Freitag, 26. April 2024

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Impressionen vom Choriner Musiksommer
Das "deutsche Glyndebourne"

Die Sommerfestivalkultur nach englischem Vorbild wie Glyndeboure begann in der BRD ab den 1970er-Jahren in Schleswig-Holstein, befördert durch das Engagement des Pianisten Justus Frantz. In der DDR war man erstaunlicherweise einige Jahre früher dran. Der Choriner Musiksommer gilt als das älteste Klassikfestival in Ostdeutschland.

Von Claus Fischer | 12.07.2016
    Viele Besucher sitzen am 25.06.2016 in Chorin (Brandenburg) bei Regenschauern während des Eröffnungskonzertes des Choriner Musiksommers in der Klosterruine
    Beeindruckende Spielstätte: die Kirche des Klosters Chorin (dpa / picture alliance / Bern Settnik)
    Sie sei nicht sonderlich malerisch, die Ruine des Klosters Chorin, schreibt Theodor Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Doch das Empfinden von Schönheit hat sich deutlich gewandelt. Heute ist Chorin eines der wichtigsten Ausflugsziele für Touristen in Brandenburg – und für stressgeplagte Hauptstadtbewohner.
    "Es ist ja wirklich so eine schöne Landpartie, auf die man sich hier gerade aus Berlin heraus begeben kann…"
    …betont der Intendant des Choriner Musiksommers Christoph Drescher…
    "Und dann sitzt man in diesem Kloster, mitten im Grünen, kann dann nach dem Konzert noch ein Bad im See nehmen und hört nebenbei auch noch gute Musik. Es ist ja wirklich im besten Sinne einfach, so ein Gegenentwurf auch zu Salzburg und solchen Festivals. Es braucht keine Krawatte, es braucht nicht viel Geld, um hier reinzukommen, man kommt einfach, wenn man Lust hat. Man kann auch kurze Hosen anhaben und die Musik genießen."
    Musik: Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5
    Festival mit langer Geschichte
    Der erste Choriner Musiksommer fand vor 53 Jahren statt. Geboren, so erzählt Christoph Drescher, wurde die Idee im zehn Kilometer entfernten Eberswalde.
    "1963 war es schlichtweg so, daß mein Vorgänger und Festivalgründer Gunther Wolff als junger Doktorand hier an der Hochschule für Forst war. Und – wie es zu DDR-Zeiten üblich war – sagte man: 'Wir brauchen mal ein bißchen Kultur zur Erbauung der Werktätigen. Können wir da nicht mal was organisieren?' Und da Herr Wolf ganz kulturinteressiert war, wurde er dann beauftragt: 'Denk dir doch mal was aus!' Und er kam dann von Eberswalde aus auf die Idee, zu sagen: 'Ach da gibt’s doch diese Klosterruine, wollen wir nicht da mal hingehen.'"
    Gerd Müller ist seit der ersten Ausgabe des Festivals als Helfer dabei. Damals, so erinnert er sich, gab es nicht dreißig, sondern nur drei Konzerte.
    "Da wurde das Programm per Schreibmaschine ausgeschrieben."
    Anders als heute wurde der benötigte Konzertflügel nicht gleich nach dem Konzert von einer Spedition abgeholt, sondern blieb über Nacht stehen.
    "Also mußten wir wirklich zwei, drei Mann abstellen, die Nachtwache machen mußten und den Flügel bewachen."
    Der Choriner Musiksommer wuchs stetig und wurde, so Christoph Drescher, bald auch in der damaligen Hauptstadt der DDR wahrgenommen.
    "Schon Ende der Sechziger Jahre war der Vorläufer des heutigen Konzerthausorchesters hier, also die haben eine fast fünfzigjährige Chorin-Geschichte."
    Fast ebenso lange ist das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt an der Oder beim Choriner Musiksommer zu Gast. Dessen Chefdirigent, der Brite Howard Griffiths, schätzt besonders den Hauptspielort, die Ruine der gotischen Klosterkirche mit ihrer hölzernen Dachkonstruktion.
