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Im Schatten der Gebrüder Mann

Die Aufmerksamkeit der Biografen für die Familie Mann hält unvermindert an. Nun gibt es auch eine Biografie über Clara Mann, die jüngste Schwester von Heinrich und Thomas, die sich im Alter von 28 Jahren das Leben nahm.

Von Wilfried F. Schoeller |
    Vermutlich bildet die Familie Mann samt ihrer Angehörigen den triumphalen Schreiberclan in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, Mystagogen und vor allem der Biografen für sie hält unvermindert an. Sogar Erika wie Elisabeth und Monika Mann wurden lebensgeschichtlich plastifiziert. Eine aber fehlte bisher, obwohl sie im Zentrum der ebenso repräsentativen wie prekären Motivwelt des Clans agierte: Carla Mann, die jüngste Schwester von Heinrich und Thomas, 1881 geboren und geendet im Juli 1910 nach eigenem Entschluss durch eine Dosis Zyankali im Alter von 28 Jahren. Sie lebte wie ihre Brüder in der Spannung von Künstlertum und Bürgerlichkeit, Sehnsucht nach einer inneren Verfassung, die sich Thomas Mann mit seiner Heirat gab, und einem Bohemedasein, dem Heinrich Mann lange frönte. Sie trug Konflikte aus, die den beiden Brüdern zum Ruhm verhalfen, besser: Carla Mann wurde von diesen Konflikten zugrunde gelebt.

    Der Kulturwissenschaftler Willy Jasper, der unter anderem zwei biografische Studien über Heinrich Mann vorgelegt hat, nahm sich ihrer an und zeichnet aus den nicht gerade überreichlich sprudelnden Quellen ein sehr lesenswertes und aufschlussreiches Porträt. Er schreibt:

    "Es ging um patriarchalische Vorherrschaft und ödipale Verstrickungen, um eine dramatische Beziehungsgeschichte der Generationen, Geschwister und Geschlechter, die mit den Katastrophen der Zeitalter verknüpft war."

    Carla war ein Neben-Ich der beiden Brüder, und sie legte ebenso Hand an sich wie ihre ältere Schwester, die sich ins bürgerliche Lager gerettet hatte, die Bankiersgattin Julia Löhr, 17 Jahre später. Thomas Mann äußerte nach Carla Manns Tod harte Worte des Unverständnisses wie dann 1949 nach dem Selbstmord seines Sohnes Klaus. Heinrich Mann dagegen übernahm eine Mitschuld am Schicksal seiner Schwester.

    Willy Jasper erzählt, wie wenig Chancen sich ihr boten: Nur durch eine bürgerliche Partie oder einen einträglichen Beruf hätte sie sich von ihrer finanziellen Abhängigkeit befreien können. Aber für beides war sie nicht geschaffen; sie wählte die Kunst. Sie sprach am Münchner Hoftheater vor – und wurde angenommen. Eine zehnjährige Odyssee verschlug sie auf Bühnen vor allem der Provinz. Die Orte, an denen sie engagiert war, hießen beispielsweise Zittau, Braunschweig, Kassel, Reichenberg in Böhmen, Königshütte, Flensburg und zuletzt Mühlhausen im Elsass.

    Ihre Ausstattung hatten die Damen selbst zu besorgen. Wenn elterliches Vermögen nicht ausreichend zur Verfügung stand, mussten den jungen Künstlerinnen Gönner, sprich: Liebhaber weiterhelfen. Willy Jasper hält sich mit der Schilderung entsprechender Affären zurück, er wahrt Distanz, aber auch ihr Fall ist eindeutig, sie hatte keine andere Wahl. Carla Mann war am Ende ihres wechselvollen Bühnendaseins entmutigt, sie hatte ihre Selbstachtung verloren und überlegte gar, sich in einem Tingeltangel von Philadelphia zu verdingen.

