Freitag, 29. März 2024

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IS-Terror gegen Jesidinnen
"Frauen werden bis zu 40 Mal am Tag vergewaltigt"

Rund 5.000 Jesidinnen seien vom IS in den letzten 18 Monaten versklavt worden, sagte Holger Geisler vom Zentralrat der Jesiden in Deutschland, im DLF. Die religiöse Minderheit versuche, ihre Frauen freizukaufen. Der höchste Preis, der bisher an den IS bezahlt wurde, seien 150.000 Dollar für eine versklavte Jesidin gewesen.

Holger Geisler im Gespräch mit Christine Heuer | 20.11.2015
    Eine jesidische Frau stützt in einem Flüchtlingscamp im Nordirak den Kopf auf die Hand
    Eine vor den Dschihadisten geflohene Jesidin in einem Flüchtlingscamp im Nordirak (AFP / Ahmad Al-Rubaye)
    "Alter, Schönheit, Unversehrtheit bestimmen den Preis", sagte Geisler. Bisher konnte seine Religionsgemeinschaft tausend Frauen freikaufen. Andere konnten fliehen oder befreit werden. Insgesamt sind in den letzten 18 Monaten 2.500 Frauen aus der Gewalt des IS befreit worden.
    "Es ist ein ganz brutales Geschäft, bei dem Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt", erläuterte Geisler. Wenn der IS Geld benötige, dann gebe es Verkaufsangebote. Diese Geschäfte laufen nicht direkt mit Jesiden, die vom IS als ungläubig verachtet werden. Durch Mittler, zwei bis fünf Stationen, kämen absurde Forderungen zustande, die bis zu einer Lösegeldsumme von 150.000 Dollar für eine Frau reichten
    Moral spielt bei Lebensrettung keine Rolle
    Die gefangenen Jesidinnen werden bis zu 40 Mal am Tag vergewaltigt. Die Milizen der IS machen auch keinen Halt vor Kindern: "Siebenjährige sind schon vollwertige Frauen, die ihnen für alles zur Verfügung stehen müssen", sagte Geisler.
    Auf die Frage, ob es in Ordnung sei, dem IS durch die Lösegeldzahlungen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, sagte Geisler: "Oft bekomme ich zu hören, dass es moralisch verwerflich ist, das ist mir alles völlig egal. Es geht darum, diese Frauen zu befreien. Dafür ist mir jedes Mittel recht." Er ergänzte: "Wenn diese Frauen frei sind, sind sie nicht frei. Im Kopf und Herzen werden sie krank sein".
    Im Hinblick auf den juristischen Aspekt einer möglichen Terrorfinanzierung sagte Geisler: "Wir nehmen das ganz bewusst in Kauf, ich würde mich da persönlich einem solchen Prozess stellen. Ich wäre dann gespannt, wie die Medien dann über so etwas berichten würden".
    Die Jesiden sind eine monotheistische Religionsgemeinschaft, die ursprünglich aus dem Irak, Syrien und der Türkei kommen. Die Religion beruht nicht auf einer heiligen Schrift. Zentrum es Glaubens in der Engel Pfau und dessen Menschwerdung Scheich Adi ibn Musafir sowie die sieben Mysterien. Der IS betrachtet die Jesiden als Ungläubige, ermordet sie und nimmt Jesidinnen als Sklavinnen gefangen.
    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Die Europäer sind verängstigt, mindestens sehr verunsichert. Jetzt gibt es sie also auch bei uns: Selbstmordattentäter, die alles und jeden jederzeit bedrohen. Immerhin mussten wir nicht oder noch nicht Bekanntschaft machen mit anderen Folterinstrumenten mitten aus der Hölle, dem öffentlichen Abschlachten von Geiseln etwa oder ihrem Verkauf in die Sklaverei. Die Jesiden im Nordirak erleben dies seit dem Vormarsch des IS im Sommer letzten Jahres. Zehntausende Angehörige der monotheistischen Religion sind geflohen. Etwa 5.000 Frauen wurden als Geiseln genommen, vergewaltigt, zwangsverheiratet, in die Sklaverei verkauft. Ihre Verwandten versuchen, sie freizubekommen, und das heißt oftmals freizukaufen.
    Holger Geisler ist Pressesprecher beim Zentralrat der Jesiden in Deutschland und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Geisler.
    Holger Geisler: Schönen guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Wie viele Frauen sind auf diesem Weg, dem Freikauf, aus den Fängen des IS entkommen?
    Geisler: Insgesamt konnten wir von den 5000 Frauen 2500 zirka freibekommen. Die sind natürlich nicht alle freigekauft worden, sondern viele konnten selber fliehen beziehungsweise konnten teilweise auch befreit werden. Wir gehen davon aus, dass ungefähr 1000 freigekauft worden sind.
