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"Inferno. Oppiano Licarico"

Der Kubaner José Lezama Lima war lange ein Geheimtipp nicht nur in Lateinamerika; denn er ist ein Autor, der für Schriftsteller, Literaten und für leidenschaftliche Leser schreibt; und alle drei Adressaten stellt er auf eine schöne, harte Probe. Besteht er doch darauf, dass die ganze Geschichte Kubas eigentlich mit der Poesie beginnt.

Von Hans-Jürgen Schmitt | 02.12.2004
    Seine Lyrik erreicht Mallarmé’sche Höhen. Sein Anti-Roman "Paradiso" wie dessen jetzt auf deutsch erschienene Fortführung Inferno. Oppiano Licario sind Leseabenteuer der Sonderklasse; seine Essaybände das Luzideste und Kühnste, was Lateinamerika in dieser Kunstform hervorgebracht hat. Nicht nur Julio Cortázar, sein ausdauerndster Leser, kommt zu dem Schluss:

    Ein Werk, das es schwer haben wird, seine Leser zu finden, weil es alle Gattungen mischt und transzendiert. Wo beginnt der Roman, wo endet das Gedicht, was bedeutet diese Anthropologie, die sich mit einer Mantik überschneidet, die auch eine tropische Folklore ist, die auch eine Familienchronik ist?
    Vargas Llosa, der journalistische Vollbluterzähler, der in seinen Essays so fein Literatur zu interpretieren weiß, registriert "verwirrte Bestürzung und Unsicherheit hinsichtlich des poetischen Systems", und rettet sich mit dem Lob: "als erzählerisches Universum" sei Paradiso "ohne Zweifel eines der gewagtesten und meisterhaftesten literarischen Abenteuer..."

    Wer ist dieser Poet Kubas, dem neben dem Argentinier Borges die größte Hochschätzung lateinamerikanischer Autoren zuteil wird?

    José Lezama Lima wurde 1910 in Havanna geboren, wo er auch 1976 starb; sein Vater war Artillerieoberst, seine Mutter, Tochter revolutionärer Emigranten. Seine Asthmaanfällen, die ihn seit der Kindheit plagten, machten ihn früh zum Einzelgänger. Mit zehn Jahren las er den Don Quijote. Gelebt hatte er anfänglich von seiner Anwaltspraxis und später als Beamter verschiedener kubanischer Kulturinstitutionen, was ihn in den Augen einiger in ein Zwielicht setzte -unberechtigt, wie uns scheint. Denn für die kubanischen Revolutionsbürokraten war Lezama Lima wegen seiner universellen Bildung, seines Katholizismus und seiner Homosexualität immer suspekt.

    1979 erschien Paradiso auf deutsch in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason; das Fragment Inferno hat jetzt Klaus Laabs gut verdeutscht; der Verlag hätte ihm allerdings nicht auf dem Klappentext "meisterhafte Eindeutschung" bescheinigen müssen! Lezama Lima ist für seine Übersetzer eine ungeheuere Herausforderungen. Er ist ein karibischer poeta doctus. Seine brillante Kenntnis sowohl der mythischen Welt des präkolumbianischen Amerikas wie der europäischen Kunst und Literatur erscheint in seinem Werk eingeschmolzen als "amerikanische Ausdruckswelt", so der Titel eines berühmten Essays. Eine episch gebaute Handlungsstruktur gibt es weder im Hauptwerk noch im Fragment. Paradiso und seine Fortsetzung "Inferno.Oppianao Licario" sind Bildungsroman, Autobiographie und poetologischer Entwurf. So sind zum Beispiel die Romanfiguren auch Metaphern oder Bilder.

    Im ersten Kapitel überrascht den Leser der dramatische, fast realistisch erzählte Beginn: man wird mit einer brutalen Geschichte konfrontiert; die aber alsbald ins Surreale umschlägt: eine Bande findet den zu den Rebellen gehörenden Vater nicht im Haus, sie erschießt darauf den 18-jährigen Sohn José Ramiro, in den die junge Nachbarstochter Delfina verliebt ist; sie entdeckt im Garten seinen zerstückelten Leichnam, der in einem visionären Bild wieder aufersteht. Freilich wird dieser flüchtige Blick auf die kubanische Geschichte sofort abgebrochen. Keine Fortsetzung der Handlung. Es geht Lezama Lima um die Entdeckung von Körper und Körperlosigkeit. Ein wunderbares Beispiel dieses gedichteten, nicht erzählten Romans ist das vierte Kapitel, in dem die Kunstfigur Oppiano Licario von seinem Schöpfer erweckt wird:

    Um zwei Uhr morgens ergriff Oppiano Licario das Gefühl, als erwache er auf fremder Erde. Er war schlaflos von Geburt, er schloss kein Auge, jede Nacht war vier Nächte und sechs Zigarren. Die Nacht setzte ihm Widerstand bis zur Unmöglichkeit entgegen, und doch fühlte er in ihr seine Haut als Netz, als im Quarz gebrochenes Mondlicht, als Wellenschlag, Schulter, Schreie vor Erreichen des Bollwerks.
    Die Figur Oppiano Licario ist eine Allegorie, eine in Bilder gefasste Darstellung des Wahnsinns des Schriftstellers und seines Bundes mit den dunklen, magischen Mächten.

    Will man also eine Art "Haupthandlung" erkennen, so ist festzuhalten: nebst der titelgebenden Figur Oppiano Licario tauchen auch die meisten Gestalten aus Paradiso wieder auf. Die Szenen spielen teils Paris und teils in Havanna; dort in Havanna trifft Fronesis, dem seine "noble Sorglosigkeit" Fallen stellt, Cemí, dessen kubanische Kindheit und Jugend Thema von Paradiso sind. Cemí schließt einen Liebesbund mit Ynaca Eco; sie können nur durch das Bild befruchtet werden und in eins miteinander verschmelzen:

    Nie zuvor war Cemí dem Weib so nahe gewesen, im selben Kreis, gelenkt vom Eros. Er spürte Begierde, den Kampf des Bildes mit ihrem Blut, ihrer Haut, ihrem Haar. Ein Punkt, Reduktion des fremden Leibes im Inneren desselben Kreises, schwirrte über den ganzen Körper...Jedes mal, wenn er die Augen schloss, sprang das Verlangen eins zu werden und miteinander zu verschmelzen, von seinem Körper auf den anderen über... In Ynacas Gegenwart spürte er zum ersten Mal den Weg des Wassers zum Salz, den Weg des Salzkristalls, der im Feuer zergeht.

    Das ist ein hochkomplexes "Erzählen" in wundersamen Bildern, und in einem funkelnden Essayismus.- Denn es sind in Paradiso wie im Fragment essayistische Einsprengungen, Formen und Farben einer scheinbar wild wuchernde barocken Bildlichkeit die die Substanz des Anti-"Romans" bilden.

    Man kann von Kapitel zu Kapitel in Inferno lesend wandern, immer findet man "schöne Stellen", die höchstes Entzücken auslösen. "Einzig was schwierig ist, regt an", wird der Autor immer wieder zitiert. Wohlan, lasst uns deshalb Lezama Lima lesen!