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"Ich mache mir Sorgen darüber, dass wir zu einer Dagegen-Republik werden"

Nach 15 Jahren Planung und mehrfacher Bestätigung durch die Gerichte könne das Bauprojekt Stuttgart 21 jetzt nicht beendet werden, findet Guido Westerwelle. Im Interview der Woche spricht der Bundesaußenminister und FDP-Chef über die Wahl in Baden-Württemberg, Abrüstung und den Rückzug deutscher Truppen aus Afghanistan.

Guido Westerwelle im Gespräch mit Wolfgang Labuhn | 14.11.2010
    Labuhn: Herr Westerwelle, Sie setzen sich als deutscher Außenminister für Abrüstung und Rüstungskontrolle ein und haben deshalb am Donnerstag im Bundestag erneut auch den Abzug taktischer Atomwaffen aus Deutschland verlangt, denn auf dem rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel liegen vermutlich zehn bis 20 amerikanische Atombomben bereit, die im Ernstfall mit deutschen Tornado-Kampfflugzeugen ans Ziel gebracht werden sollen. Nun will die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon ein neues strategisches Konzept verabschieden, dessen endgültige Fassung wir zwar noch nicht kennen, dessen Entwurf aber durchaus an der Stationierung von taktischen US-Nuklearwaffen auf europäischem Boden festhält, da diese, wie es heißt, das Prinzip der erweiterten Abschreckung und der kollektiven Verteidigung stärke. Wie passt das zu Ihrer Forderung?

    Westerwelle: Wir werden in Lissabon einen großen Schritt in Richtung Abrüstung wiederum unternehmen. Und für uns sind ja die taktischen Atomwaffen, die sogenannten sub-strategischen Nuklearwaffen, Teil eines Abrüstungsgedankens insgesamt. Zwei Ziele haben wir in Lissabon, nämlich erstens, dass die NATO sich als Sicherheitsbündnis auch dem großen Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle widmet. Dieses wird nach meiner festen Einschätzung auch Bestandteil des strategischen Konzeptes der NATO werden. Und dass wir zum Zweiten erkennbar machen, dass die NATO sich nicht gegen irgendjemanden richtet, insbesondere auch nicht gegen Russland richtet, sondern einlädt zur Kooperation. Und die Tatsache, dass bei der Raketenabwehr jetzt Russland eingeladen wird, das ist schon ein historischer Vorgang. Normalerweise würde ja auch Russland sehr verhalten reagieren, in diesem Falle sehen wir aber, reist der russische Präsident sogar eigens nach Lissabon zum NATO-Gipfel an. Ich denke, wir sollten im Jahre 20 der Einheit verstehen, was für ein historischer, spektakulärer Erfolg das ist, dass die NATO, die ja mal auch zum Schutz gegenüber dem Warschauer Pakt gegründet wurde und auch gearbeitet hat, jetzt mittlerweile die russische Seite ausdrücklich einlädt, bei der gemeinsamen Sicherheit mitzuwirken.

    Labuhn: Aber dennoch: Heißt das nicht, dass Sie sich auf absehbare Zeit zumindest mit amerikanischen Atomwaffen auf deutschem Boden abfinden müssen?

    Westerwelle: Im Gegenteil. Die amerikanische Seite hat sich ja bei dem Thema der taktischen Atomwaffen schon erfreulich bewegt. Nach der Nichtverbreitungskonferenz in New York wird ja auch die Rolle von taktischen Atomwaffen mit aufgerufen und auch in den Kontext der Abrüstungsverhandlungen mit einbezogen. Aber es ist von Anfang an meine Politik gewesen, dass die taktischen Atomwaffen natürlich aus Deutschland auch abgezogen werden - aber dass das Teil von Abrüstungsbemühungen ist. Ein erheblich größeres Maß an taktischen Atomwaffen liegt noch in Russland. Und wir wollen ja beides bewirken, wir wollen ja auch die Abrüstung dort bewirken, wo beispielsweise noch sehr viele Waffen auch stationiert sind. Also, ich habe immer davon abgeraten, dass Deutschland einseitige Schritte unternimmt. Wir sind Teil des Bündnisses, wir handeln im Bündnis gemeinsam, und die Zeit von nationalen Alleingängen ist vorbei.

