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Idyll für gestresste Städter

Zu den touristischen Attraktionen Brasiliens zählt fernab der Küstenstrände das Barockstädtchen Ouro Preto, das reichste architektonische Ensemble des Tropenlandes. Die UNESCO hat es bereits 1980 als ersten brasilianischen Ort zum Weltkulturerbe deklariert. Während des Goldrauschs im 18. Jahrhundert war Ouro Preto sogar reicher als New York. Nicht wenigen Brasilianern aus lauten und bisweilen nervenzerfetzenden Megacitys wie Rio de Janeiro und Sao Paulo dient es als Fluchtpunkt, als romantische Oase der Ruhe.

Von Klaus Hart | 06.09.2009
    Auf dem Kopfsteinpflaster der malerischen Praça Tiradentes mit dem früheren Gouverneurspalast war einst der Sklavenmarkt - heute treffen sich dort vor allem abends die jungen Leute, Späthippies und Aussteiger zum Schwatzen, Flirten und Gitarrespielen. Eine Bundesuniversität macht Ouro Preto zum lebendigen Studentenstädtchen. Die vielen Wohngemeinschaften, "Republicas" genannt, vermieten gerne an Rucksacktouristen. Der bergige Teilstaat Minas Gerais gilt als Wiege der brasilianischen Kultur - und das 1711 gegründete Ouro Preto ist seit jeher seine kostbarste Preziose. Schöne, teils reich verzierte Wohn-und Geschäftshäuser im portugiesischen Kolonialstil sind von Rosen und exotischen Tropenpflanzen umrankt, haben schmiedeeiserne Balkone und Dächer aus roten Tonziegeln. Hübsche kleine Brunnen aus Granit oder griffigem Seifenstein sind mit Tierköpfen verziert, in den Gärten stehen Kokospalmen und Bananenstauden. Das Städtchen zieht sich über mehrere Hügel und besitzt Lateinamerikas ältestes Theater, in dem man einst sogar Bachs Matthäuspassion, von Mulatten komponierte Werke im Stile Joseph Haydns aufführte. Im Gewirr unglaublich steiler Gassen begegnet man garantiert einmal dem Kunstmaler Vandico, eine der originellsten Figuren Ouro Pretos, sogar Samba-und Karnevalskomponist.

    "Ouro Preto ist kosmopolitisch, wie ein Zauberhut, immer entdeckt man Neues - wer sich für Kunst interessiert, ist hier richtig, findet Museen, Galerien, 13 außergewöhnliche Barockkirchen. Dazu die Feste, die prachtvollen Prozessionen. Die Menschen hier, die Ouropretanos, sind kommunikativ, aber nicht aufdringlich. Hier respektiert man sich, pflegt man Freundschaften - wir sind wie eine große Familie. Ja - Ouro Preto ist spektakulär anders - Brasiliens Unabhängigkeit wurde schließlich hier geboren."

    Und dann improvisiert Vandico sogar noch seinen letzten Karnevalshit:

    Auf einer Kirchentreppe sitzend, lassen sich gut Milieustudien treiben - da ist vieles, was die Fantasie beflügelt. Der Blick fällt auf die felsigen Anhöhen um Ouro Preto. Während des Goldrauschs im 18. Jahrhundert schuften dort etwa 100000 aus Afrika verschleppte Männer über und unter der Erde, hausen in Hütten, an die Hänge geklebt - ein unglaubliches Gewimmel. Goldkörner waren meist unter einer schwarzen Kruste aus Eisenoxid - daher der Name Ouro Preto - schwarzes Gold. Revoltierende, ungehorsame Arbeitstiere werden öffentlich ausgepeitscht, aufgehängt, gevierteilt - Sklavinnen mitten in Ouro Preto massenhaft zur Prostitution gezwungen. Viele der Misshandelten, Erniedrigten entkommen und gründen in den Urwäldern um Ouro Preto Flucht-Dörfer, Quilombos. Wegen des Goldes erlebt die ganze Region wirtschaftlichen Aufschwung, widerspruchsvolle kulturelle Blüte. Kaum zu glauben, dass Ouro Preto damals jede andere Ansiedlung der beiden Amerikas, selbst New York, an Reichtum weit übertrifft. Man bewundert beim Rundgang die Rosario-Kirche - errichtet von Schwarzenbruderschaften. Denn in die Kirchen der Weißen durften wegen befohlener Rassentrennung die Dunkelhäutigen nicht hinein.

