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Integration und kulturelle Identität

"Schnittstellen" war in den letzten Wochen unsere dreiteilige Serie überschrieben, in der wir in Gesprächen mit Margarete Mitscherlich-Nielsen, Aleida Assmann und Ulrich Beck über wichtige Brennpunkte der Gesellschaft diskutierten. Die Reihe soll mit dem nun folgenden Essay zum Thema "Integration und kulturelle Identität" zusammengefasst werden. Darin lotet der Kulturtheoretiker Hans-Jürgen Heinrichs die Chancen und Grenzen eines interreligiösen Dialogs aus. Im Mittelpunkt steht dabei der Gedanke, dass die Gesellschaft besser daran tut, sich zu ihren kulturellen Brüchen zu bekennen, unabhängig von aktuellen Konflikten. Hans-Jürgen Heinrichs wurde mehrfach ausgezeichnet. Er unterrichtete an verschiedenen Universitäten Ethnologie und Psychoanalyse. 2002 erhielt er den "Preis für Dialogisches Denken".

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    Ludwigshafen im Februar dieses Jahres 2008. Bei einem Wohnhausbrand sterben neun türkische Bewohner. Auch wenn es keinerlei Anzeichen für Brandstiftung und eine fremdenfeindliche Tat gibt, reagieren die türkische Regierung und türkische Verbände mit tiefem Misstrauen gegenüber den deutschen Rettungsaktionen und Ermittlungen. Eine gemeinsame Zeremonie für die Toten glättet an der Oberfläche für Augenblicke die Differenzen. Aber danach treten die unterschiedlichen Auffassungen zum Thema "Integration und Assimilation" umso stärker hervor.
    Der türkische Ministerpräsident Erdogan betont einerseits das gelungene Zusammenleben von Deutschen und Türken, bezeichnet aber, fast im gleichen Atemzug, Assimilation als "ein Verbrechen an der Menschlichkeit”. Er teilt also nicht die für uns heute selbstverständliche und logische Verknüpfung von Integration und Assimilation, versteht Integration vielmehr als ein möglichst harmonisches Nebeneinander zweier grundverschiedener Kulturen. In seinem Verständnis ist Assimilierung offensichtlich gleichbedeutend mit der Verleugnung der eigenen Identität.

    Auf diese Weise werden aber Feindbilder auch von denen geschaffen, die sich gerade über die Projektion von solchen seitens der Deutschen beklagen. So entfaltet der Ausgrenzungsprozess eine ganz eigene, sich gegenseitig hochschaukelnde Dynamik. Dabei eröffnet doch erst die Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft dem Fremden die gleichen sozialen und kulturellen Teilhabechancen wie dem Einheimischen sowie die selbstbewusste Behauptung der eigenen Traditionen.

    Der Politikwissenschaftler Stefan Luft hat darauf hingewiesen, dass ursprünglich die Gegner der Integration in Deutschland zu finden waren und dabei eine ganz andere Motivation hatten:

    "In den siebziger und achtziger Jahren beherrschte in der Bundesrepublik der Topos der "Bewahrung der Herkunftsidentität" der Ausländer die öffentlich Debatte. Eher konservative Kräfte forderten dies, weil sie die "Rückkehrfähigkeit und Rückkehrwilligkeit" der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Nachkommen erhalten wissen wollten und deshalb Integrationsforderungen, wie dem Erwerb der deutschen Sprache bei Kindern, zurückhaltend gegenüberstanden. Die anderen - eher progressive Kräfte - denunzierten Integrationsforderungen als Versuch der "Germanisierung". In der multikulturellen Gesellschaft sollten damals gleichberechtigte "Kulturen" in einem gesellschaftlichen Nebeneinander existieren, Anpassungserwartungen hatten hier keinen Platz."
    Für die meisten Jugendlichen - deren Eltern zum Beispiel aus der Türkei stammen, die aber hier aufgewachsen sind und seit Jahren arbeiten - ist heute das entscheidende Problem, wie sie sich in das hiesige Bildungssystem und den Arbeitsmarkt integrieren können. Sie selbst halten gar nicht an der abstrakten Idee einer türkischen Identität fest, sondern erleben, wie stark sie, ganz allgemein, mit den Bedingungen einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft konfrontiert werden.
    Die Aufnahmegesellschaft und die Gesellschaft der Einwanderer sind Teil moderner weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Entwicklungen, in denen sich Traditionen auflösen oder sich mit modernen Strukturen vermischen. Das, was wir allgemein Identität nennen, setzt sich zusammen aus ständig sich ändernde Teilidentitäten. Das betrifft das eigene Sozialverhalten, das Verhältnis zur Gesellschaft und zur Religion, zu den Prozessen der Globalisierung und Technologie. Auch das, was wir mit unserer deutschen Identität meinen, unterscheidet sich ja in vielem grundlegend von dem Selbstverständnis der Deutschen in den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren. Der Dialog zwischen Deutschen und anderen Kulturen geht oft von der falschen Voraussetzung aus, dass sich beide Seiten auf ihre Identität als einer festen Größe berufen. Der Schriftsteller Ilija Trojanow (der als Kind bulgarischer Eltern in Kenia aufgewachsen ist und dort Deutsch, Englisch und auch Kisuaheli lernte) notiert einmal:

    "Es gibt kein homogenes, vor allem kein statisches Identitätsmuster. Ich bin davon überzeugt, dass Identität ein dynamischer Vorgang ist, abhängig von den jeweiligen Biografien, bei manchen Menschen dynamischer als bei anderen. Dennoch ist bei fast allen Menschen eine gewisse Entwicklung im Leben zu verzeichnen, und diese Entwicklung führt zum Beispiel von einem dörflichen in ein städtisches Leben, von der Einsprachigkeit der Kindheit in die Mehrsprachigkeit des erwachsenen Lebens."
    Identität ist also nichts Feststehendes, sondern ein dauernder Prozess. Dies zeigen zum Beispiel auch die gegenwärtig besonders intensiven Bemühungen der politischen Parteien in Deutschland, ein möglichst geschlossenes Bild abzugeben und sich deutlich voneinander abzugrenzen. Identitätsfindung heißt hier: Wie viel Fremdes, der Partei eher Peripheres und Äußerliches, kann dabei aufgenommen und integriert werden, und wie viel Eigenes lässt sich im Dienste eines neuen Selbstbildes opfern, ohne dadurch Stammwähler, die an der alten Identität festhalten wollen, zu verlieren? Man sieht daran: Identität hat sehr viel mit Programmatik, Strategie und gesellschaftlichen Wandlungen zu tun, ist weniger naturwüchsig als vielmehr hergestellt.
    Gesellschaften, Kulturen und jede Form von politischen, sozialen oder religiösen Gemeinschaften und Gruppierungen sind heute, im Zeitalter der Globalisierung und der medientechnischen Vernetzung, stärker denn je den Wandlungsprozessen und einer äußerst komplexen Dynamik unterworfen. Nur ein Bruchteil davon kann diskutiert und reflektiert werden.

    Die kulturspezifischen Unterschiede innerhalb der europäischen Gesellschaften werden zumeist nur im Augenblick einer Provokation oder eines Übergriffs offen ausgetragen. Aber latent vorhanden ist der jeder Gesellschaft innewohnende Zwiespalt zwischen den Kulturen immer, zu jeder Zeit. Deswegen wäre es sehr viel sinnvoller, wenn die Gesellschaft sich zu ihren konstitutiven Brüchen in ihrem Inneren bekennen würde - unabhängig von aktuellen Krisen und Konflikten.
    Gesellschaften und Gemeinschaften sind in sich viel instabiler, fragiler und von Spaltungen bedroht, als sie dies nach außen hin vorgeben. Der Philosoph Jean-Luc Nancy hat von einer "herausgeforderten Gemeinschaft" gesprochen: einer Gemeinschaft, die aufgefordert ist, ihre Differenzen offenzulegen und sich zu ihnen zu bekennen.