    Labuhn: In Lissabon wollen die Staats- beziehungsweise Regierungschefs der NATO auch über den Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan beraten, das heißt, konkret über die Frage, ab wann die Sicherheitsverantwortung dort in afghanische Hände gelegt werden kann. Wie lautet Ihre Prognose?

    Westerwelle: Wir werden in Lissabon den Prozess der Übergabe der Verantwortung einleiten und damit uns ja auch eine Abzugsperspektive erarbeiten. In Lissabon geht es darum, dass auch klar gemacht wird: Die Übergabe der Verantwortung beginnt im nächsten Jahr regional. Dann sind wir hoffentlich in der Lage, im Jahr 2012 - so ist es unser Plan - zum ersten Mal auch unsere eigenen Truppenkontingente zurückzuführen. Und dann ist es beabsichtigt, im Jahr 2014 die Sicherheitsverantwortung vollständig an die afghanische Regierung zu übertragen. Und damit hätten wir genau die Abzugsperspektive, die ich mir auch als Außenminister für diese Legislaturperiode vorgenommen habe.

    Labuhn: Betrifft diese Abzugsperspektive auch schon den Norden Afghanistans, für den Deutschland zuständig ist?

    Westerwelle: Ich arbeite daran und versuche das natürlich auch politisch voranzutreiben, dass bei den Provinzen, die im nächsten Jahr zunächst in der regionalen Verantwortung an die afghanischen Stellen übertragen werden, auch sicherlich eine Provinz aus dem Norden dabei sein wird. Aber das jetzt schon namentlich festzumachen, das wäre natürlich nicht klug, denn das würde ja nur zu entsprechenden Gegenreaktionen und Störmanövern, kriegerischen Akten in den entsprechenden Regionen führen. Und das muss natürlich verhindert werden.

    Labuhn: Herr Westerwelle, die aktuelle Sicherheitslage und die Strukturreform der Bundeswehr erfordern in Deutschland eine verteidigungspolitische Neubesinnung. In diesem Zusammenhang löste Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg dieser Tage eine Kontroverse aus, als er für eine, wie er sagte, unverkrampfte Berücksichtigung deutscher Wirtschaftsinteressen in der Sicherheitspolitik plädierte. Die Opposition warf ihm daraufhin vor, die Bundeswehr für Wirtschaftskriege einsetzen zu wollen, von "Kanonenboot-Politik" war da auch die Rede. Das mag ja alles übertrieben sein, aber am Horn von Afrika sichert die Bundeswehr im Rahmen der EU-geführten Operation "Atalanta" ja durchaus schon Seewege mit militärischen Mitteln. Muss der Auftrag der Bundeswehr nicht insgesamt neu definiert werden?

    Westerwelle: Also der Vorwurf der Opposition der "Kanonenboot-Politik" ist nicht übertrieben, er ist grotesk, lächerlich, absurd. Es geht darum, dass wir selbstverständlich zwei Linien in der internationalen Politik verfolgen. Nämlich die eine Linie ist, dass wir unsere internationale Verantwortung wahrnehmen, zum Beispiel auch, indem wir Piraterie bekämpfen. Wir bekämpfen diese Piraterie übrigens nicht zuerst für Handelswege, sondern wir haben ja mit diesem Einsatz auch begonnen, damit zum Beispiel Hilfslieferungen auch afrikanische Häfen erreichen können. Und es ist auch selbstverständlich unser Recht, dass wir unsere Staatsangehörigen oder dass wir auch unsere Schiffe schützen. Das ist genau Teil auch des Auftrages, den der Deutsche Bundestag ja, übrigens mit riesigen Mehrheiten, beschlossen hat. Die zweite Frage und die zweite Linie ist die Kultur der militärischen Zurückhaltung. Und dabei bleibt es, dafür stehe ich auch als Außenminister ein. Ein militärisches Engagement ist die Ultima ratio, ist stets das letzte Mittel, wenn andere Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Und erst, wenn wir merken, dass wir uns verteidigen müssen, zum Beispiel gegen terroristische Attacken und Angriffe, sind wir bereit, auch das Militärische zu nutzen. Es ist nicht der Zweck, es ist Mittel zum Zweck, nämlich unsere Freiheit, unsere Sicherheit zu schützen.

