Dienstag, 07. Mai 2024

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Ich sah die Toten, groß und klein. Eine Schauspielerin überlebt den Holocaust

Vitalität, Leidenschaft und Widerspruchsgeist strahlt sie aus, die zierliche, liebenswürdige achtzigjährige Dame, die mir im Hotel Albrechtshof in Berlin-Mitte gegenüber sitzt. Sie habe kein Buch über den Holocaust schreiben wollen, betont Silvia Grohs-Martin. Aber zu ihrem Leben gehören nun einmal diese schrecklichen Erfahrungen: Die Flucht der Achtzehn-jährigen aus dem von den Nazis okkupierten Wien über die Schweiz nach Holland; die Jahre als Schauspielerin im Amsterdamer Schouwburg Theater, das von den Nazis zunächst zu einem jüdischen Theater deklariert und später zum Sammelplatz der zur Deportation vorgesehenen Juden umfunktioniert wurde; das Leben im Widerstand in Belgien und, nachdem sie an die deutschen Besatzer verraten worden war, die Deportation ins belgische Lager Mechteln, von dort nach Auschwitz und Ravensbrück. Drei Monate vor Kriegsende wurde sie vom Roten Kreuz aus einem unterirdischen Keller befreit. Silvia Grohs-Martin beschreibt diese Lebens- und Leidensstationen in einem ruhigen sachlichen Ton, ohne jede Sentimentalität oder Larmoyanz. Sie will nicht Mitleid evozieren, sondern Zeugnis ablegen, dokumentieren. Das Erzähltempo und die permanente Ungewißheit, was als nächstes über die Icherzählerin und die Personen, von denen sie berichtet, hereinbrechen wird, ergreifen den Leser und lassen einen regelrechten Sog entstehen.

Cornelia Staudacher | 07.08.2002
    You know what a cliff-henger is, wenn man schreibt, im Film oder im Theater, wenn man nie weiß, was jetzt das nächste Mal passiert, so dass der Leser oder Zuschauer denkt, what's happening now, was weiter, will weiter wissen, er weiß es nicht, ich weiß es nicht, als ich es erlebte, wußte ich es auch nicht, was ist um die nächste Ecke, was ist auf der andern Seite, was ist über dem Berg, so ist dieses Leben von mir gewesen, und so habe ich es dann geschrieben.

    Zunächst bestand der Plan, die Geschichte des Theaters Schouwburg aufzuschreiben, in dem sie als Schauspielerin ihre ersten großen Erfolge feierte. 1942 hatten die Nazis das Theater in eine Sammelstelle für die Deportation der jüdischen Bevölkerung umfunktioniert. Eine Zeitlang gelang es ihr noch, den in die Schouwburg eingelieferten Kindern zur Flucht vor den Nazischergen zu verhelfen. Dann schließt sie sich dem jüdischen Widerstand an und flieht nach Brüssel. In den sechziger Jahren, als sie herausgefunden hatte, dass niemand von den Theaterleuten überlebte, entschloss sie sich, über das Theater zu schreiben, und begann zu recherchieren.

    Mein Ziel zu schreiben, war die Geschichte vom Theater, nicht der Holocaust, nicht meine Lebensgeschichte, sondern dass da ein Theater war in Europa, in der Welt, eines der ältesten, eines der berühmtesten, eines der schönsten, in dem sich eine Geschichte abgewickelt hat, die einmalig ist. Es handelt sich um ein Gebäude, was darin vorgegangen ist, das phantastisch Schöne und das weniger Schöne, und dass sich dann herausstellte, es ist niemand anderer da, ich bin die einzige, die es erzählen kann, ich bin die einzige, die es überlebt hat, ich konnte gar nicht aufhören, darauf zu denken, als ich erfuhr, viele, viele Jahre später, dass niemand zurückgekommen ist von meinen Kollegen, und das waren nicht nur eins, zwei, drei, vier, waren ja viele, mit dem Orchester, mit den Tänzern, Sängern, den Choreographen.

