Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Intoleranz
Wenn Religion Angst macht

Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum untersucht in ihrem neuen Buch die Hintergründe der neuen religiösen Intoleranz. Ihr Fokus liegt auf Europa und den USA, wo sie eine zunehmende, irrationale Angst vor dem Islam, aber auch anderen Religionen wie dem Judentum ausmacht.

Von Kersten Knipp | 11.09.2014
    Auf dem Bild sind Schilder mit einer durchgestrichenen Moschee zu sehen, außerdem Deutschlandflaggen und ein Kreuz.
    Pro-Köln-Anhänger demonstrieren am 8.5.2009 in Leichlingen. Pro Köln wendet sich unter anderem gegen den Bau von Moscheen in Deutschland. (dpa / picture alliance / Rolf Vennenbernd)
    In diesen Wochen jagen Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" Hunderttausende sogenannter "Ungläubiger" vor sich her: Jesiden, Christen, Schiiten und teils auch jene Sunniten, die ihrer extremistischen Lesart der Religion nicht folgen wollen. Mit kaum für möglich gehaltener Brutalität gehen die Terroristen gegen ihre Opfer vor: Sie durchkämen ganze Landstriche, vertreiben deren dort seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden ansässigen Bewohner, enteignen sie, stellen sie vor die Wahl, sich entweder zu radikalen Spielformen des sunnitischen Islams zu bekennen oder die Gegend zu verlassen. Tausende dieser "Ungläubigen" ereilt ein noch schlimmeres Schicksal: Sie werden auf oft bestialische Weise getötet. Die fast schon vergessene "Enthauptung" hat durch die Berichterstattung über den "Islamischen Staat" im deutschen Sprachgebrauch inzwischen wieder eine prominente Position eingenommen. Die religiöse Intoleranz feiert unter der Herrschaft der Terrororganisation "Islamischer Staat" kaum mehr für möglich gehaltene Triumphe.
    Insofern kommt die deutsche Übersetzung von Martha Nussbaum im Original im Herbst 2013 erschienenen Buchs zur neuen religiösen Intoleranz zur rechten Zeit. Umso mehr mag man freilich auch bedauern, dass es sich auf die Verhältnisse in Europa und den USA beschränkt - und alle anderen Teile der Welt, in denen es um religiöse Toleranz zum Teil katastrophal bestellt ist, ausblendet. Sicher, das mag an kluger Selbstbescheidung der an der Universität Chicago lehrenden Juristin und Philosophin liegen, deren Kompetenz die europäischen und nordamerikanischen Toleranz- und Intoleranzdiskurse sind. Dennoch bleibt der Eindruck, dass in dem Buch eine gewaltige Lücke klafft.
    Kopftuch, Moscheen und Minarette
    Freilich hat die Autorin bereits mit dem nordamerikanischen und europäischen Feld hinreichend zu tun. Denn auch hier zeigen sich verstärkt Phänomene religiöser Intoleranz oder, um es zurückhaltender zu formulieren, von Vorbehalten gegenüber als fremd erachteten Konfessionen. Dazu zählen in erster Linie der Islam und, immer noch, das Judentum. Proteste gegen eine Moschee in unmittelbarer Umgebung von Ground Zero; Vorbehalte gegen das Kopftuch, gegen Moscheen und islamische Gemeindezentren, Proteste gegen die Anwendung der Scharia; dies sind Phänomene, die auch in den USA gegenwärtig sind. Weiter fortgeschritten sind sie allerdings in Europa, wie Nussbaum mit dem Hinweis auf das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung zum Bau von Minaretten und dem Verbot der Burka im öffentlichen Leben Frankreichs und Italiens erklärt.
    Woher kommen diese Vorbehalte? Nussbaum führt sie vor allem auf ein Phänomen zurück: die Angst. Nussbaum unterscheidet zwischen rationaler und irrationaler Angst. Zur ersten zählt etwa die Angst vor Hurrikans. Auch die Angst vor Terror im Flugverkehrt hält sie für rational und begrüßt daher entsprechende Sicherheitskontrollen. Irrational wird die Angst, wenn sie sich auf Phänomene bezieht, von denen tatsächlich keine oder nur geringe Gefahr ausgeht. Hierzu zählt Nussbaum etwa überzogene Ängste vor Umweltrisiken oder einem angeblich erhöhten Krebsrisiko durch den Einsatz von Pflanzenschutzmittel auf Äpfeln. Nussbaum leugnet diese Gefahren nicht. Aber sie verweist auf die von Psychologen erbrachte Erkenntnis, dass Menschen, wenn sie sich ein Problem vorstellen können, dazu neigten, dies zu überschätzen.
    Angst vor dem Islam
    Möglich ist allerdings auch das Gegenteil: Menschen überschätzen Risiken, wenn sie diese nicht einschätzen oder sich nur ein ungefähres Bild von ihnen machen können. Genau das ist bei fremden Religionen der Fall. In diesem Fall ist Angst, Zitat, "ein Produkt von Ignoranz und Fantasie, angeheizt durch politische Rhetorik." Aus der Geschichte Europas und der USA sind solche Phänomene bekannt: die Angst vor einer jüdischen Weltverschwörung, wie sie etwa im Umfeld der gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion" entstand. Auch glaubten amerikanische Protestanten eine Zeit lang, die Anerkennung der Katholiken als gleichberechtigter Bürger würde zum Zusammenbruch der US-Demokratie führen. Jahrzehnte später kursierte eine Zeit lang das Gerücht, die Zeugen Jehovas planten, die USA an die Nationalsozialisten zu verraten.