    "Das hat eine natürliche Akustik, das sehr schön ist hier zu spielen. Wir sind ja geschützt auch. Die Kirche hat eigentlich einen Kirchenklang, aber ohne zu viel Nachhall zu geben, weil die Kirche ist ja offen!"
    So braucht man in Chorin keinerlei elektronische Verstärkung. Helfer Gerd Müller amüsiert sich regelmäßig, wenn ihn die Festivalbesucher fragen, wo denn die Mikrofone hängen.
    "Dann sage ich: hier gibt’s keine Mikrofone. Nur bei der Ansprache gibt’s Mikrofon, sonst geht es ohne Technik!
    Musik: Schubert, Sinfonie Nr. 9
    Traditionelles Konzertrepertoire steht im Mittelpunkt
    Auftritte diverser Sinfonieorchester aus Deutschland und dem benachbarten Ausland bilden traditionsgemäß den Schwerpunkt beim Choriner Musiksommer. Aufgrund der Akustik bietet sich das an. Kammermusikensembles oder Barockorchester lädt Christoph Drescher deshalb bewußt nicht ein, auch wenn er häufig Anfragen bekommt.
    "Gerade bei der Größe des Publikums, das wir haben, bis zu 2000 Leute pro Konzert, bei der Tatsache, daß etliche Leute auf der Wiese sitzen, das Orchester gar nicht sehen und auch alles nicht im Detail hören können, da muß man Zugeständnisse machen."
    Und das betrifft auch das gespielte Repertoire, überwiegend Standardwerke, die man häufig hört. So war z.B. das Brandenburgische Staatsorchester aus Frankfurt an der Oder mit dem Schweizer Pianisten Oliver Schnyder und Beethovens Fünftem Klavierkonzert zu erleben. Das Orchester des Staatstheaters Cottbus unter Leitung von Generalmusikdirektor Evan Christ hatte Schuberts "Unvollendete" im Programm und im zweiten Teil die Große C-Dur-Sinfonie.
    "Also sicherlich werden wir in Chorin nie einen Lachenmann-Zyklus haben",
    meint Christoph Drescher augenzwinkernd…
    "Grundsätzlich ist ja auch nichts Schlimmes an Beethoven-Sinfonien, an Dvorak und all dieser guten Musik, die das Publikum gerne hört. Meine Erfahrung in den letzten zwei Jahren ist: die Leute sind durchaus neugierig. Und wenn wir in diesem Jahr mit dem Konzerthausorchester erstmals Philip Glass´ Violinkonzert haben, erstmals Mimimal Music in Klostermauern, das ist doch schon was Besonderes, das ist auch was Mutiges."
    Herzensangelegenheit Europa
    Mutig präsentierte sich auch der Chefdirigent des Brandenburgischen Staatsorchesters Frankfurt an der Oder, der Brite Howard Griffiths dem Publikum in Chorin, zwei Tage nach dem Brexit-Referendum. Er ergriff das einzige vorhandene Mikrofon und betonte, daß er – schon aufgrund seiner Arbeit – in der EU bleiben möchte.
    "Das ist für mich ein Schock! Ich hab das nicht erwartet und bin sehr traurig!"
    Die Zukunft Europas liegt auch Intendant Christoph Drescher am Herzen. Um die weitere Profilierung des Choriner Musiksommers voranzutreiben, betont er, sei es wichtig, nach Polen zu schauen, ist die Grenze doch nur rund 25 Kilometer entfernt.
    "Das Programmheft hat neuerdings auch eine polnische Übersetzung mit drin, es gibt eine polnische Website. Das aber auf beiden Schienen: es geht nicht nur um polnisches Publikum, das zunehmend kommt, sondern es geht auch um polnische Orchester. In diesem Jahr ist die Stettiner Philharmonie bei uns, letztes Jahr war Poznan da. Und da gucken wir natürlich, daß wir Grenzen überwinden und das ist ja auch in Brexit-Zeiten ein wichtiges Signal."
    Musik: Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5