    Als eine Hinterlassenschaft hat Silvia Grohs-Martin auch die Tatsache empfunden, überlebt zu haben. Wie in einem Schwebezustand habe sie sich befunden, sagt sie, sei wie in einem aus der Kontrolle geratenen Zug durchs Leben gerast. Zunächst einmal war da ein enormer Haß, der es ihr unmöglich machte, nach Wien, in ihre Heimatstadt zurückzukehren oder an einem anderen Ort in Europa zu bleiben:

    Der Hass war vor sechzig Jahren, und jeder, der denkt, dass man da anders herauskommen kann, wenn man überhaupt ein Gefühl haben kann,dann kann es ja nur Haß gewesen sein. Und der Grund, dass ich nach Amerika ging, zu einer Zeit, wo ich ja gar nicht mehr mußte, also nach dem Krieg, mir ist ja jedes Theater offen gewesen, und die Karriere war in Europa, nicht in Amerika, und trotzdem konnte ich nicht mehr atmen, ich konnte wirklich die deutsche Sprache nicht mehr hören, die Sprache, die ich geliebt habe, die für mich reich war, und schön und ausdrucksvoll und herrlich, es ist mir wirklich körperlich schlecht geworden, die Sprache zu hören. Ich konnte sie nicht sprechen, ich konnte sie nicht hören. Und es kam noch dazu, dass ich natürlich niemandem getraut hab', ich hab' sie alle verurteilt, die ich gedacht hab, dass sie es gemacht haben können, und die, die weggeschaut haben und gar nichts gemacht haben, was noch ärger ist.

    Aber auch in den USA, wo sie nach dem Krieg lebt, überfällt sie die Wut angesichts der Ahnungslosigkeit mancher Zeitgenossen:

    Als ich raus kam, habe ich gedacht, die ganze Welt muß das wissen, es gibt doch keinen Menschen auf der ganzen Welt, der das nicht weiß, was da passiert ist.

    Sie schildert ein Erlebnis in den fünfziger Jahren in der New Yorker Subway, eines von vielen, das dazu beigetragen hat, ihre Erlebnisse aufzuschreiben: Eine junge Frau fragt sie, was die auf ihrem Arm tätowierte Nummer zu bedeuten habe, und sie gibt zur Antwort, das sei ihre Telefonnummer:

    In dem einen Waggon war nur sie und ich, und sie hat so lange auf diese Nummer gestarrt, sie hat gar nicht probiert zu verbergen, dass es z.B. wie ich will nicht, dass der weiß, dass ich dahinschaue, überhaupt nicht, es war wie wenn ihre Augen geglüht waren auf diese Nummer. Und nicht nur, dass sie es überhaupt gefragt hat, dass sie es geglaubt hat, dass sie es geglaubt hat, und da hab ich mir gedacht, oh my god, they don't know, they really don't know. Das ist ein choc.

    Mitte der neunziger Jahre begegnete Silvia Grohs-Martin Steven Spielberg, der gerade den Film "Schindlers Liste" abgedreht und die "Shoah Foundation" gegründet hatte mit dem Ziel, 50.000 Interviews Überlebender aus der ganzen Welt zusammenzutragen. Als "volonteer", als erster Ansprechpartner, arbeitete sie von Anfang an in der Foundation mit. Ihre eigene Geschichte wollte sie zunächst nicht erzählen: Ich hab schon dort sechs oder sieben Monate als volonteer gearbeitet, und die haben mich so verrückt gemacht, okay. Und der Grund, dass ich es nicht geben wollte, war, dass ich genau gewußt habe, es ist unmöglich, in zwei Stunden alles zu sagen, auch nicht in drei, darum hab ich mich immer geweigert, ich habe andere Sachen dort gemacht, und dann habe ich´s gemacht, meines dauert fünf Stunden. Ich hatte gerade das Interview gemacht, wenn diese eintausend-Party war, und als ich reinging zu der Party, ging er raus, mit ein paar Leuten, und er hat mich vorgestellt, hat gesagt, die hat gerade ihre testimony gegeben, fünf Stunden, und dann hab ich ihn wieder getroffen, wenn wir spezielle events gehabt haben, und dann habe ich angefangen in schulen zu sprechen mit jungen Studenten, und dann ist das CD-Rom gekommen, vier survivors, das ist zum ersten mal gezeigt worden in New York, in einer Schule, satelite school of Lower East Side, wo die Kinder, 17, 18, sind schon keine Kinder mehr, diese sind schon rausgeschmissen worden von allen Schulen, waren im Gefängnis, ausm Gefängnis, Dreizehnjährige mit zwei Kindern und so weiter, also no hope, also in dieser Schule hat man das zum ersten Mal gezeigt, und Steven kam nach New York, und da hab ich ihn besser kennen gelernt natürlich, und ich fühle mich sehr geehrt dafür, wenn etwas ganz Spezielles gibt, dann er fragt speziell nach mir, ob ich mit ihm reden will. I know he likes me a lot. Er hat beide Füße auf der Erde, er ist ein Mensch, wirklich ein Mensch. Und da kam es, dass, wenn Leute gefragt haben, warum jetzt, warum jetzt, warum nicht zuvor, und da ich immer gesagt, ich hab immer gesprochen, man hat mich nur nicht gehört, jetzt hört ihr mich.