    Labuhn: Der Hauptauftrag der Bundeswehr ist laut Grundgesetz die Landesverteidigung. Darüber hinaus sind aber auch internationale Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit mit dem Grundgesetz vereinbar, das hat das Bundesverfassungsgericht 1994 so entschieden. Seitdem aber hat sich die Welt bekanntlich entschieden verändert. Sollte deshalb nicht auch das Grundgesetz geändert werden, um internationale Verantwortung auch auf militärischer Ebene absolut verfassungskonform wahrnehmen zu können?

    Westerwelle: Eine Änderung des Grundgesetzes halte ich nicht für erforderlich, ganz im Gegenteil. Deutschland ist gut damit gefahren, dass wir eine Parlamentsarmee haben und keine so genannte Regierungsarmee. Das heißt, dass für Auslandseinsätze der Bundeswehr immer das Parlament gefragt werden muss. Die Regierung schlägt vor, aber entscheiden muss das Parlament. Und das ist ja auch Ausdruck unserer Kultur der militärischen Zurückhaltung, damit sich alle Kräfte im Deutschen Bundestag für unsere Bundeswehr auch verantwortlich fühlen, sich keiner wegducken kann, jeder sagen muss, ob er Verantwortung übernimmt oder lieber nicht.

    Labuhn: Mehr internationale Verantwortung zu übernehmen, das wird Deutschland nach der Wahl in den UN-Sicherheitsrat etwas leichter fallen, wo die Bundesrepublik für die nächsten zwei Jahre ja einen nicht-ständigen Sitz hat. Noch schöner wäre natürlich ein ständiger Sitz als Ergebnis einer umfassenden Reform des Sicherheitsrates. Sind Sie da nicht etwas enttäuscht, dass US-Präsident Obama in diesem Zusammenhang in letzter Zeit zwar Japan und Indien erwähnte, aber nicht Deutschland?

    Westerwelle: Der amerikanische Präsident war auf einer Indienreise und nicht auf einer Deutschlandreise. Und wenn der amerikanische Präsident vor dem indischen Parlament spricht, dann spricht er über die Rolle Indiens und nicht über die Rolle Deutschlands. Alles andere hätte mich eher überrascht. Ich kann in vollem Umfange die Ausführungen des amerikanischen Präsidenten unterstützen. Ja, der asiatische Bereich ist im Sicherheitsrat unterrepräsentiert, ja, es wäre gut, wenn Indien dort auch einen ständigen Sicherheitsratssitz erhalten würde. Wir haben uns im so genannten G4-Format zusammengeschlossen, das heißt Indien, Japan, Brasilien und Deutschland, und unser Ziel ist es, die Reform der Vereinten Nationen voran zu bringen. Da geht es übrigens nicht zuerst um die deutsche Stimme, das ist natürlich unser ureigenstes Anliegen, aber es geht eben auch um die veränderte Architektur in der Welt. Dass der gesamte lateinamerikanische Kontinent im Sicherheitsrat nicht ständig vertreten ist, das ist ein Fehler und spiegelt eben nicht die Verhältnisse wider, wie sie heute sind. Dass der gesamte afrikanische Kontinent nicht im Sicherheitsrat vertreten ist, ist ebenfalls ein Fehler. Auch dort muss ein ständiger Sitz installiert werden. Und Asien ist ebenfalls unterrepräsentiert. Wir wollen mitwirken, wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Jetzt ist es zunächst einmal eine großartige Entscheidung, ein enormer Vertrauensbeweis auch in die deutsche Außenpolitik, in unser Land insgesamt, dass wir in einer geheimen Wahl mit zwei sehr respektablen Gegenkandidaten und einer Zweidrittelmehrheit im ersten Wahlgang als einziges Land sofort in den Sicherheitsrat gewählt wurden. Das zeigt doch wirklich die Wertschätzung für unsere Arbeit. Was will man denn noch mehr?

