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"Ich würde dringend davor warnen, zu boykottieren"

Boykotte haben in der Geschichte des Sports noch nie einen Nutzen gehabt, sagt der UN-Sportbeauftragte Willi Lemke über Pläne deutscher Politiker, der Fußball-EM in der Ukraine wegen des Falls Julia Timoschenko fernzubleiben. Er rät zum Dialog vor Ort - und lobt den diplomatischen Ansatz der Kanzlerin.

Das Gespräch führte Tobias Armbrüster | 03.05.2012
    Tobias Armbrüster: Sollen deutsche Politiker im kommenden Monat auch in die Ukraine reisen, um sich dort Spiele der Fußball-Europameisterschaft anzusehen, oder sollen sie demonstrativ zuhause bleiben und so gegen die Haftbedingungen für Julia Timoschenko protestieren? Seit Tagen wird in Deutschland über einen Boykott der EM in der Ukraine diskutiert. Die Idee für so etwas ist nicht neu.
    Am Telefon ist jetzt Willi Lemke, er ist Berater des UNO-Generalsekretärs in Fragen des internationalen Sports und er war im Laufe seiner Karriere unter anderem Manager beim SV Werder Bremen. Schönen guten Morgen, Herr Lemke. – Herr Lemke, können Sie mich hören? – Gerade eben hatten wir ihn noch in der Leitung. Wahrscheinlich ist die Leitung inzwischen aufgelöst. Wir probieren es einfach noch mal.
    So, dann probieren wir es noch einmal. Schönen guten Morgen, Herr Lemke!

    Willi Lemke: Guten Morgen, Herr Armbrüster!

    Armbrüster: Herr Lemke, wie sieht es denn bei Ihnen aus? Reisen Sie zum Fußballgucken in die Ukraine?

    Lemke: Ja! Ich werde sicherlich nach Polen und auch in die Ukraine fahren.

    Armbrüster: Würden Sie auch deutschen Politikern dazu raten, das zu machen?

    Lemke: Ich weiß nicht, ob ich deutschen Politikern etwas raten kann oder sollte. Aber wenn ich in einer vergleichbaren Situation wäre, glaube ich, würde ich in die Ukraine fahren, um dort vor Ort den Dialog zu suchen. Und Boykotte – das zeigt ja die Geschichte des Sports -, die haben eigentlich nie einen Nutzen gehabt, sondern die Vereinten Nationen legen mehr Wert auf Dialog als auf Boykotte.

    Armbrüster: Aber zeigt ein Minister auf der Tribüne nicht, dass er im Grunde das System in der Ukraine unterstützt?

    Lemke: Nein, das glaube ich nicht, dass man lediglich durch die Teilnahme an einer Sportveranstaltung ein System unterstützt. Außerdem haben selbstverständlich auch Politiker jede Menge Möglichkeiten zum Dialog, zur Aufklärung, zur Information. Sehen Sie, das große Fußballfest, was dort gefeiert wird, steht jetzt schon unter einem sehr, sehr schlechten Stern, weil hier Einflüsse auf den Sport genommen werden, die immer schon umstritten waren, weil wir wollen doch versuchen, nach Möglichkeit Sport und Politik zu trennen, obwohl ich genau weiß, dass man diese Dinge nicht strikt trennen kann. Aber wir wissen alle, dass der Fußball, der Sport im allgemeinen unabhängig sein soll von der Gängelung durch die Politik. Also ich würde dringend davor warnen, zu boykottieren. Ich halte natürlich überhaupt nichts davon, auch nur darüber nachzudenken, die Europameisterschaft ganz wegzunehmen. Glücklicherweise wurde das nur Anfang der Woche diskutiert, heute ist das nicht mehr in der Debatte. Ich finde es viel besser, wenn man dort hinfährt, die Möglichkeit des Dialogs in allen Feldern mit den Fans, mit den Offiziellen versucht hinzubekommen, natürlich auch mit Vertretern der Opposition. Damit nützt man doch viel mehr, als wenn man boykottiert.

    Armbrüster: Aber übrig bleiben dann Fernsehbilder von etwa Angela Merkel mit Viktor Janukowitsch auf der Tribüne.

    Lemke: Ich habe ja anfangs gesagt, das muss jeder Politiker doch für sich entscheiden, ob er hingeht oder nicht hingeht, ob er die Möglichkeiten nutzt, mit dem Präsidenten, mit den Verantwortlichen dort zu diskutieren, gegebenenfalls auch versucht, mit Frau Timoschenko Kontakt aufzunehmen. Mit Dialog erreichen sie in der Welt – nicht nur in der Welt der Politik, sondern auch des Sports – immer mehr und glücklicherweise halten wir es in der Regel so, dass wir eben versuchen, den Sport nicht durch die Politik missbrauchen oder gebrauchen zu lassen.

    Armbrüster: Herr Lemke, was halten Sie dann von der Ankündigung von Frau Merkel, dass sie sich das noch mal ganz genau überlegen will mit ihrer Reise in die Ukraine?