    "Hiermit muss man arbeiten: mit der sich selbst entgegenstehenden Gemeinschaft, mit uns, die wir uns einander gegenüberstehen. Ein Gegeneinander gehört wohl wesentlich zur Gemeinschaft: Das heißt zugleich eine Konfrontation und eine Opposition, ein Vor-sich-selbst-Hintreten, um sich herauszufordern und zu erproben."
    Nancys Ausgangspunkt liegt in der Reflexion des einfachen Wortes "Gemeinsam-Sein” oder "Mit-Sein” beschlossen. Was ist das: gemeinsam, mit anderen, in Gemeinschaft sein? Welchen Gesetzmäßigkeiten folgt das Miteinander und wie verhält es sich zum Gegeneinander der Auseinandersetzung?

    "Wir sind gemeinsam, wir alle, wer auch immer wir seien und wie auch immer diese Vorgabe geartet sei, die unhintergehbar ist. Die "Gemeinschaft" ist uns gegeben, das heißt, uns ist ein "wir" gegeben, ehe wir ein "wir" artikulieren oder gar rechtfertigen können."
    Ist dies nicht aber der Kern der Religion: sich den Glaubensbrüdern und Schwestern verbunden zu fühlen, sich mit ihnen eins zu wissen, vor jeder Individuation? Der Begriff der Religion wird ja in diesem Sinn auch zumeist von "religare" (verbinden, durch ein Band verknüpfen) abgeleitet. Zugleich ist in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich das Gegeneinander und die Bekämpfung des Andersdenkenden stärker als in der Religion.

    "Die Allmacht und Allgegenwart eines harmonischen Einen ist zu seiner eigenen Monstrosität geworden ... Die Gemeinschaft muss begreifen, dass sie es ist, die aufklafft - geöffnet auf ihre abwesende Einheit ... Gemeinschaft zerreißt sich selbst, wenn sie die anderen nicht von Grund auf akzeptiert."

    Wie aber kann man am Begriff der Gemeinschaft festhalten, nachdem er durch die nationalsozialistische und kommunistische Propaganda derart missbraucht worden ist? Nur, indem Gemeinschaft im Sinn eines "Zusammen-Seins” und "Mit-Seins” entideologisiert und auf eine beständig sich erneuernde Kommunikation hin geöffnet wird.

    Bedeutsam sind Denkansätze, die uns gegen die Verlockungen der Globalität und ihrem Bild einer Gemeinschaft stark machen. In diesem Sinne schreibt auch Jean-Luc Nancy:

    "Was uns widerfährt, ist eine Erschöpfung des Denkens des Einen und einer einzigen und einzigartigen Bestimmung der Welt, ... dennoch muss man unablässig eine Welt denken, die auf langsame und zugleich jähe Weise aus all ihren erworbenen Bedingungen heraustritt."

    Da Regierungen immer Angst haben, als vage in ihren Programmen und als führungsschwach angesehen zu werden, erfinden sie Begriffe wie zum Beispiel "deutsche Leitkultur”, um innere Stärke und traditionsverbundene, nationale Identität zu demonstrieren. Dabei zieht sich die Gesellschaft mit einer solchen Forderung auf das Phantom einer Einheit zurück, die es in Wirklichkeit nie gab. Deutschland und Europa sind von Grund auf nicht durch Einheitlichkeit, sondern durch Mehrkulturalität geprägt. Damit ist nicht das überholte Multi-Kulti-Gerede gemeint. Selbst der in der Regel differenziert argumentierende Publizist Ralph Giordano hält, wenn er auf die Muslime zu sprechen kommt, noch an den alten Feindbildern fest:

    "Die Integration ist gescheitert durch zementierte Parallelgesellschaften, in denen täglich massenhaft Dinge geschehen, die mit dem Grundgesetz nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Und das ganz im Gegensatz zu den Schalmeientönen unserer Multikulti-Illusionisten, xenophiler Einäugiger und Sozialromantiker."
    Giordano versucht hier alle, die sich um Integration bemühen, als Verblendete darzustellen. Wolfgang Schäuble musste ihn daran erinnern, dass der Islam "längst ein Teil unseres Landes ist”.
    Wir waren von dem konkreten Beispiel eines Wohnhausbrandes, von einem tragischen Unglück und den Folgen ausgegangen. Die Medien berichten in der Regel von solchen einzelnen Ereignissen, die sie aus größeren Zusammenhängen herausnehmen. Auch der Ethnologe, der Soziologe oder Geschichtswissenschaftler löst Bewegungen aus dem alltäglichen Geschehen heraus. Aber sein Interesse ist darauf gerichtet, sie im Zusammenhang der jeweiligen Kultur zu deuten. Dabei überträgt er die sozialen, politischen und symbolischen Ordnungen und auch die unbewussten Strömungen in den Zusammenhang einer Theorie, man könnte auch sagen: in ein erzählerisches Universum. Große, wegweisende Werke sind in diesem Sinne narrative Welteroberungen, die den Leser und Hörer dazu anregen, alte Strukturen und Denkgewohnheiten fallenzulassen und sich neue einzuverleiben. Dazu gehört an allererster Stelle das Verhältnis des Eigenen zum Fremden.
    Die Figur des Fremden wird in der Gegenwart weitgehend auf die des Migranten, des Asylanten und schwer Integrierbaren reduziert. Der philosophische und poetische Glanz, der die Figur des Fremden über die Jahrhunderte hinweg umgab, ist dabei dem Trauerflor einer sich vom Tod des Eigenen bedroht fühlenden Gesellschaft gewichen.

    Am Fremden haftet im Alltag das stets latent vorhandene Misstrauen gegen das Nicht-Eigene; in der Literatur dagegen ist der Fremde Kulminationspunkt für Phantasien und Wünsche des Andersseins. Der Fremde, als literarische Figur, zieht den Leser in seinen Bann, macht ihn auch selbst, auf Zeit, zum Fremden.

    Der Fremde, der uns auf exemplarische Weise mit der Fraglichkeit und Unbeständigkeit unserer eigenen Verwurzelung konfrontiert, ist auch eine Chiffre für das Schreiben. Und auch für das Buch als einer Zwiesprache mit dem noch verborgenen "Anderen": "Was vor dir liegt", hat der französische Schriftsteller Edmond Jabès gesagt, "wirft dich auf dein Bild zurück."
    Die moderne multikulturelle Gesellschaft und die Prozesse der Globalisierung scheinen eine solche Durchdringung von Eigen und Fremd zu unterstützen. Doch gleichzeitig fordern die Gesellschaften auch immer wieder die leitkulturelle Dominanz des Eigenen. Auf diese Weise geht das Gefühl dafür verloren, dass die empfundene Distanz zum anderen Menschen ganz eng mit der Distanz zu fremden Anteilen in uns selbst verbunden ist. Mit anderen Worten: das, was uns am Fremden abstößt und was wir mit Angst und Misstrauen belegen, hängt immer auch mit Anteilen zusammen, die wir bei uns selbst ausblenden. Die Sozial- und Humanwissenschaften helfen uns dabei, solche Zusammenhänge und Überschneidungen zu erkennen.
    Fremde in unserem Land haben ein Recht darauf, ebenso differenziert betrachtet zu werden wie diejenigen, die wir als Einheimische bezeichnen. Und mit Blick auf die Muslime und den Islam gilt dies in besonderem Maße. So hat der Kulturtheoretiker Ali Al-Nasani zu Recht festgestellt:

    "So wenig wir das Christentum für den nordirischen Konflikt verantwortlich machen und genauso, wie wir zwischen den Grundsätzen des Judentums und den Gewalttaten jüdischer Extremisten unterscheiden, müssen wir auch den Islam differenziert betrachten und von den Taten der Extremisten trennen."
    Es ist ein notwendiger Bewusstseinsprozess, die geradezu mechanische Verknüpfung von Islam und radikalen Islamisten aufzubrechen. Die Tatsachen, die einer Gleichsetzung widersprechen, erweisen sich als ungemein resistent. Solange die Muslime als Fremde und letztlich als nicht zu unserer Gesellschaft zugehörig empfunden werden, wird eine solche Gleichsetzung bei jedem ungesetzlichen Übergriff der Muslime auf unsere Normen, Ideale und Gesetze sofort wieder erfolgen und sich wie ein Grauschleier über jede Differenzierung legen.
    Vielleicht könnte man eine Unterscheidung in die Debatte einbringen: Die Fremden, die in einer Aufnahmegesellschaft leben, haben deren Gesetze und Werte ohne Einschränkung zu respektieren. Im Gegenzug akzeptiert und achtet die Aufnahmegesellschaft nicht nur die Werte und Ideale der Fremden, sondern gewährt ihnen auch einen grundsätzlichen Vorrang im alltäglichen Umgang.
    Es ist die Vision, dass alle bei uns lebenden Ausländer prinzipiell in jeder Situation Vorrang hätten, dass sie überall, ob in der Bank, der Post oder auf jedem x-beliebigen Amt, vorrangig behandelt würden, einfach dem Gesetz der Gastfreundschaft folgend, das ja auch deswegen angemessen wäre, weil der Fremde es unvergleichlich schwerer hat, sich zurechtzufinden, sich richtig zu verhalten. Es wäre ein Bonus, den uns viele außereuropäische Gesellschaften mit Selbstverständlichkeit gewähren.
    Läge es indes nicht nahe, dass wir auf die uns begegnenden Fremden grundsätzlich mit Neugierde reagierten, dass wir uns - so wie wir es im umgekehrten Fall oft genug auf unseren Reisen erfahren haben - dass wir uns um sie scharten und von ihnen wissen möchten, woher sie kommen, wie es in ihrem Land ist, wie sie dort leben, welchen Beruf sie haben, was sie von diesem und von jenem halten. In Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung” findet sich das berühmt gewordene Gleichnis:

    "Ein Mann erzählt: "Als ich zum ersten Mal einen Dudelsack hörte, lief ich ihm nach wie allem, was sonderbar ist. Aber ich kehrte nicht nach einer Weile um, wie sonst bei den Merkwürdigkeiten, die auf der Straße ziehen, dem Scherenschleifer, der Heilsarmee und so fort, sondern ich folgte vor die Stadt hinaus, die Landstraße weiter, in die Dörfer, die ich kannte, in die Dörfer, die ich nicht kannte. Und es zog nicht nur der phantastische Mann, es verführte der sausende Geist, von dem ich glaubte, dass er im Dudelsack stecke, und der ich schließlich selbst wurde.""
    Neugierde ist in jedem einzelnen Menschen vorhanden, wird aber von den herrschenden Vorurteilsmustern weggedrängt und fällt dem medial gesteuerten Gruppenzwang zum Opfer. An den Fremden heftet sich alles in einer Gesellschaft latent vorhandene Misstrauen. Das Fremdsein klebt an ihm, an seinen Gedanken, Empfindungen und Aussagen.

    Elie Wiesel hat dies sehr konzis formuliert:

    "Der Fremde verkörpert das Unbekannte, das Verbotene und Ausgegrenzte. Wer weiß, was er im Verborgenen treibt, vielleicht schmiedet er Komplotte und Intrigen, zweifellos bringt er Unglück, er sät den Zweifel und dann ist er plötzlich spurlos verschwunden. Der Fremde vertritt all das, was wir nicht sind. Er stellt unsere eigene Rolle in der Gesellschaft in Frage. Ich muss ihn nur ansehen, um zu begreifen, dass auch ich, in den Augen eines anderen, ein Fremder sein kann. Letztlich fürchte ich ihn nur, weil ich vor mir selbst erschrecke, er gleicht mir."
    Jede Kultur bedarf im Prozess ihrer Selbstbewusstwerdung des Fremden, gegen den sie das Eigene durchsetzt und manifestiert. Der Fremde ist ein Kristallisationspunkt für Unbehagen. Indem wir Begriffe wie "Asylant", "Asylantenproblematik" oder "Ausländerkriminalität" prägen, stabilisieren wir Abspaltungen und Ausgrenzungen und gewöhnen uns mehr und mehr an sie.

