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"Ich suche immer nach meinem Ton"

Mit zwölf hat er angefangen, Gitarre zu spielen. Heute ist der 45-Jährige einer der besten Rockgitarristen der Welt. Auch jetzt noch versucht John Petrucci, mit seinen Fingern immer schneller zu werden.

Mit Tim Schauen | 08.09.2012
    Tim Schauen: Ist die Musik von Dream Theater unter "Heavy Metal" einzuordnen oder gehört sie doch eher ins "progressive" Fach?

    John Petrucci: Die Musik ist schon sehr progressiv, aber es ist eine Mischung, so war es von Anfang an in unserer Band. Als wir 17,18,19 waren, hörten wir Rush und Yes und Pink Floyd und danach Metallica und Iron Maiden - und das haben wir dann alles vermischt: heavy Gitarren, heavy Schlagzeug, kraftvolle Musik. Aber das wiederum dann in dem Stil, wie Yes es machen würden: lange Stücke, Instrumentalpassagen, Konzepte.

    Schauen: Hat das auch mit Jazz zu tun?

    Petrucci: Schon, aber es ist ja definitiv komponierter als im Jazz üblich, wir haben nicht so viele improvisierte Elemente. Dennoch gibt es keine allzu starken Grenzen, und wir lassen uns viel Freiraum, um zu spielen, was wir möchten.

    Schauen: Braucht es ein Musikstudium, um Stücke wie "Lost And Forgotten" schreiben zu können?

    Petrucci: Auf jeden Fall ist es hilfreich, weil es eine Menge Möglichkeiten eröffnet. Es gibt viele unglaublich gute Gitarristen, die keine musikalische Ausbildung haben - und das ist auch okay so. Aber wenn man Gitarre oder Klavier studiert hat, hilft das, seine Stimme auf dem Instrument zu entwickeln, es hilft dabei, miteinander musikalisch zu kommunizieren und, ja: Es eröffnet Möglichkeiten, die man sonst vermutlich nicht hätte.

    Schauen: Man muss also Musik studiert haben, weil Ihre Musik im Gegensatz zum Jazz durchkomponiert ist …

    Petrucci: Sehr komponiert, absolut! Wenn man so möchte, sind Dream Theater eher klassischer Natur, wo es diese Bewegungen in der Musik gibt, das geht von sehr intensiven Momenten zu Dingen, die sehr schön und bewegend sind - und man benötigt eben die technischen Fähigkeiten, all das spielen zu können. Es gibt ja eine Menge melodischer Themen. Ja, bei uns geht es sehr komponiert zu, wie in der Klassik.

    Schauen: Spielen Sie live immer noch Stücke vom frühen Album "Images And Words"?

    Petrucci: Tun wir! Das Album ist eines der Favoriten bei unseren Fans. Eine Menge Leute wurden durch "Images And Words" damals auf Dream Theater aufmerksam, obwohl es nicht unsere erste Platte ist, sondern unsere zweite. Aber die Leute lieben es - und, klar, spielen wir immer noch "Pull Me Under" and auch "Wait For Sleep" und - ich vergess' manchmal die Titel - "Learnin To Live" und "Under A Glass Moon" - all diese Stücke gehören immer noch dazu. Ich habe oft gesagt bekommen, dass Leute das Album beim Joggen, beim Sport hören.

    Schauen: Ein Bluesgitarrist denkt nicht ständig darüber nach, was er wo spielt ...

    Petrucci: Das Schöne an unserer Musik ist, dass sie eben manchmal sehr durchkomponiert ist, mit spezifischen Vorgaben, denen man einfach folgen möchte, aber manchmal lassen wir auch Raum für Offenheit. Auf dem aktuellen Album ist ein Stück namens "Breaking All Illusions”, das in der Mitte aufbricht und die Gitarre frei durchatmen lässt, fast schon David-Gilmore-mässig - doch dann geht es wieder los. Ich mag es sehr, mit diesen Stilmitteln zu spielen, das macht großen Spaß, keine Beschränkungen zu haben und es offener zu gestalten. Was ich an Musik ganz allgemein so mag, ist, dass die Leute ihr ganz intuitiv zuhören und sie nicht wissen, warum sie ein Stück mögen, aber meistens hat es mit Melodien zu tun, da ist etwas, das sie berührt, ihre Seele erreicht. Manchmal geht das wiederum auch über eine Art Stammestanz, dann wenn es einfach heavy ist und rhythmisch und einen dadurch mitreißt, aber meistens packt einen die Melodie. Du kannst einen Song mitsingen, verstehst, worum es inhaltlich geht, und das Solo berührt dich - wie auch immer. Also dieses sinnliche Element ist sehr wichtig. Es geht nicht nur um technische Fähigkeiten, sondern vor allem um Sensibilität für Melodien.