    Labuhn: Auf welchen anderen Gebieten hat die deutsche Außenpolitik seit Ihrer Amtsübernahme besonders erfolgreich wirken können?

    Westerwelle: Ich denke beispielsweise beim Thema Abrüstung. Die Abrüstung hat ja begonnen vor einem Jahr - nach einem Jahrzehnt, das eher als ein Jahrzehnt des Stillstandes, ja zum Teil sogar der Aufrüstung gelten muss. Und wir haben es geschafft, dass in diesem Jahr aus diesem dünnen Rinnsal Abrüstung ein ansehnlicher breiter Strom geworden ist. Aber Abrüstung ist eben auch ein sehr komplexer Vorgang, man braucht viele Beteiligte, nämlich vor allen Dingen diejenigen, die Atomwaffen haben. Und die Atommächte davon zu überzeugen, dass Abrüstung notwendig ist, das braucht auch langen Atem, das braucht Geduld, das braucht Verhandlungsgeschick. Das braucht eines ganz gewiss nicht: Vorlaute nationalstaatliche Anweisungen oder Kommandos. Das wird niemanden beeindrucken, nicht in Russland und ganz gewiss auch nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und deswegen werden wir ruhig und beharrlich mit unseren Initiativen dafür arbeiten, dass dieses Anliegen vorangetrieben wird. Warum ist das so wichtig? Das Thema Abrüstung ist aus meiner Sicht so wichtig wie das Thema Klimaschutz, es ist von einer ähnlich großen Bedeutung auch für die Menschheit. Denn wenn sich immer mehr Staaten nuklear bewaffnen, dann ist die Gefahr auch wachsend, dass zum Beispiel terroristische Gruppen Zugriff hätten auf solche nuklearen Waffensysteme.

    Labuhn: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem Bundesaußenminister, Vizekanzler und FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle. Sie sind nicht nur Außenminister und Vizekanzler, sondern eben auch Parteichef, Herr Westerwelle, und müssen jetzt erleben, dass Ihre Partei nach dem glänzenden Erfolg bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr laut Umfragen nur noch etwa fünf Prozent der Stimmen bekommen würde und - noch schlimmer - dass nur noch rund zwei Prozent der Befragten die FDP für eine glaubwürdige Partei halten, gemessen an ihren Wahlversprechen. Was ist da eigentlich passiert mit der FDP?

