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Im Boot mit Boston Jane

Letzte Seite gelesen. Man sitzt noch eine Weile mit Boston Jane auf dem Felsen vor der Bucht. Man blickt aufs Ruderboot, das sich gerade vom Schoner draußen in der Shoalwater Bay Richtung Land bewegt.

Von Siggi Seuß |
    Die Sonnenstrahlen hüpften auf dem Wasser und der Himmel wölbte sich strahlend blau bis zu den unglaublich hohen grünen Bäumen.

    Man ist einfach glücklich, weil dieses Teufelsmädchen Jane Peck, genannt Boston Jane, den ersten Winter in der Wildnis - 1854/55 - überlebt hat. 300 spannende Seiten lang. Und schon naht im Boot die nächste Herausforderung. Aber die wird sich erst in Band 3 der Trilogie um das Leben eines Siedlermädchens im Nordwesten der USA auflösen.

    Ich vernahm viele Geräusche - das Summen des Landes, das sanfte Plätschern der Wellen und die hoffnungsvolle Aufregung in den Stimmen der Siedler, die am Beginn eines neuen Lebens standen. Aber ein Geräusch übertönte alle anderen. Eine Stimme, scharf wie Glassplitter, kreischte über das Wasser.
    "Jane Peck!"


    Die amerikanische Autorin Jennifer L. Holm hat, nach ihrem preisgekrönten Debütroman "Amelia May", mit "Boston Jane" erneut den äußersten Wilden Westen - im Süden des Staates Washington - zur Zeit der großen Trecks lebendig werden lassen. Das Geheimnis ihres Erfolgs scheint in der geglückten Verknüpfung von historischer Szenerie, differenzierter Milieuschilderung, profilierter Personenzeichnung, lebensnahen Dialogen und einer gehörigen Portion Sentiment zu liegen. Letzteres führt zwar manchmal in die Gefilde des Melodrams -

    In dieser wilden, rauen, ungezähmten Landschaft, die mir einst so schrecklich kalt und unfreundlich vorgekommen war, blühte plötzlich Hoffnung, Unternehmungslust und Freundschaft. - Und ich schwöre, ich hörte eine Stimme in den Wellen, die unter uns an die Felsen schlugen: Daheim, flüsterte sie.

    Aber da Gefühle in dieser Geschichte vielschichtig und farbenfroh beschrieben werden, ist das zu verkraften. Gelbgrüner Neid folgt zartem Liebessehnen, gepflegte Konversation dem Poltern verlauster, bärbeißiger Kerle.

    Mit denen hat die inzwischen 16-jährige Ich-Erzählerin in Teil zwei der Geschichte - "Boston Jane und der unheimliche Fremde" - ihre liebe Not. Überall sieht sie - die den Siedlern die Wäsche wäscht, kocht und den besten Kuchen backt -, überall sieht sie sich von Ignoranten umgeben.

    Ein Klumpen ausgekauter schwarzer Tabak landete mit feuchtem Klatschen neben meinen Füßen.
    "Jetzt, wo Sie auf sind", sagte Mr Russell, und sein Backenbart zuckte, "können Sie wieder anfangen, Sachen auszubessern." Er hielt ein dreckstarrendes Hemd mit zerrissenem Ärmel hoch.
    Ich hatte die ganzen Monate seine Wäsche geflickt und gestopft und Essen gekocht, um mir meinen Unterhalt zu verdienen; allerdings hatte unter den elenden Bedingungen er das bessere Geschäft gemacht.
    "Das ist das Einzige, was Sie interessiert? Dass Sie Ihre Näherin verlieren könnten?"
    Er zuckte die Achseln. "Oh, Ihre Kocherei würde ich auch vermissen. Kochen liegt Ihnen zwar nicht besonders, aber ich hab schon Schlimmeres gegessen."
    "Ich bin nicht ihr Dienstmädchen!", schrie ich.


    Im nächsten Augenblick aber wärmen ihr die Freundlichkeit der benachbarten Chinook-Indianer und die unglaubliche Schönheit des Landes die Seele. Dass sich hinter den rauen Fassaden mancher Mannsbilder Herzensgüte verbirgt, das entdeckt Jane erst, als sich Leidenschaft und Kratzbürstigkeit etwas besänftigen. Doch dazu bedarf es einiger schmerzlicher, ja sogar lebensgefährlicher Erfahrungen. Dann wird sie Jehu, der sie liebt, mit anderen Augen betrachten. Oder den kauzigen Ethnologen James Swan, der wie ein Vater zu ihr ist. Oder eben den Tabak spuckenden Mr Russell, der sie aufnahm, als der Mann, wegen dem sie in die Wildnis kam, eine andere heiratete. Zu allem Übel taucht dazu nicht nur eine elegante junge Dame mit perfekten Manieren auf, sondern auch noch ein unheimlicher Gentleman, der anscheinend mit dem alten Russell eine Rechnung zu begleichen hat.

    Das klingt schon wieder nach Melodram und könnte als Vorlage für eine veritable TV-Wildwest-Saga dienen. Gar keine schlechte Idee. Boston Jane und ihre Freunde würden dabei zwar manchmal fast im Morast des wilden Landes versumpfen, aber nicht in Sentimentalitäten.

    "Ist alles in Ordnung?" fragte Jehu mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
    "Nein!", wimmerte ich. "Ich bin klatschnass, meine Röcke sind dreckig, ich stinke nach Skunk, und ich werde hier in der Wildnis sterben!"


    Jennifer L. Holm schreibt ihren Figuren viel zu gute ironische Dialoge auf den Leib als dass sie in Sentimentalitäten versumpfen könnten. Außerdem ist das Milieu so realistisch, dass man - vom Fels an der Bucht ins Hier und Jetzt zurückgekehrt - zuerst den Rand McNally-Atlas aufschlägt, um die Shoalwater Bay zu suchen, die heute Willapa Bay heißt. Und während sich der Leseabenteurer nach dem Reisebericht des echten James Swan sehnt, "The Northwest Coast or Three Years‘ Residence in Washington Territory", wird zum Trost ein Fisherman‘s Pudding verspeist, natürlich aus Pökelfleisch, Maismehl, Wasser und Sirup. Ein bisschen süßlich zwar, aber so bekömmlich wie die Lektüre der Geschichten von Jane Peck, genannt Boston Jane.

    Jennifer L. Holm
    Boston Jane und der unheimliche Fremde
    Cecilie Dressler Verlag, 256 Seiten, EUR 12,90