    In Ouro Preto fließt auch viel Blut, ereignen sich Hungersnöte, Aufstände, Seuchen, menschliche Tragödien jeder Art. Die portugiesische Krone fordert ein Fünftel allen Goldes für sich; lagert es in der imposanten Casa dos Contos, Münzprägerei und Sitz der kolonialen Finanzbehörde, mit düsteren Kellern für Sklaven und Häftlinge. Alles heute ein spannendes Museum, das die Gold-und Geldeintreiberei plastisch nachzeichnet. Reiche und weniger reiche Bürger, die dagegen rebellieren, werden von Kolonialsoldaten niedergeschossen, die Anführer geköpft. Der berühmteste ist Leutnant Joaquim José da Silva Xavier, wegen einschlägiger Fertigkeiten als Tiradentes, Zahnzieher, bekannt. Bevor just im selben Jahr wie die Französische Revolution seine freiheitliche Bewegung der Inconfidentes, der Treulosen, zur Tat schreiten kann, wird sie verraten, Tiradentes in Rio de Janeiro gehenkt und gevierteilt. Heute ist er Nationalheld Brasiliens. Seinen abgeschlagenen Kopf zeigt man Ouro Pretos Bewohnern zur Abschreckung just auf der heutigen Praça Tiradentes.

    Auf den Türmen der berühmten Igreja Nossa Senhora da Conceiçao schlagen schwarze Jungen die Glocken an, während unten am Portal eine Blaskapelle mit fröhlicher Marschmusik eine der berühmten katholischen Prozessionen Ouro Pretos eröffnet. Hunderte von biblischen Figuren schreiten über schöne, sinnträchtige Ornamente aus Blumen und gefärbten Sägespänen. Stets in der Nacht davor werden diese Kunstwerke von den Ouropretanos geschaffen - da wimmelt es in den Gassen kilometerlang von eifrig werkelnden Großfamilien, entsteht und festigt sich Gemeinschaftsgefühl, Spiritualität. Ein interessanter Brauch - und prompt wird man als Zugereister eingeladen, dabei mitzumachen.

    "Den Kindern bringt das viel Spaß - und uns Älteren auch. Jeder wählt sich frei ein Motiv aus, das irgendwie zur Prozession passt. Wir gestalten hier eine große Friedenstaube, schreiben groß das Wort Frieden auf die Straße. Und zum Schluss schauen wir uns an, welche Ideen die anderen hatten."

    Die Musikusse der Stadt unterhalten entlang der Prozessionsstrecke die ganze Nacht lang mit tropischen Serenaden, Sambas und sogar Walzern, schwingen manche dazu das Tanzbein.

    Priester, Ordensleute waren einst von der Krone bestgehasst, weil sie für Aufruhr in den Goldminen sorgten, bei den Revolten dabei waren. Bischöfe, Padres aus der Ouro-Preto-Region gelten auch heute als besonders sozialkritisch. Priester Danival Milagres Coelho ist einer davon - kennt Deutschland von vielen Reisen und rät den Deutschen, unbedingt einmal nach Ouro Preto zu kommen:

    "Das wird eine tolle Erfahrung, da erleben sie die ansteckende Fröhlichkeit von uns Brasilianern, da feiern sie mit uns und gestalten mal eine Prozession mit! Und schauen sich an, mit welchen ganz anderen Problemen wir uns hier herumschlagen."

    Padre Coelho plaudert vor seiner prachtvollen Pilar-Kirche mit den ausländischen Touristen, spielt vor dem Portal gerne etwas Fußball mit den Straßenjungs, mischt bei den vielen Volksfesten Ouro Pretos mit, wirft kiloweise Bonbons zwischen die Kindermassen. Wo gerade etwas los ist, kündigt Ouro Pretos Gauklerkapelle unüberhörbar an - mit Nachttöpfen auf dem Kopf ziehen die Musiker direkt zum Festplatz:

    Wer gerne Caipirinhas trinkt - die besten brasilianischen Cachaças kommen aus der Region von Ouro Preto. In kleinen Verkaufsbars wie dem "Milagre de Minas" kann man sie gratis durchprobieren. Kenner, darunter nicht wenige Frauen, dozieren dort über die besten Marken - und woran man einen wirklich guten Zuckerrohrschnaps erkennt:

    " "Beim Trinken muss man mehrere Geschmacksphasen auf dem Gaumen spüren und zum Schluss das pure Zuckerrohr - dann ist der Cachaça in Ordnung", "

    sagt Mauro Goncalves und lässt sich drei Flaschen der Marke "Canarinha" einpacken. Stückchen aus Cachaça-getränkter Gelatine sind noch so eine Ouro-Preto-Spezialität.

    Überall zudem schöne, sehr preiswerte Cafés - und Restaurants. Wer den Einheimischen ins beliebte "Chafariz" mit regionaltypischer Minas-Küche folgt, wird sich wundern - und womöglich weitere Brasilienklischees beerdigen. Denn dort findet man ein reiches, köstliches Buffet mit unerwartet deftiger Hausmannskost. Dort begreift man auf der Stelle, wieso Eisbein, Haxe und Sauerkraut auch in Brasilien so viele Anhänger haben.