    Westerwelle: Also, solche Umfragen hat es in diesen zehn Jahren, in denen ich FDP-Vorsitzender bin, immer wieder gegeben, aber die Wahlergebnisse waren dann ganz anders, manchen zur Freude und manchen zum Ärger. Ich muss natürlich anerkennen und muss auch feststellen, dass es am Anfang der neuen Regierung Holprigkeiten gegeben hat. Das habe ich hinreichend oft eingestanden. Aber die Zeit ist vorbei. Die Regierung hat in diesem Herbst der Entscheidungen klug und richtig den Politikwechsel eingeleitet. Das macht nicht nur Freunde, es macht auch erheblich viel Gegnerschaft aus, wenn man beispielsweise einen Sparhaushalt beschließt. Wenn eine Regierung sagt, wir müssen sparen, dann stimmen erst einmal alle im allgemeinen zu. Wenn es dann konkret darum geht, auch Leistungen zu kürzen, ist der Protest groß, wie wir übrigens derzeit in nahezu jeder europäischen Hauptstadt beobachten können. Und trotzdem ist es notwendig. Es ist dringend notwendig. Es darf in Deutschland nicht passieren, was Griechenland passiert ist. Und deswegen brauchen wir gesunde Staatsfinanzen, deswegen war dieses Sparpaket notwendig. Es ist notwendig, dass die sozialen Sicherungssysteme, die ja kurz vor dem Abgrund standen, jetzt zukunftsfest gemacht werden. Natürlich macht es einem Gesundheitsminister keine Freude, wenn er auch in der Gesundheitspolitik schwierige Reformen durchsetzen muss. Aber warum ist das notwendig? Weil die Gesundheitspolitik der letzten elf Jahre ein Defizit von neun Milliarden Euro angehäuft hat. Das heißt, rechnerisch müsste jedes fünfte Krankenhaus geschlossen werden, wenn man dagegen nichts täte. Und deswegen ist es richtig, notwendig auch, leider gelegentlich bittere Medizin zu verordnen. Aber sie wirkt. Und das sehen wir heute beim Wirtschaftsaufschwung, das sehen wir auf dem Arbeitsmarkt. Und das kann ja nicht nur Exportwirtschaft sein, es kann ja nicht nur die Weltwirtschaft sein, die Deutschland antreibt. Sonst wäre ja gar nicht erklärbar, warum zum Beispiel unsere Nachbarländer 20, 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit haben, sondern augenscheinlich ist die mittelstandsorientierte Politik der Bundesregierung, die es jetzt seit einem Jahr gibt, nämlich seitdem die FDP mitregiert, vernünftig für Arbeitsplätze.

    Labuhn: Nun müssen Sie ja aber erleben, dass der Spardruck, den Sie angesprochen haben, auch dazu führt, dass die FDP ihr Hauptwahlversprechen, nennen wir es einmal "Mehr Netto vom Brutto", nicht einhalten kann, also eine deutliche steuerliche Entlastung der Mittelschicht auf den Weg zu bringen. Werden Sie als Mitunterzeichner des Koalitionsvertrages jetzt darauf drängen, dass in Zeiten wieder munter sprudelnder Steuereinnahmen doch noch eine deutliche Steuerentlastung den Wählern gereicht wird? Versprochen war ja ein Volumen von immerhin 24 Milliarden Euro.

    Westerwelle: Ich bin etwas beunruhigt darüber, dass Sie übersehen haben, dass der Bund der Steuerzahler in diesem Jahr gerade festgestellt hat, dass der sogenannte Steuerzahlertag zehn Tage früher stattfindet. Die Bürger haben in diesem Jahr erheblich mehr Netto vom Brutto. Sie haben nämlich für den Staat laut Bund der Steuerzahler zehn Tage weniger gearbeitet und zehn Tage mehr für sich selbst. Wir haben zu Beginn des Jahres drei Maßnahmen ergriffen: Die Familien wurden entlastet, und zwar erheblich. Ich denke an die Kinderfreibeträge, aber noch viel mehr an das Kindergeld. Für eine vierköpfige Familie sind das mal eben 480 Euro mehr im Jahr. Manche von der SPD haben das als läppisch bezeichnet. Ich glaube, das kann man nur sagen, wenn man in einer ziemlich unabhängigen, wohlhabenden Einkommensklasse ist. Die normalen Bürgerinnen und Bürger finden, dass das durchaus etwas ist. Die Krankenkassenbeiträge wurden steuerlich absetzbar gemacht nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtes. Auch das ist zum 1. Januar in Kraft getreten. Der Mittelstand wurde erheblich entlastet. Das Geld geht eben nicht mehr für Subventionen nach General Motors drauf, sondern der Mittelstand wurde entlastet, zum Beispiel bei der Unternehmenssteuerreform. Und die Familienunternehmen wurden gestärkt, indem wir dafür sorgen, dass durch die Reform der Erbschaftssteuer eben nicht bei jedem Generationsübergang auch ein Akt der Enteignung mit stattfindet. Das wurde als Klientelpolitik beschimpft, aber entweder wollen wir Familienbetriebe in Deutschland haben oder wir wollen sie nicht in Deutschland haben. Wir als FDP wollen sie in Deutschland haben, und deswegen haben wir diese Maßnahmen auch durchgesetzt. Im Frühjahr haben wir dann eine Wirtschafts- und Währungskrise gesehen in Europa von unglaublichem Ausmaße. Wir mussten also die Prioritäten in Richtung Haushaltskonsolidierung verändern. Da sind wir ebenfalls auf einem hervorragenden Weg. Und schließlich kümmern wir uns jetzt um das große Thema Steuervereinfachung. Wir wollen beispielsweise dafür sorgen, dass zum Beispiel die Möglichkeit besteht, Steuererklärungen im Normalfall auch nur noch alle zwei Jahre abgeben zu können. Das sind Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger, und das setzt die FDP alles durch. Und wenn sich dann nach einer Konsolidierungspolitik noch neue Spielräume ergeben sollten, dann wird das Thema Entlastung der Mittelschicht und der kleinen und mittleren Einkommen wieder oben auf der Tagesordnung stehen.