    Bis auf den heutigen Tag arbeitet Silvia Grohs-Martin, die seit vielen Jahren in Los Angeles lebt, als "volonteer" für die Shoah Foundation und tritt in Schulen und bei öffentlichen Veranstaltungen als Zeitzeugin auf. Ihre Energie und eine trotz allem, was sie erlebt hat, ungebrochene Vitalität, haben ihr geholfen, den Haß zu bewältigen. Aber eine gesunde Portion Wut ergreift noch heute bei entsprechenden Fragen von ihr Besitz.

    Ich weiß nicht, wie ich das in deutsch sagen soll. Die haben mir das Leben auf den Kopf gestellt, upside down, und die haben mir Jahre weggegeben, und ich hab gedacht, wer sind diese Leute, die glauben, dass sie Gott spielen können, who the hell are you, that you can take a human life, turn it upside down, and then you let it live and I am supposed to be thankfull, no, you owe me time, time, time, I want back the time, and I want back that life you have taken from me, also es war, ich muß in Kontrolle von meinem eigenen Leben sein, und dass da jemand kommt, der mich überhaupt nicht kennt, den ich überhaupt nicht kenne, und denkt, dass er machen kann, was er will, und dass ich noch glücklich sein muß, überhaupt, dass ich es überlebt habe, to hell with you, also eine unwahrscheinliche Wut, dass sie das dürfen zu machen, und dass die Welt das erlaubt, nicht nur die, die Welt erlaubt´s, mir kann keiner erzählen, konnte mir nie erzählen, die wußten nicht, valonee, was heißt, wußten nicht, natürlich wußten sie, you didn't give a damn, you didn't care.

    Die Kräfte, die durch die Wut freigesetzt wurden, haben ihr auch geholfen, die für viele Shoah-Überlebende existentielle Frage nach der eigenen Daseinsberechtigung für sich so zu beantworten, dass sie ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben vermochte:

    Ich habe diese Frage nie gefragt, sondern ich hab gesagt, ich lebe, ich hab noch was zu tun in diesem Leben, was, weiß ich nicht, aber nicht, warum ich, irgendein Grund, den ich nicht weiß, außerdem, ich kann doch nicht sterben, bevor ich leb, ich hab ja noch gar nicht gelebt, ich war ja viel zu jung, ich habe ja mein Leben noch gar nicht gelebt, aber ich will es leben, ich muß es leben, da sind Sachen, die man noch machen muß, Dinge, die ich noch lernen will, experiences, die ich noch brauche, um zu wachsen, nicht nur mit Jahren, sondern mit Erfahrungen, und was ich erfahren habe, ein bißchen jemand anderen davon, dass er lernt, nicht bemitleidet mich, Gott behüte, das hasse ich überhaupt, nein, nein, nein.

    Die auf großer Erinnerungs- und Vorstellungskraft beruhenden, mit Sinn für Charaktere und Details sachlich und eindringlich geschriebenen Aufzeichnungen von Silvia Grohs-Martin dürften, obwohl von einem persönlichen Schicksal ausgehend und mit emotionaler Emphase verfaßt, für heutige, auch jüngere Leser von eminenter geschichtlicher und allgemein menschlicher Bedeutung sein.