    Einige Größen der deutschen Geistesgeschichte haben ihren Weg gekreuzt. Sie war in enger Verbindung mit dem Kunsthändler und Dandy Alfred Flechtheim sowie mit dem jüdischen Philosophen Theodor Lessing, der über sie auch einige wohlwollende Theaterkritiken geschrieben hat. Sie bevorzugte erotisch einen Typus, dem sie gleichsam automatisch verfiel, wenn er auftauchte:

    "Es ist einfach der Jude, der verfeinerte natürlich, mit schönen Händen, sehr breitem Mund, schweren Augenlidern, glattrasiert, und ganz ausgefüllt mit Literatur. Wenn dieser kommt und mich liebt, und er liebt mich immer, so bin ich wehrlos."

    Die stärkste Wirkung auf sie übte jedoch der Bruder Heinrich Mann aus. Sie bot ihm ihre dramatischen Episoden und Intrigen auf der Bühne als Stoff für seine Novellen und Romane an – und er machte reichlich Gebrauch davon. Einige Prosastücke enthalten geradezu ein Stichwortregister ihrer Existenz: das Spiel der Nerven, narzisstischer Stolz, Einsamkeit erotische Abenteuer, aber auch Lebensferne und hinter allem das Spielertum hier wie dort. Kurz nach der Jahrhundertwende bestand die engste Verbindung zwischen den beiden. Heinrich Manns Münchner Schlüsselroman "Die Jagd nach Liebe" von 1903 taucht die Beziehung zwischen Bruder und Schwester in das skandalöse Zwielicht einer inzestuösen Nähe. Doch dieser Enthüllung in der Fiktion entspricht kein Beweis in der Lebenswirklichkeit: Zeugnisse und Dokumente fehlen. Bruder Thomas widerte, wie er schrieb, "die schlaffe Brunst in Permanenz, dieser fortwährende Fleischgeruch" in diesem Roman an. Seit 1905 zog sich Heinrich Mann, unter dem Eindruck seiner Geliebten Inès Schmied von Carla etwas zurück; er präferierte nun auch in seiner Literatur einen anderen Frauentypus.

    Seine Schwester hatte ihm literarisch genützt, in ihren letzten Prüfungen war sie allein. Sie wiederum sonderte sich, ihr Scheitern auf der Bühne vor Augen und als "Gefallene" geltend, von der Mutter und ihrem Bruder Thomas ab, war nicht einmal auf seiner Hochzeit zugegen.

    Sie probte den Rückweg ins bürgerliche Dasein, verlobte sich mit dem Industriellensohn Arthur Gibo, einer seltsam konturenlosen Figur, hatte wohl auch noch eine Affäre mit einem Arzt. Dann der Selbstmord, ohne Abschiedsbrief, ohne Erklärung. Eine offizielle Version sprach von einem Schlaganfall. Kein Obduktionsprotokoll hat sich erhalten, kein Nachlass von ihrer Hand gefunden, ihr Tagebuch ist verschwunden. Die Familie hat gründliche Arbeit geleistet, um das letzte Geheimnis ihres Lebens zu bewahren. Heinrich Mann schrieb 1910 das dreiaktige Stück "Schauspielerin" und das Konvolut der Aufzeichnungen dazu, die in die Fiktion münden, ergeben das am meisten aufschlussreiche Material.

    Willy Jasper legt den Schluss nahe, dass dieser frühe Tod einen Schlüssel enthält für die nachfolgenden Katastrophen, die sich in diesem Clan ereigneten. Seelenkälte und literarischer Vampirismus der schreibenden Brüder haben für ihn in Carla ein Opfer gefunden. Eine dramatische Biografie, das Material sorgsam aufgearbeitet, jedwede Kolportage vermieden – das Buch von Willy Jasper ist für alle Jünger des Mann-Clans unverzichtbar.

    Willi Jasper: "Carla Mann. Das tragische Leben im Schatten der Brüder", Propyläen