    Lemke: Das finde ich völlig in Ordnung. Es gibt ja noch einige Wochen, in diesen einigen Wochen kann man durch Dialoge auch noch Veränderungen in der politischen Situation hinbekommen. Das ist viel, viel schlauer, als jetzt schon zu sagen, ich sitze auf keinen Fall irgendwo, ich werde auch nicht unsere Nationalmannschaft besuchen. Sie bestrafen ja damit auch den Sport und diejenigen, die sich jetzt sehr, sehr darauf freuen. Ich würde übrigens auch die Fußballspieler sehr genau informieren lassen über das, was im Augenblick in der Ukraine passiert. Fragen Sie doch mal einen Fußball-Nationalspieler, ob der Ihnen erklären kann, was die orangene Revolution zu bedeuten hat und was dahinter steht. Ich sage Ihnen, da gibt es eine Menge, was Sie tun können, positiv, um unsere Spieler und auch die Offiziellen zu informieren über das, was in der Ukraine politisch los ist, und das fände ich vernünftig, die Jungs vorzubereiten, damit sie auch Bescheid wissen, was in dem Land politisch vorgeht und was für eine Rolle dabei Frau Timoschenko spielt, die jetzt ja im Gefängnis sitzt mit einer schweren Erkrankung, was das bedeutet. Dialog ist besser als Boykott.

    Armbrüster: Würden Sie dann dafür plädieren, dass deutsche Fußball-Nationalspieler auch mit deutlichen politischen Statements auftreten?

    Lemke: Auch das muss ich jedem einzelnen überlassen.

    Armbrüster: Aber es wäre in Ordnung für Sie?

    Lemke: Natürlich! Das sind doch Staatsbürger. Das sind doch nicht nur Marionetten, die da hinfahren. Wenn ein Fußballer sich aufklären lässt oder aufgeklärt schon hinfährt, dann hat er Fragen, dann kann er in den Dialog gehen, dann kann er seine Fragen beantwortet bekommen oder nicht beantwortet bekommen. Aber dann hat er ein politisches Bewusstsein, das fände ich ausgesprochen positiv. Aber es darf eben nicht gesteuert werden, dass man sagt, du hast jetzt diese Position hier zu vertreten. Das ist ein Missbrauch des Sports aus meiner Sicht.

    Armbrüster: Ich frage das deshalb, Herr Lemke, weil Sie ja auch selbst betont haben, dass man eigentlich versuchen sollte, Sport und Politik irgendwie auseinanderzuhalten.

    Lemke: Ja! Das versuche ich gerade zu erläutern. Das müssen sie auseinanderhalten. Wenn jetzt die Regierung sagen würde, alle Fußballer dürfen da nicht hinfahren, wir boykottieren das, das wäre völlig unmöglich, sagt auch jeder, weiß auch jeder, dass das völlig unmöglich ist. Allerdings wissen Sie auch, dass bei der Olympiade in Moskau damals die Regierung so viel Druck ausgeübt hat, dass die deutsche Olympiamannschaft nicht daran teilgenommen hat.

    Armbrüster: Ja. – Wenn wir noch mal auf diesen aktuellen Fall jetzt blicken, den Fall Timoschenko, der ist ja schon einige Monate alt, reicht zurück ins vergangene Jahr. Die Debatte jetzt auf einmal ist vor wenigen Tagen hochgekocht. Kommt das alles irgendwie ein bisschen spät?

    Lemke: Nein, das kommt durch die Fußball-Europameisterschaft. Das ist doch genau der Punkt, den Sie auch kritisch sehen müssen. Wir diskutieren den Fall dort jetzt in der Ukraine doch nicht, weil es Frau Timoschenko so schlecht geht, oder weil die Ukraine möglicherweise Menschenrechtsverletzungen begeht, sondern wir diskutieren es jetzt aktuell, weil dort in wenigen Wochen die Fußball-Europameisterschaft stattfindet.

    Armbrüster: Aber auch das steht seit Jahren fest.

    Lemke: Ja! Aber dennoch diskutieren wir es jetzt, weil natürlich von der interessierten Seite jetzt das zum Thema gemacht wird, weil diejenigen, die dort diskutieren wollen, wissen, dass im Augenblick alles in die Ukraine schaut. Das ist doch völlig unzweifelhaft.

    Armbrüster: Wäre eine solche Diskussion nicht möglicherweise etwas gehaltvoller und etwas mehr zielorientiert, wenn man sie vor einem halben Jahr schon angefangen hätte?

    Lemke: Da haben Sie hundertprozentig Recht, weil entweder sind dort Dinge nicht korrekt, laufen nicht so, wie wir uns das als Demokraten vorstellen – bitte denken Sie daran, dass die Ukraine ja auch mit einer Mitgliedschaft in der EU liebäugelt. Da gehören diese Themen diskutiert, von da muss die Politik dann entsprechend auch einschreiten. Aber hier den Sport zu nutzen und zu sagen, ihr müsst boykottieren, oder ihr dürft da nicht hingehen, das ist ein absolut falscher Weg. ich finde, die Europameisterschaft, die soll positiv genutzt werden mit aufgeklärten Menschen. Das ist eine große Herausforderung, das sage ich Ihnen. Ich habe lange genug im Fußball gearbeitet. Gehen Sie mal zu einem Fußballfan, der jetzt in die Ukraine fahren will, um ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft anzuschauen, und sagen, du musst dich aber erst mal politisch informieren, bevor du da hinfährst.

    Armbrüster: ... , sagt der ehemalige SPD-Politiker und UNO-Sportberater Willi Lemke. Vielen Dank, Herr Lemke, für das Gespräch hier im Deutschlandfunk.

    Lemke: Danke schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.