Irak-Situation eher unkritisch, sehr positiv für die Amerikaner. Und ich glaube, dass das auch durch diese Biografie zu erklären ist. Wenn man aus einem Staat kommt wie der DDR, die grundsätzlich kritisch sind, dann bezieht man eben eine exponierte Gegenhaltung. Aber ich würde mir wünschen, ... Man braucht in der Politik immer Gewichte und Gegengewichte, und ich glaube, in dieser Entscheidung vom Libyen-Einsatz, da hat es an den Gegengewichten gemangelt, im Kanzleramt etwa auch, oder gegenüber dem Außenminister, denn wenn sie gesagt hätte, also höre mal zu, lieber deutscher Außenminister, hier geht es um Grundfragen der Europapolitik und auch der Bündnispolitik, dann hätte sie sich durchsetzen können in der richtigen Weise.

    Detjen: Der Aufstieg, der wirkliche Aufstieg Angela Merkels dann an die Parteispitze hängt ganz eng mit der Parteispendenaffäre ´99/2000 zusammen, die für Sie dann so was wie ein Schlusspunkt der politischen Ambitionen bedeutet hat. Anfang 2000 haben Sie kandidiert für das Amt des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, die Wahl stand dann ganz im Zeichen der Parteispendenaffäre. Sie haben sie verloren. Wie hat Sie die Niederlage damals getroffen?

    Rühe: Das hat mich schon sehr getroffen, denn man muss ja sehen, dass sozusagen ... Schäuble und ich, wir waren damals dann am Ende der Ära Kohl also sozusagen diejenigen, die für die Zukunft standen, und der Helmut Kohl das auch gesehen ... und ich bin dann sehr gebeten worden, nicht nur von Gerhard Stoltenberg, sondern auch von Schäuble und von der Parteiführung, halt die Chancen zu nutzen, Länder wieder zu erobern, und bin nach Schleswig-Holstein gegangen, wo ich mich auch verbunden fühlte dem Land und ein Jahr lang in den ganzen Umfragen ich einen gigantischen Vorsprung ... Und dann kam die Spendenaffäre, und dann kamen ja auch die Probleme mit Schäuble und Koch, ein Schlag nach dem anderen, und überhaupt keine Chance gehabt, dann die Wahlen zu gewinnen.

    Und das war schon, das war schon eine sehr schwierige Situation, denn sozusagen die Zukunft ist dann abrupt gekappt worden. Aber auf der anderen Seite – ich habe sogar noch ein relativ gutes Ergebnis gezielt da angesichts der Umstände, ich glaube, 38 Prozent, davon träumen die heute. Aber habe ich auch verstanden, also dass unabhängig von meiner Person sozusagen die CDU dann auch abgestraft wurde wegen dieses Skandals auf der Bundesebene. Das heißt, ich war auch nicht verbittert darüber. Aber ich wusste, dass damit die bundespolitischen Ambitionen auch erledigt waren, denn man braucht ja also ... Ministerpräsident zu werden, das wäre eine neue Möglichkeit gewesen. Ich war dann noch ein paar Jahre auch Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, habe Außenpolitik gemacht, das auch sehr gerne. Aber im Grunde genommen kam dann sehr schnell nach dem Ende der Ära Kohl für mich auch die Klarheit, dass der weitere Weg in die Zukunft in der führenden Position versperrt ist.

    Detjen: Wie hat das Ihr Verhältnis zu Kohl verändert? Die Spendenpraxis reichte ja weit zurück in die Zeit, in der Sie eng an seiner Seite standen. Sie haben auch vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages ausgesagt, haben gesagt, Sie haben davon nichts mitbekommen. Welche Erklärungen haben Sie sich selber dafür geliefert?

    Rühe: Ja, das habe ich schon, als ich das Amt von Heiner Geißler übernommen habe, hat der mir das auch schon gesagt, dass es bei ihm genauso war, dass er halt mit den Einnahmen nichts zu tun und Spendeneinwerbung hatte, als Generalsekretär war es eine klare Arbeitsverteilung. Aber natürlich hat mich das sehr getroffen, das ist überhaupt gar keine Frage.

    Detjen: Haben Sie mit Kohl darüber gesprochen?

    Rühe: In der damalig ... ja, wir haben in der damaligen Situation ... Ich meine, ich hatte ja mit ihm Termine vereinbart, wo er auftreten sollte in Schleswig-Holstein, habe ihn dann angerufen und ihm gesagt, dass das nicht mehr stattfinden wird. Aber ich habe ihn nicht öffentlich angegriffen, weil ich ihm insgesamt gesehen, das ganze Leben hinweg, sehr viel verdanke. Und ich war vor anderthalb Jahren mal bei ihm, er ist krank in seinem Haus, und da habe ich auch deutlich gemacht, ich meine, ich hatte ja nie direkt Wahlen gewonnen, ich war ja immer Hamburger Abgeordneter aus Harburg, und da war die SPD immer über 60 Prozent mit Wehner und auch Klose. Ich habe später, ich habe die CDU, also was weiß ich, 15 Prozent weiter vorangebracht, von 25 auf 40, aber ich habe sozusagen nie direkt eine Wahl gewonnen. Und das wäre die Chance in Schleswig-Holstein gewesen, mal direkt – wünscht sich ja jeder Politiker, eine Wahl zu gewinnen und das war nun weg, und da habe ich schon gespürt, also dass ihm das auch bewusst war. Aber ...

    Detjen: Tat ihm das leid?

    Rühe: Ich glaube, dass ihm das bewusst war und ich meine, er hatte ja auch große Hoffnungen auf mich gesetzt, was die weitere Arbeit in der CDU angeht. Aber ich habe dann auch gespürt – also nach der Niederlage in Schleswig-Holstein habe ich ja dann auch sehr schnell verzichtet auf einen stellvertretenden Bundesvorsitzenden –, dass der Weg in die Führung versperrt war.

    Detjen: Wie hat denn die Parteispendenaffäre, die Rolle Kohls darin und davor, dann auch sein späterer Umgang damit, Ihr Bild von Kohl verändert, Ihr persönliches Bild, zunächst mal gefragt?

    Rühe: Ja, also was mich persönlich angeht, war sicherlich da Bestürzung da, aber es ist nichts Nachtragendes da, obwohl damit die Karriere auch von mir sozusagen entscheidend verändert worden ist. Es ist halt ein Teil des Kapitels. Ich glaube, dass er in der Geschichte sehr viel stärker bleiben wird, eben seine historischen Leistungen, und das muss man halt auch mal sagen, ich war ja sehr eng dabei jeden Tag, abends, nachts manchmal zusammen, also während des Wiedervereinigungsprozesses. Jemand aus meiner Generation – ich selbst oder auch Schäuble, was ja immer von Lafontaine und Sozialdemokraten ganz abgesehen –, keiner hätte das so machen können wie Helmut Kohl, der halt 1930 geboren das vereinigte Deutschland noch anders kannte. Also keiner hätte das so machen können, der Intelligenteste, der Beste nicht. Und das ist das, was bleiben wird, und das ist auch die Phase, wo er intuitiv, also sowohl das Innenpolitische, als auch natürlich das Außenpolitische – die Amerikaner einzubinden, mit den Russen zu reden – also in einer Weise vorangetrieben hat, wo ich heute noch glücklich bin, dass ich da ein bisschen mitwirken konnte und auch das im Einzelnen miterlebt habe.


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