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Inszenierung in Potsdam
Wie wir wurden, was wir sind

"Unterhaltung mit Haltung" lautet das Motto, das die neue Intendantin Bettina Jahnke ihrer ersten Spielzeit am Potsdamer Hans-Otto-Theater gegeben hat. Zum Auftakt inszeniert die Chefin persönlich einen echten Ost-Stoff: Eugen Ruges Familienroman "In Zeiten des abnehmenden Lichts".

Von Barbara Behrendt | 23.09.2018
    Bettina Riebesel, Rita Feldmeier, Joachim Berger, Nadine Nolla, Henning Strübbe, René Schwittay, David Hörning und Ulrike Beerbaum in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" am Hans-Otto-Theater
    Bettina Riebesel, Rita Feldmeier, Joachim Berger, Nadine Nolla, Henning Strübbe, René Schwittay, David Hörning und Ulrike Beerbaum in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" am Hans-Otto-Theater (Thomas M. Jauk / Hans-Otto-Theater)
    Geschont hat sich Bettina Jahnke nicht. Eine neue Intendantin, die sich auch künstlerisch sofort ins Feuer stellt und die erste Saison mit einer eigenen Regiearbeit eröffnet - das ist mutig.
    Schon mit dem ersten Bild ist die Atmosphäre dieses Abends gesetzt: Alexander kauert, die Knie an die Brust gezogen, auf einem düsteren Gerüst - eine Hotelfassade, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Eine musikalische Montage aus DDR-Zitaten von Walter Ulbricht über Günter Schawobwski bis Ronald Reagan folgt, gefühlvolle Musik soll in die rechte Stimmung versetzen, wenn Alexander den ersten Brief an seine Ex-Freundin vorliest.
    Das DDR-System zerfallen sehen
    "Liebe Marion. Die Sache ist die. Ich bin plötzlich in Mexiko. Liebe Marion. Sie nennen es Non-Hodgkin-Lymphom. Ein Krebs des Immunsystems. Irgendwelche verrückt gewordenen T-Zellen, die mich langsam umbringen werden. Meine eigenen Abwehrzellen, die sich plötzlich in feindliche Monsterzellen verwandeln. Komisch, nicht wahr? Es gibt nichts herauszuschneiden. Nichts zu lokalisieren. Es ist mein Immunsystem. Ich bin meine Krankheit."
    Ein elegischer Start, der Alexander als larmoyanten Erzähler vorstellt. Immer wieder kehrt das der Familienepos, das der ein ganzes Jahrhundert Sowjet- und DDR-Geschichte aufblättert, nach Mexiko zurück, wo Alexander auf den Exil-Spuren seiner Großeltern nach sich selbst sucht.
    Henning Strübbe in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" am Hans-Otto-Theater
    Henning Strübbe in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" am Hans-Otto-Theater (Thomas M. Jauk / Hans-Otto-Theater)
    Jahnke hat nicht Eugen Ruges Theaterfassung seines Romans benutzt, sondern mit ihrer Dramaturgin eine eigene Version geschrieben, die der Perspektive Alexanders folgt: An ihm, der in der DDR der 1960er Jahre aufwächst und kurz vor dem Mauerfall in den Westen flieht, wird der Zerfall des Systems besonders plastisch. Eine nachvollziehbare Akzentverschiebung, denn Ruges Methode, jedes Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, hat sich auf der Bühne als eher zäh erwiesen. Aber ausgerechnet jene Erzählpassagen, in denen Henning Strübbe, Neuzugang am Hans-Otto-Theater, leidend aus Mexiko berichtet, von Sightseeing, Straßenmusikern, Überfällen, bremsen die Inszenierung bleiern aus.
    "Aber das ist doch Geflügel!"
    Deutlich dynamischer gelingen die dialogischen Spielszenen. Charlotte und Wilhelm, die in den 1950ern ihre Posten im neuen Staat beziehen, Sohn Kurt, der seine Eltern 1960 für deren opportunistische Linientreue kritisiert, der kleine Alexander, der seinem Opa, dem Familienpatriarchen Wilhelm, in den 1970ern Bericht über den Ausflug in die Sowjetunion ablegen muss.
    Doch im zweiten Teil des Abends schwenkt Jahnke plötzlich auf Boulevardkomödie um. Nadine Nollau und Rita Feldmeier müssen als russisches Mutter- und Tochter-Duo in brachialem, gekünsteltem Akzent für einen Schenkelklopfer nach dem anderen sorgen. Alexanders Mutter Irina, leidenschaftliche Köchin, kann mit ihrer Schwiegertochter Melitta wenig anfangen:
    "Es ist alles fertig. Sascha, nimm mal die Gans aus der Röhre. - Alexander, hast du denn nichts gesagt? - Ach ja, Melitta ist Vegetarierin. - Was soll das heißen? - Mama, sie isst kein Fleisch. - Aber das ist doch Geflügel!"
    Wie wurden wir, was wir sind?
    Diese Sätze stehen zwar so auch bei Ruge. Doch anders als Jahnke stellt er seine Figuren nie aus, seine Komik entwickelt sich aus der Innensicht, aus dem Mitgefühl mit diesen Unglücklichen. Wenn Rita Feldmeier ihre Nadjeshda Iwanowna, Urgestein der Familie, mit geschürzten Lippen und Kulleraugen Naivitäten über den Westen herausplappern lässt, ist das geradezu das Dementi der Lebensgeschichte dieser wunderbaren russischen Großmutter.
    Rar sind die Momente, in denen man die Härte der politischen Konflikte spürt und den Willen der Mecklenburger Regisseurin, wirklich zu erfragen, wie wir wurden, was wir sind.
    In den vergangenen neun Jahren hat Bettina Jahnke das Theater in Neuss, in Nordrhein-Westfalen, geleitet. In Potsdam hat sie als Intendantin, als Kommunikatorin bisher einen guten Eindruck gemacht: Sie setzt sich dezidiert für Frauenförderung ein, stellt Klassiker neben neue Stücke, sie will mit den Potsdamern an der Bürgerbühne Theater spielen, das Theater am See zum Theater in der Stadt machen. Eine Publikumsnähe, die man ihrem Vorgänger Tobias Wellemeyer immer abgesprochen hat. Als Regisseurin kann sie mit dieser ersten Inszenierung allerdings noch keine künstlerischen Maßstäbe für Potsdam setzen.