    Schauen: Und wann geht es um Geschwindigkeit, um Shredding?

    Petrucci: Manchmal tut es das. Manchmal geht ein Stück in diese Richtung, und dann musst du das auch spielen können. Bei einem der Songs von unserem ersten Album ist das so, bei "A Fortune In Lies": Wir waren jung, als wir das geschrieben haben, es ist alles nur Double-Bass-Drum. Wir wollten wohl ausdrücken: Auch das muss man erstmal spielen können.

    Schauen: Und beim Zusammenspiel mit Keyboarder Jordan Rudess? Wie können Sie all die verrückten Passagen, die Sie komponiert haben, behalten und live spielen? Arbeiteten Sie mit Teleprompter?

    Petrucci: Also ich hab keine Spickzettel, aber Keyboarder Jordan hat ein Musicpad, er spielt nach Noten, aber er hat ja auch einen klassischen Hintergrund, ist klassisch ausgebildeter Musiker. Er liest und schreibt, spielt und lernt vom Blatt, doch er kann auch improvisieren, als gäbe es kein Morgen. Am meisten ist er jedoch daran gewöhnt, Noten zu sehen. Ich habe das ja im Studium in Berklee gelernt, aber ich hatte jetzt nicht nur im Sinn gehabt, unbedingt das Notenspiel zu lernen. Die meisten Gitarristen wollen nur shreddern. Und live: Live spiele ich das alles aus dem Kopf.

    Schauen: Die meisten Gitarristen versuchen ihr ganzes Leben lang, besser auf dem Griffbrett zurechtzukommen und suchen außerdem immer noch nach ihrem Ton - wie weit sind Sie?

    Petrucci: Also ich suche ständig, ich suche immer nach meinem Ton, ist wohl eine Gitarristenkrankheit. Jeden Tag beim Soundcheck probiere ich etwas Neues aus, wähle neue Pogramme und so. Gitarristen lieben die Suche nach Sounds und den richtigen Ton. Schließlich gibt es so viele Gitarristen, und gerade auf der elektrischen Gitarre ist es schwierig, eine eigene Stimme zu bekommen. Aber wenn du es schaffst, als jemand wahrgenommen zu werden, dann ist das eine große Leistung. Aber es ist schwer.

    Schauen: Eine Stunde vor einer Show stehen Sie wieder davor, als Gitarrist mit eigener Stimme wahrgenommen zu werden. Wie bereiten Sie sich auf die Show vor?

    Petrucci: Ich spiele mich warm, die Gitarre ist schon an einen kleinen Übungsverstärker angeschlossen und ich verbringe die Zeit damit, mich auf die Show zu fokussieren. Ich ziehe mich um, mache vielleicht ein bisschen Stretching und spiele ein bisschen. Manchmal spiele ich Übungen, manchmal übe ich die Songs für den Abend, gehe die Soli durch, gehe sicher, dass ich nichts vergessen habe. Es ist immer gut, sich die Dinge in Erinnerung zu rufen. Sowas hier spiele ich dann ...
    Ich spiele langsames Zeug, versuche, es in meine Erinnerung zu bekommen - und unter meine Finger … Leichte Sachen mit einer Note pro Saite ... oder etwas im Alternate-Picking-Stil ... wo pro Saite mehrere Noten gespielten werden, vielleicht zwei ... Das mische ich ein bisschen, wärme die linke Hand auf, indem ich verschiedene Patterns spiele ... Übungen mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Was mache ich denn noch? Ich versuche, möglichst viele unterschiedliche Sachen anzuspielen, um mich gut aufzuwärmen.

    Schauen: Versuchen Sie, noch schneller zu werden? Geht das überhaupt?

    Petrucci: Oh ja, ich versuche es absolut. Ich möchte natürlich die Fähigkeiten behalten, und zudem brauche ich ja auch eine Reserve. Aber zu versuchen, schneller zu werden, macht auch Spaß. Zudem muss man herausfinden, wie sich die eigene Technik mit etwa der rechten Hand oder das Handgelenk auf der Gitarre immer noch gut anfühlt. All das hilft beim Schnellerwerden.

    Schauen: Wenn man sich die erste Platte noch mal anhört - als Sie mit Dream Theater angefangen haben, waren Sie 17 Jahre alt –, da waren Sie aber auch schon ganz schön schnell.

    Petrucci: Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits fünf Jahre Gitarre gespielt und stand schon auf Al Di Meola und Steve Morse, Yngwie Malmsteen, Rhandy Rhoads und all diese Jungs. Das war genau das, was ich machen wollte. Als ich mit 17 nach Berklee kam, hatte ich schon eine gewissen Technik und Geschwindigkeit drauf, aber ich musste auch noch eine Menge lernen.