    Solange wir den Fremden und das Fremde nicht als Teile und Aspekte einer jeden Gesellschaft und eines jeden Menschen verstehen, verlagern wir immer etwas nach außen, was sich im Zentrum unserer Kultur abspielt.
    Wir können sie nur lebendig erhalten, indem wir uns dem gegenüber öffnen, was ihr eher fremd erscheint. In Wahrheit bewegen wir uns ja immer zwischen den Kulturen, inmitten ihrer Kontexte und Verbindungen. Im Grunde ist der Begriff "Kultur” ein Abstraktum; wir kennen nur Kulturen, die in Beziehung zueinander stehen. Solange wir Fremdheit nur im Augenblick der Bedrohung wahrnehmen und den Blick nicht weiterlenken auf die philosophische, die kulturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Dimension dieser Thematik, wird uns das Verhältnis von Eigen und Fremd, von Ich und Anderer bei einer nächsten Bedrohung schon wieder entgleiten. Das, was wir "eigen" nennen, entsteht nur in Relation zu dem, was uns als "fremd" erscheint.
    Von der Stigmatisierung des Asylanten, des Asylsuchenden und des Ausländers müssen wir wieder zurückfinden zur Vorstellung des Fremden als einer Figur, die wir voller Neugierde und Interesse anschauen, die wir als Bereicherung erfahren, trotz aller Ängste, die sie in uns hervorrufen mag, was im übrigen für jede Kultur gilt. Dann sind Formeln wie "das Eigene und das Fremde" auch keine Taschenspielereien mehr, sondern Vorbereitungen auf die Frage nach der Möglichkeit einer mehr- und interkulturellen Identität, einer offenen Identität, die am Austausch von Lebens- und Kommunikationsformen interessiert ist.

    Der Politikwissenschaftler Charles Taylor hat dies präzise gesehen:

    "Wenn ausnahmslos alle Kulturen allen Menschen etwas Wichtiges zu sagen haben, da sie ganze Gesellschaften über längere Zeiträume mit Leben erfüllt haben, dann werden wir auch verstehen müssen, welche spezifischen Werte jede Kultur vermittelt oder wie ihre Begrenzungen, ihre blinden Flecke beschaffen sind."
    Wir haben heute eine paradoxe Situation: Einerseits ist die Rede von einer Rückkehr der Religionen. Andererseits leben wir in einer Zeit extremer Gottferne, in der wir uns mit unserem Glauben an die Technik und das Internet Ersatzgötter geschaffen haben. Gleichzeitig stellen wir einen sich verstärkenden religiösen Fanatismus und eine enorme Anfälligkeit für Heilsversprechungen von Sekten, Therapien und Vorhersagen fest. Alle religiösen und spirituellen Erfahrungs- und Einsichtsmöglichkeiten, die in ihrem Ursprung an eine mühevolle und leidvolle individuelle Selbsterforschung gebunden sind, werden inzwischen als Massenware verschleudert, so, als könne man seelisches und religiöses Wachstum einfach wie eine Pille oder einen Drink einnehmen.

    Die großen Texte der Weltreligionen, der Mystik und Spiritualität sind nur den wenigsten Gott- und Guru-, Heil- und Trostsuchern bekannt.

