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"Identitäten dehnen"
Performance über Migration

Flüchtlinge aus verschiedenen afrikanischen Staaten hatten an der Berliner Gerhart-Hauptmann-Schule um ein Bleiberecht in Deutschland gerungen. Das haben die Regisseure Monika Gintersdorfer und Max Klaßen zu einem afrikanisch-deutschen Theaterprojekt zusammengeführt. Gezeigt wird es in der Hamburger Kampnagelfabrik.

Von Michael Laages |
    Die Idee stammt vom französischen Philosophen Alain Badiou – und sie reagiert auf die unstrittige Tatsache, dass immer weniger Menschen sich politisch vertreten fühlen in der parlamentarischen Demokratie; in Deutschland etwa so:
    "Jetzt ist schon wieder die Merkel gewählt, es gibt eine Große Koalition, die sich nur blockiert. Man ist ja auch schnell frustriert, wenn man zum Beispiel die Grünen gewählt hat oder so."
    In solchen Fällen empfiehlt Badiou eine Art politisches Frustschutzmittel:
    "Alain Badiou schlägt vor, dass jeder sich einen Punkt im Realen sucht, eine Wahrheit, an der er sich festhalten kann, die ihn wieder stabilisiert. Und das können ganz einfache Wahrheiten sein – zum Bespiel: Nehmt an, dass alle Arbeiter, die hier arbeiten, von hier sind, und ehrt sie; besonders die illegalen Arbeiter. Oder auch: Es gibt nur eine Welt."
    Also keine Grenzen mehr. "Identitäten dehnen" nennt das Badiou; was bedeutet: Das eigene Ich zum Behauptungskern des politischen Alltags zu formen, ohne Rücksicht übrigens auf Mehrheiten. Weil Badious Gedanken zur umstandslosen sozialen Integration aller Flüchtlinge führen, kommen Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen mit ihnen bei den Flüchtlingen an, deren widerständige Geschichte sie erzählen, im Gesang der Flüchtlinge selber wie im Sprechgesang von zwei Übersetzern:
    "Am 8. September 2012 – 70 Asylbewerber nehmen ihren Mut in die Füße. 28 Tage Marsch von Würzburg nach Berlin."
    Es ist diese Gruppe, die mit der Besetzung von Oranienplatz und Gerhart-Hauptmann-Schule die Politik in der Hauptstadt herausfordert. Und natürlich ist der Theaterabend ein Plädoyer für diese Strategien des Widerstands gegen drohende Abschiebungen. Das Ensemble versteigt sich sogar zu recht steilen Theorien – etwa über die Fluchten zu Mauerfallzeiten vor 25 Jahren:
    "Mir kann doch keiner erzählen, dass das alles politische Flüchtlinge waren. Die wollten doch auch nur ihre Kaufkraft ausspielen, endlich mal Südfrüchte probieren und andere Autos kaufen. Ich glaube, die ehemaligen Bürger der DDR können die Flüchtlinge heute recht gut verstehen."
    Das bezweifeln wir vorsichtshalber mal: Der Polizeieinsatz an der Schule in Berlin war monströs und teuer und hat die Lage nur verschärft.
    "Sie haben viel ausgegeben, aber 40 sind geblieben."
    Nicht unbedingt und dauerhaft sind die beiden Motive des Abends verzahnt auf der Bühne: die Flüchtlingsgeschichte und Badious eher vage Theorie vom neuen bürgerlichen Bewusstsein. Neben der Selbstbehauptung der "people of colour", der farbigen Asylbewerber, sucht die Inszenierung zwar durchaus nach Bildern, nach Choreografien, die von gemeinsamem Kämpfen erzählen.
    Aber einmal mehr bleibt die theatralische Komponente (oder: die Kunst) hinter der politischen Behauptung zurück. Auch darum erreicht solches Theater immer wieder nur die Zustimmung derer, die eh Bescheid wissen.