    Labuhn: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Herbst 2010 zum Herbst der Entscheidungen ausgerufen und muss jetzt aber erleben, dass einige Entscheidungen die Bevölkerung polarisieren, das Land geradezu spalten, Stichwort: Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Der erste Test eigentlich über den Herbst der Entscheidungen könnte die Landtagswahl in Baden-Württemberg im März kommenden Jahres sein. Wie wichtig ist diese Wahl für die schwarz-gelbe Koalition in Berlin?

    Westerwelle: Die gesamten Landtags- und Kommunalwahlen des nächsten Jahres sind wichtig für alle Parteien in Deutschland, aber viel wichtiger sind sie für die Länder, in denen gewählt wird. Baden-Württemberg hat mutmaßlich eine der erfolgreichsten Landesregierungen deutschlandweit. Die haben dort fast Vollbeschäftigung, einen stabilen, gesunden Mittelstand, und man sieht jetzt ja auch, wie gut das für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist. Lohnerhöhungen werden vorgezogen. Es bleibt wirklich mehr übrig. Und im übrigen ist es unser Kernanliegen als FDP auch, wenn in diesem Jahr und im nächsten Jahr Lohnerhöhungen endlich wieder real stattfinden, dann wollen wir auch dadurch, dass wir das Thema der sogenannten kalten Progression anpacken, dafür sorgen, dass diese Lohnerhöhungen auch wirklich beim Arbeitnehmer landen und nicht gleich wieder in großen Teilen vom Steuerstaat vereinnahmt werden. Das sind Prioritäten, die setzen wir auch durch. Und natürlich ist es klar und absehbar gewesen, dass in der Energiepolitik auch Proteste stattfinden. Aber trotzdem ist diese neue Energiepolitik dringend notwendig. Wir bauen damit eine Brücke in das Zeitalter der regenerativen Energien. Kein Mensch glaubt doch, dass wir heute unseren Energiebedarf bereits ohne Kernkraft und auch ohne die fossilen Rohstoffe decken könnten. Für einen Energiebedarf, wie wir in brauchen, ist mit dem derzeitigen technologischen Stand bei Sonne, Wind und Wasser noch nicht genug da. Und deswegen müssen wir jetzt auch eine feste, gesunde, stabile Brücke bauen in das Zeitalter der regenerativen Energien. Und genau das haben wir beschlossen.

    Labuhn: Die Bundeskanzlerin hat die Landtagswahl in Baden-Württemberg auch zur Abstimmung über das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 erklärt. Sehen Sie das auch so?