    Die bessere Kenntnis der Grundlagentexte der jeweiligen Religionen würde aber auch die Voraussetzung für den Widerstand gegen die politische Instrumentalisierung der Religion schaffen. Und man würde vertrauter mit den Freund-Feind-Ideologien sowie den gegenseitigen Aufrufen zur Gewalt, die ja auch zum Teil in den religiösen Texten selbst angelegt sind. Man könnte also auf den Abbau des Fundamentalismus auch über die Kenntnis von Texten und über die Kraft der Aufklärung setzen.
    Es scheint eher unwahrscheinlich, dass wir je den Punkt erreichen könnten, an dem uns prinzipiell alle Kulturen und Religionen als gleichwertig erscheinen. Gibt es überhaupt noch, angesichts der aktuellen, von Misstrauen und Aggressionen beherrschten Situation, eine reelle Chance, die Schätze der Kulturen und Religionen und unser Wissen von deren geistigem Reichtum in lebendige und offene, nicht von Ressentiments dominierte Dialoge umzuwandeln?

    Diesen zivilisatorischen Weg zu beschreiten heißt, dass die Religionen von ihrem affektiv aufgeladenen Alleinvertretungsanspruch abrücken und Parteien einer Zivilgesellschaft werden müssten. Damit würde das Ideal friedlicher Koexistenz zum Gespräch erweitert und dynamisiert werden. Es bleibt aber die Frage, wie weitgehend dies mit den Ansprüchen eines universalen Verkündigungsgehalts und, im Fall des Islam, eines militärisch-politischen Expansionsmodus, eines "Heiligen Kriegs”, vereinbar ist.
    Den jüdischen, christlichen und islamischen Monotheismen ist, mit unterschiedlichen Gewichtungen und Ausweitungs-Phantasien, ein messianisches und aktivistisches Material eigen. Dessen Explosionskraft reicht weit über die Lehren der Religionen im engeren Sinn hinaus. Dieses Heftige und Exzesshafte, der Antriebsüberschuß und die Überreaktion verweisen auf eine immense Triebdynamik.

    Religionen stellen in ihrer Nähe zum Eifer und ihrem tendenziell universalistischen Anspruch erst einmal, und dies ist wichtig festzuhalten, einen verhältnismäßig überschaubaren Gegenstand dar. Gefährlich werden die extremistischen destruktiven und selbstdestruktiven Ideologien und Aktionen. Sie machen die Kontrolle und Dämpfung zum Problem. Die schwer lösbare Aufgabe würde darin bestehen, den Affekt und den religiösen Code zu entkoppeln.
    Das Konfliktpotenzial im Kampf der drei Monotheismen erklärt sich zu einem großen Teil daraus, dass sie aus jeweils älteren Quellen hervorgegangen sind. Dem Islam kommt dabei seine "Spätankunft” zugute. Dies ist, so hat der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner jüngsten Studie gezeigt, seine wertvollste spirituelle Chance:

    "Der Islam nimmt für sich den Vorzug in Anspruch, die vermeintlichen und wirklichen Irrwege der beiden Vorgängermonotheismen zu überblicken und zu korrigieren. So wird aus der Not des Nicht-Originären eine Tugend. Die islamische Offenbarung nimmt ihren Ausgang beim Widerruf der jüdischen und christlichen Lehren, beim Falschlesen, bei der Fehllektüre heiliger Texte."
    Im Westen ist heute nur noch den Wenigsten die Erfolgsgeschichte des Islams bis ins 15. Jahrhundert hinein bekannt; ebenso wenig die dramatische Umkehrung des siegreichen Feldzugs in eine andauernde Kränkungsgeschichte. Zum einen konkurriert die seit dem Aufstieg Europas erlebte Zurücksetzung mit dem Verlangen nach Vorrang und einem glanzvollen Erscheinungsbild. Zum anderen steht dem Stolz auf die ökonomische, wissenschaftliche und künstlerische Vormachtstellung oder doch Gleichstellung in der Vergangenheit die Scham über die gegenwärtigen Verhältnisse gegenüber.