    Heuer: In welchem Zustand sind die Frauen nach dieser Erfahrung?
    Geisler: Ich werde jetzt einmal das Wort "geschändet" benutzen und danach von traumatisierten Frauen sprechen. Sie können sich vorstellen, wenn man teilweise bis zu 18 Monaten in Gefangenschaft ist, dort tagtäglich bis zu 40 Mal vergewaltigt wird und dann in Freiheit kommt, was mit der Seele, was mit dem Körper, was mit dem Herzen passiert ist. Diese Menschen sind alle kaputt und müssen alle ganz, ganz sorgsam wieder zusammengesetzt werden. Unter anderem ist natürlich ein ganz großes Schamgefühl vorhanden. Ich glaube, ältere Zuhörer werden sich noch erinnern, wie es damals mit den Frauen im Zweiten Weltkrieg war, und ich glaube, nicht mal das kann man auch nur annähernd damit vergleichen.
    Militärische Befreiung wäre lang möglich gewesen
    Heuer: Jetzt sprechen wir heute Morgen mit Ihnen, Herr Geisler, um genauer zu verstehen, was Freikauf meint. Wie läuft so etwas denn in der Praxis ab?
    Geisler: Lassen Sie mich etwas weiter ausholen. Und zwar ist es so, dass wir ja seit 18 Monaten versuchen, diese Frauen freizubekommen, dass wir überall am Betteln und Flehen waren, diese Frauen in irgendeiner Form zu befreien, militärisch zu befreien, was lange Zeit durchaus möglich gewesen wäre, weil uns immer deutlich und klar war, wo sich diese Frauen befinden, wie sie dort bewacht werden etc. Leider konnten wir niemanden davon überzeugen und so sind dann die Menschen auf den Weg gegangen: Wie kann ich diese Leute befreien. Es ist ein ganz brutales Geschäft geworden, wo Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, und wenn der IS Geld benötigt oder wenn einzelne Kämpfer, die über diese Frauen verfügen, Geld benötigen, gibt es tatsächlich diese Angebote. Das läuft dann niemals direkt. So ein IS-Monster würde auch keine Geschäfte direkt mit einem Jesiden, der für ihn ja total ungläubig ist, machen. Sondern es läuft über Mittelsmänner. Das kann manchmal über zwei Stationen laufen, das kann teilweise auch über fünf Stationen laufen, und leider Gottes ist es so, dass es auch niemand aus Mitmenschlichkeit macht, sondern alle wollen daran Geld verdienen und dadurch kommen dann teilweise auch absurde horrende Forderungen zustande, und dann stellt sich immer die Frage, wie viel ist ein Menschenleben eigentlich wert.
    150.000 Dollar für einen Freikauf gezahlt
    Heuer: Ja, das ist die Frage. Ich möchte die so nicht formulieren, aber es liegt natürlich in der perversen Logik des IS-Terrors. Was kostet eine Jesidin, der man das Leben retten möchte?
    Geisler: Fangen wir doch mal an. Was kostet denn eine Jesidin, wenn sie beim IS untereinander verkauft wird? Dann geht es bei Preisen unter einem Dollar los. Dann bestimmt tatsächlich das Alter, die Schönheit, die Unversehrtheit dieser Frau den Preis. Der teuerste Preis, der uns bekannt ist für einen Freikauf, lag bei 150.000 Dollar. Vor zwei Tagen wurde uns ein Angebot gemacht, tatsächlich 200 Frauen freizukaufen für einen Preis von ungefähr drei Millionen Dollar. Das heißt, 15.000 Dollar pro Kopf.
    "Für Befreiung ist mir jedes Mittel recht"
    Heuer: Das Geld haben Sie natürlich nicht.
    Geisler: Das Geld haben wir natürlich nicht. Wir haben uns im holländisch-deutschen Grenzgebiet mit Vertretern der orientalischen Christen getroffen, die ja ein ähnliches Schicksal teilen und denen es vor Kurzem gelungen ist, ungefähr 150 Frauen freizukaufen. Die mussten dafür 5,4 Millionen Dollar zahlen und sind auch in der glücklichen Lage, aufgrund ihrer finanziellen Situation und auch eines Patriarchen, der über entsprechende finanzielle Mittel verfügt, dieses Geld aufzubringen. Und jetzt müssen Sie sich vorstellen: Sie sitzen dort. Sie bekommen zu hören, Sie können diese Frauen freikaufen. Mit mir war einer der Geistlichen aus dem Dorf Kuco angereist. Das ist ein Dorf, das einem großen Massaker zum Opfer gefallen ist. Von den 1500 Menschen wurden 1.000 getötet, 500 Frauen wurden entführt. Und jetzt hoffen natürlich diese Menschen, dass unter diesen 200 ganz viele aus diesem Dorf sind. Jetzt sitzt man da und der sagt sofort, wir machen das, und Sie müssen schweren Herzens sagen, Nein, wir können hier keine Zusage geben, weil wir dieses Geld nicht haben und wenn wir das dann nicht einhalten, sind diese Frauen alle tot. Deshalb versuchen wir, natürlich alles Mögliche in Bewegung zu setzen, um irgendwie dieses Geld zu bekommen, so pervers es ist, diese IS-Monster mit Geld zu versorgen, und oft bekomme ich auch zu hören, dass es moralisch verwerflich ist, dass es rechtlich strafbar ist, und da kann ich nur sagen, das ist mir alles völlig egal, weil es geht definitiv einfach darum, diesen Frauen zu helfen, diese Frauen zu befreien, und dafür ist mir jedes Mittel recht.