    Westerwelle: Zunächst einmal ist eine Landtagswahl eine Abstimmung über Landespolitik. Natürlich spielen auch immer viele Fragen eine Rolle. Aber ich will auch etwas zu diesem Bahnhofsprojekt sagen. Ich habe vor einigen Wochen gesehen, wie in den selben Abendnachrichten die Schweiz sich selbst gefeiert hat und dafür gefeiert wurde, dass sie den längsten Eisenbahntunnel der Welt gebaut hat. Und wir haben dann in Deutschland Demonstrationen gegen einen Bahnhof. Ich mache mir Sorgen darüber, dass wir zu einer 'Dagegen-Republik' werden. Ich mache mir Sorgen darüber, dass bei uns nichts mehr geht, dass keine Straßen mehr gebaut werden können, keine Kraftwerke mehr, dass wir keine Stromleitungen mehr bauen dürfen, dass keine Flughäfen mehr ausgebaut werden können und jetzt auch keine Bahnhöfe mehr. Und dann werden wir den Wohlstand für alle verlieren.

    Labuhn: Ist aber nicht dass, Herr Westerwelle, und das als letzte Frage, was wir jetzt in Stuttgart erleben und vorher in Hamburg, wo die schwarz-grüne Schulreform einer Volksabstimmung zum Opfer fiel, und vielleicht auch bald in Berlin erleben aus Protest gegen die hohen Wasserpreise - ist all das nicht eigentlich eine Umkehr der früheren viel zitierten Politikverdrossenheit? Die Bürger nehmen jetzt Dinge selbst in die Hand, weil sie sich durch die Politik nicht mehr vertreten fühlen?

    Westerwelle: Bei allem Respekt vor den Demonstranten und bei allem Respekt auch vor denen, die als Staatsbürger völlig zu Recht, wenn sie dieser Überzeugung sind, demonstrierend auch auf die Straße gehen, so lange es friedlich ist - 50.000 Demonstranten sind noch nicht die Mehrheit der Republik, auch noch nicht die Mehrheit in Baden-Württemberg. Ich bin sehr für mehr Elemente der direkten Demokratie. Ich bin sehr dafür, dass mehr Volksmitwirkungsmöglichkeiten geschaffen werden. Aber das kann nicht am Ende eines politischen Entscheidungsprozesses stattfinden, sondern das muss am Anfang stattfinden, so wie in Hamburg. Da wurde die Einheitsschule von Schwarzen und Grünen vorgeschlagen und die Bürger haben am Anfang gesagt: "Nein, das wollen wir nicht, darüber wird abgestimmt." Es wurde abgestimmt und Schwarz und Grün mussten glücklicherweise das Projekt der Einheitsschule beenden. In Baden-Württemberg reden wir darüber, dass 15 Jahre lang etwas ausgeplant wurde, Parlamente es immer wieder entschieden haben, auch grüne und sozialdemokratische Verkehrspolitiker dem Projekt ja zugestimmt hatten, und dann, weil die Landtagswahlen im nächsten Frühjahr sind, machen sie jetzt einmal mobil dagegen, um natürlich auch ihre parteipolitischen Interessen zu verfolgen. Dieses Projekt ist von allen Gerichten bestätigt worden. Es hat mehr als 10.000 Bürgereingaben gegeben, die abgearbeitet worden sind. Also, nach 15 Jahren damit zu kommen, etwas, was rechtsstaatlich wirklich hundertprozentig korrekt und mehrfach bestätigt worden ist, jetzt zu beenden, das finde ich nicht überzeugend. Dann, denke ich, wird keiner mehr Vertrauen fassen und in größerem Maße auch in Deutschland investieren, wenn er damit rechnen muss, dass selbst, wenn er 15 Jahre lang alles durchgeplant hat, alles besprochen hat, alles entschieden wurde, alles gerichtlich bestätigt wurde, er am Schluss dann doch seine Investitionen im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand setzt.

    Labuhn: Herr Westerwelle, vielen Dank.

    Westerwelle: Ich danke Ihnen.