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Indie-Game "The Witness"
Keine echte Geschichte, aber revolutionäre Ergebnisse

Jonathan Blow veröffentlicht mit "The Witness" ein philosophisches Rätselspiel: Das Indie-Computerspiel ist eine Mischung zweier grundverschiedener Genres: Der Spieler löst Rätsel, erkundet aber auch eine menschenleere Insel.

Von Kai Löffler | 22.02.2016
    Noch vor knapp zehn Jahren bestand die unabhängige, also Independent-Videospiel-Szene, aus experimentierfreudigen Programmierern, die fernab vom Rummel des Mainstreams die Grenzen des Mediums testeten, für eine Handvoll Eingeweihter. Dann kam "Braid".
    Als originelles Jump&Run-Geschicklichkeitsspiel mit philosophischem Ansatz wurde Braid 2008 zum ersten Indiespiel-Blockbuster - und Entwickler Jonathan Blow über Nacht zu einem Superstar der Szene. Seitdem hat er an seinem neuen Spiel gearbeitet, das jetzt nach acht Jahren endlich erschienen ist.
    "The Witness" heißt das ambitionierte Spiel, das nicht nur optisch einiges hermacht, sondern mit knapp 40 Euro auch doppelt so viel kostet wie die meisten anderem Indie-Titel. "The Witness" ist eine Mischung zweier grundverschiedener Genres: Zum einen ist es ein Rätsel- oder Puzzlespiel und gleichzeitig ein Open-World-Spiel, in dem der Spieler eine opulente, weitläufige Insel erkundet.
    "Bei Witness hat diese Welt drumrum eine sehr wichtige Funktion."
    Krystian Majewski ist Dozent am Cologne Game Lab und selbst Spieleentwickler:
    "Die besten Tipps, die man gibt, wenn man irgendwo steckenbleibt in so einem Spiel sind dann: Mach mal fünf Minuten Pause, mach irgendwas anderes. Und komm noch mal mit frischem Verstand zurück. Und frischen Augen."
    Normalerweise heißt das: Computer ausschalten, Kaffee kochen, vielleicht ein paar Schritte laufen. Was Majewski in diesem Fall meint, ist aber nicht die klassische Zigarettenpause. Das Spiel läuft weiter und man geht einfach zu einem anderen Teil der geheimnisvollen Insel und wendet sich dort einem anderen Rätsel zu.
    Rätsel nach gleichem Prinzip
    Die Rätsel funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip. Der Spieler zeichnet den Weg durch Labyrinthe auf Monitoren, wobei die Linie von A nach B zunehmend komplizierten Regeln folgt. Schwarze Punkte müssen von der Linie berührt werden, bunte Vierecke müssen durch sie voneinander getrennt werden und so weiter. Erklärungen gibt es keine; nur durch Ausprobieren und langsames Herantasten lernt man die Prinzipien der mathematischen Rätsel, ist gezwungen kreativ zu werden, in neuen Bahnen zu denken und auch ab und zu mal Papier und Stift zur Hand zu nehmen. Daraus spricht die Philosophie von Entwickler Jonathan Blow, sagt Krystian Majewski.
    "Er spricht von einer Art mathematischem Realismus, also dass Mathematik eine fundamentale Sprache des Universums ist. Über Mathematik nachzudenken, ist ihm die höchste Kunst der Welt. Und über Kunst, Wissenschaft oder so etwas zu sprechen, das ist ein paar Stufen weiter unten."
    Ein einzigartiges Kunstwerk
    In vieler Hinsicht ist "The Witness" trotzdem ein einzigartiges Kunstwerk. Die menschenleere, grafisch wunderschöne Insel offenbart ihre Geheimnisse in Form von mp3-Playern, die philosophische Zitate abspielen und steinerne Figuren in bedeutungsschwangeren Posen. Handelt es sich um zu Stein erstarrte Menschen oder um elaborate Statuen? "The Witness" gibt keine eindeutigen Antworten. Gleichzeitig tut sich Jonathan Blow gerade mit dieser Ambivalenz schwer, findet Krystian Majewski.
    "Er klinkt sich häufig in Diskussionen ein. Er hat mehrere Google-Alerts aufgebaut, die nach seinem Namen suchen. Das heißt, es gibt dann immer den lustigen Spruch: Wenn man dreimal nach Jonathan Blow ruft, kommt Jonathan Blow angeflogen."
    Vor allem in Onlinediskussionen seines legendären Spiels Braid hat Blow sich gerne eingeklinkt - und auch schonmal Fans zurechtgewiesen, wenn er mit deren Interpretation nicht einverstanden war.
    "Da merkt man eben, dass Jonathan Blow kein Künstler in dem Sinne ist. Als Künstler hat man seine Möglichkeit, sich auszudrücken, das ist dann das Werk. In die Diskussion später einzusteigen und zu sagen, nein, das hab ich ganz anders gemeint und das habt ihr alles missverstanden, das ist einfach ein faux pas."
    Motivation aus dem Erfolgserlebnis
    Blow redet allerdings nicht nur gerne über die eigenen Spiele. Ein großes Anliegen ist ihm ethisches Spieldesign. Und so kritisiert er gerne unethische Spiele, die bewusst darauf ausgelegt sind, möglichst viel Zeit und manchmal auch Geld zu verschlingen, ohne einen echten Gegenwert zu liefern.
    "Zum Beispiel Münzen bei "Super Mario", die man sammeln kann, aber es ist eben keine Herausforderung, die zu sammeln. Das heißt, die Zahl, mit der man am Ende das Spiel beendet ist so ein bisschen willkürlich, also die sagt nichts darüber aus, wie gut oder wie schlecht man das Spiel spielt."
    In Blows Spielen soll die Motivation aus dem Erfolgserlebnis erwachsen; die Belohnung ist die Erkenntnis, Schritt für Schritt die Sprache des Spiels gelernt zu haben.
    "The Witness" hat keine echte Geschichte und weigert sich konsequent, auf seine eigenen Fragen Antworten zu geben. Aber auch wenn diese Ambivalenz manchmal frustrierend ist, ist das Spiel eine faszinierende Verbindung zweier scheinbar unvereinbarer Elemente. Denn wenn Umgebung und Rätsel zusammenarbeiten, wenn Licht, Schatten oder sogar Geräusche plötzlich Teil der Lösung werden, ist das Ergebnis spektakulär und revolutionär.
    Sehr befriedigend ist außerdem, was sich am ehesten mit dem Erlernen einer neuen Sprache vergleichen lässt: Wenn ein zuvor unlösbares Labyrinth plötzlich offensichtlich erscheint und sich so - auf der Insel wie im Kopf des Spielers - eine lange verschlossene Tür öffnet.