    Derzeit richten sich die Ängste vor allem auf den Islam: Könnten seine Anhänger nicht versucht sein, seinen Herrschaftsbereich auf der ganzen Erde zu verbreiten? Stellen sie die Herrschaft Gottes nicht rückhaltlos über die irdischen Gesetze des Staates? Nussbaum hält solche Ängste für irrational. Der Mechanismus, durch den sich die Ängste trotzdem durchsetzen, sei so wirksam wie banal.
    Zitat: "Tatsächlich wichtige Themen werden unter den Teppich gekehrt; symbolische Themen ohne tatsächliche Verbindung zur Realität nehmen deren Platz ein; anstatt sich in einer schwierigen, aber letztlich konstruktiven Debatte zu beteiligen, wie gesellschaftliche Bindung und Kontinuität in einer Zeit der Immigration voranzutreiben wären, [...] werden die Menschen dazu aufgefordert, sich bewusst zu werden, welche Fortschritte sie machen in einer vollständig imaginären Kampagne gegen eine Bedrohung, die gar nicht existiert."
    Freilich kann man sich fragen, ob Nussbaum nicht allzu großzügig über die realen Gefahren hinwegsieht. Selbstverständlich: Zur Weltherrschaft des Islams wird es nicht kommen, das wollen auch die allermeisten Muslime nicht. Aber es reicht, wenn etwa in Deutschland junge Männer - und übrigens auch eine Reihe junger Frauen - in den Dschihad nach Syrien ziehen wollen. Oder bereits gezogen sind. Anfang August 2014 sprach der Verfassungsschutz von 400 Ausreisen. Sie dokumentieren eine Gesinnung, über die man sich Sorgen machen muss. Irrationalen Ängsten kann leicht auch eine allzu sorglose, ihrerseits bis an die Grenze des Irrationalen gehende Vertrauensseligkeit korrespondieren.
    Allerdings haben die Ängste vor fremden Konfessionen eine historisch weit zurückreichende Vorgeschichte. In Europa reichen sie bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück, die Zeit der entstehenden Nationalstaaten. Diese Staaten dachte man sich damals als Gebiete, in denen eine jeweils sprachlich und kulturell homogene Bevölkerung lebte. Frankreich und die Franzosen, Italien und die Italiener, Deutschland und die Deutschen: So ging es über lange Zeit, und anders schien es nicht denkbar. Die aus jener Zeit stammenden Traditionen, so Nussbaum, strukturieren unseren intellektuellen und vor allem psychologischen Horizont nach wie vor. Und das, obwohl sich die Realität der europäischen Gesellschaften grundlegend geändert hat. Längst sind sie zu Einwanderungsgesellschaften geworden - und mehr und mehr zeichnen sich die Schwierigkeiten ab, vor denen solche Gesellschaften stehen. Multikulturalität ist Bereicherung und Herausforderung gleichermaßen. Zu sehr auf die Herausforderungen zu starren, die vermeintlichen Bedrohungen, die die Anwesenheit fremder, anders denkender Menschen darstellen: Das ist für Nussbaum die narzisstische Kränkung, auf deren Boden Angst - und in ihrer Folgen dann Fremdenfeindschaft - gedeiht.
    Was tun?
    Wie geht man um mit diesen Herausforderungen? Nussbaum empfiehlt dreierlei: Vonseiten des Staates eine Politik und Gesetzgebung, die die Gleichheit aller Menschen strikt achtet; dazu gehört auch, religiöse Praktiken nur dann einzuschränken oder zu verbieten, wenn sie den Einzelnen oder die Gesellschaft insgesamt schaden. Zweitens eine wache Selbstkritik - die Fähigkeit also, sich zu fragen, warum man dieses und jenes kritisiert. Zielt die Kritik nur darauf ab, Phänomene, die man für sich persönlich ablehnt, aus der Welt zu schaffen, dann ist diese Kritik unzulässig. Drittens empfiehlt Nussbaum eine Pflege der eigenen Fantasie, die zu Neugier und Sympathie befähigt.
    Was den ersten Punkt angeht, so hält sich der Staat jedenfalls in Deutschland mit Eingriffen in das religiöse Leben stark zurück. Die beiden anderen Punkte, die Nussbaum anspricht, richten sich vor allem an den einzelnen Bürger. Und sie stellen ihn vor höchste Ansprüche. Denn es ist nicht leicht, das Andere und Fremde zu tolerieren, mit Menschen zusammenzuleben, die womöglich ganz andere Werte haben, vom Leben ganz anderes erwarten als die Mehrheit der Bürger. Diese Menschen und ihre Lebensformen zu achten, ist aber die entscheidende Voraussetzung, damit Einwanderergesellschaften, wie die europäischen sie längst sind, funktionieren. Denn diese Gesellschaften haben nicht zuletzt dieses: einen funktionierenden Rechtsstaat. Schränkt man die Rechte der Anderen ein, untergräbt man auch die eigenen Werte, Normen und Rechte. Daran zu erinnern, ist das große Verdienst dieses klugen Buchs.
    Martha Nussbaum, "Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst".
    Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolaus de Palézieux. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014, geb., 220 S., 39,95 Euro