    Der gesellschaftliche Aufstieg des Islam in der Gegenwart wäre ohne neuere Entwicklungen, die nur zum Teil etwas mit der islamischen Religion und Kultur zu tun haben, chancenlos geblieben: Erst der ökonomisch-technische Aspekt der Ölreserven und die biopolitische Tatsache einer beispiellosen Vermehrungsdynamik - der sogenannte "Jungmännerüberschuss"- ermöglichte die Wiederaufnahme offensiv universalistischer Programme.
    In unserer westlichen, von der Gewalt dominierten Form des Islam bestimmten Wahrnehmung gibt es eine eindeutige Wertung gegenüber den drei Monotheismen und ihrem Expansionswahn. Die größte Angst erwecken in uns die extrem aggressiv auftretende islamische Religion und die von den Gläubigen geforderten Unterwerfungsrituale. Dies kommt bereits in dem Wort islam, Unterwerfung, genauso wie in masdschid, Moschee (Ort des Sich-Niederwerfens), überdeutlich zum Ausdruck. Die Drohung mit dem Jüngsten Gericht und die apokalyptische Zuspitzung geben dabei der Lehre ihre offensive Dynamik und den Ton der Unausweichlichkeit:
    Wahr ist danach die Instanz, die befugt ist, die allgemeine Unterwerfung als Gebot auszugeben; und zum Leben berechtigt ist nur, wer diesem Gebot folgt. Die Verquickung dieser beiden radikalen Perspektiven verleiht der eifernden Aktivität ihre Unerbittlichkeit.

    Das Eiferertum hat Peter Sloterdijk auf eine griffige Formel gebracht:

    "Es hat seinen logischen Ursprung im Herunterzählen auf die Eins, die nichts und niemanden neben sich duldet. Diese Eins ist die Mutter der Intoleranz. Sie fordert das radikale Entweder, bei dem das Oder gestrichen ist."

    Gefordert ist von uns der gleichzeitige Blick auf die Aktivitäten der Eiferer und auf den als heiligen Text festgeschriebenen Eifer. Die Monotheismen ziehen ihre Energie aus dem Glauben an eine der göttlichen Ordnung eigene erste Struktur. Dieser Urtext ist noch nicht von zweiwertiger Rede (Negationen, Widersprüche, Irrtumsanfälligkeit) getrübt. Die Selbstauflösung der eifernden Gläubigen in den drei monotheistischen Religionen findet im Medium der heiligen Texte statt.
    Gibt es Anzeichen für die begründete Hoffnung auf einen zivilisatorischen Weg der Religionen, auf die Anerkennung eines mehrwertigen Denkens? Führt ein Weg aus der absoluten Textauslegung jeder einzelnen Religion heraus? Wird das Beispiel, dass man jüngst die umstrittenen Rachepsalmen aus dem Stundengebet der römischen Kirche eliminiert hat, Schule machen? Können wir erwarten, dass auch die Muslime die düsteren Stellen des Koran überdenken und ihnen dann der heilige Furor der Eiferer wie peinliche Archaismen vorkommen?
    Um den zivilisatorischen Weg zu beschreiten, müssten die Eiferer die apokalyptischen und weltmörderischen ebenso wie die persönlichen suizidalen Phantasien aufgeben und an einer gestaltbaren Welt teilhaben wollen. Eine der Voraussetzungen dafür wäre, dass der Zorn auf die sozialen Verhältnisse, dass die Empörung der aus dem Fortschritt der Gesellschaft Ausgeschlossenen inmitten der Gesellschaft eine Plattform fänden. Dann würden sich der Zorn, die Kränkung und der verletzte Stolz nicht weiter stauen und sich nicht länger einen Ausdruck im religiösen, politisch instrumentalisierten Wahn suchen müssen.
    Die Vision dieses zivilisatorischen Wegs lautet: Die Religionen bleiben bei ihrem Wahrheitsanspruch und die Gläubigen rechnen damit, dass ein anderer einer anderen Wahrheit folgt. Dazu sind prinzipiell alle Menschen in einer kosmopolitischen Welt in der Lage.