    "Im Kopf, im Geist, im Herzen werden sie einfach krank sein"
    Heuer: Beides wollte ich jetzt ansprechen: einmal die moralische Seite. Wie kommen denn die Menschen, über die wir sprechen, mit dieser Situation klar, dass sie die Peiniger ihrer Angehörigen, dass sie die unterstützen müssen mit Geld? Das ist ja schizophren.
    Geisler: Es zerreißt ihnen das Herz. Das können Sie sich ja vorstellen. In meinen Gesprächen mit diesen Angehörigen bekomme ich oft zu hören, ich wünschte, dass meine Ehefrau, dass meine Töchter tot sind, damit sie genau das nicht erleiden müssen. Und diesen Menschen ist auch allen klar: Wenn diese Frauen befreit sind, sind sie nicht frei, sondern sie werden - das habe ich ja vorhin schon mal gesagt - im Kopf, im Geist, im Herzen einfach krank sein. Jeder weiß, wenn es uns gelingen sollte, diese Frauen freizubekommen, was es für Anstrengungen bedarf, diese auch nur annähernd wieder ins normale Leben zurückzuholen. Wir sprechen ja nicht nur über erwachsene Frauen; wir sprechen über kleine Kinder. Für diese Barbaren sind ja schon siebenjährige Mädchen vollwertige Frauen, die ihnen für alle Abnormalitäten, die man sich nur vorstellen kann oder auch nicht vorstellen kann, zur Verfügung stehen müssen.
    "Wir nehmen Ermittlungen wegen Terrorfinanzierung in Kauf"
    Heuer: Es verbietet sich fast, wenn Sie das so schildern, diese Frage zu stellen, aber der juristische Aspekt ist ja in der Tat da. Wir sprechen jetzt über etwas, was unter Terrorfinanzierung laufen könnte, öffentlich. Befürchten Sie da nicht doch, dass irgendjemand auf die Idee kommt zu sagen, das ist kriminell, da erstatten wir mal Anzeige oder wir ermitteln?
    Geisler: Nein, ich befürchte das nicht. Wir nehmen das ganz bewusst in Kauf. Ich würde mich dann auch persönlich - und ich weiß, dass es auch für die Vorstandsmitglieder des Zentralrats gelten würde - einem solchen etwaigen Prozess oder einem Ermittlungsverfahren stellen und ich wäre dann gespannt, wie die Medien über so was berichten würden. Denn stellen Sie sich vor, es wären Ihre Angehörigen und Sie hätten diese Möglichkeit. Und es sei noch mal kurz angemerkt: Auch die deutsche Regierung hat ja durchaus schon Menschen freigekauft und damit Terrororganisationen finanziert.
    Heuer: Eine etwas umfassende, aber abschließende Frage, Herr Geisler. Unterstützt Deutschland die Jesiden genug in dieser Situation?
    Geisler: Da ist immer die Frage, was ist denn wirklich genug. Der Zentralrat hat in sehr vielen sehr langwierigen Gesprächen mit Landesregierungen - und da sei allen voran Baden-Württemberg genannt - erreicht, dass bis zum Jahresende 1100 dieser traumatisierten Frauen und Mädchen nach Deutschland kommen und hier eine neue Zuflucht finden. Niedersachsen ist dann dem Beispiel gefolgt und wir sind jetzt mit zwei anderen Bundesländern in ganz guten Verhandlungen, sodass wir hoffen, dass wir noch mehr herholen können. Das Problem ist natürlich: Je länger sie in Gefangenschaft sind, desto kaputter ist ihre Seele. Die Plätze gehen uns hier aus. Und von der Bundesregierung kam diesbezüglich wenig bis gar keine Unterstützung. Ganz im Gegenteil: Diese Bundesländer sind eher an ihrer Arbeit damals behindert worden.
    Heuer: Holger Geisler, Pressesprecher beim Zentralrat der Jesiden in Deutschland. Herr Geisler, haben Sie vielen Dank für Ihre Schilderungen und das Gespräch heute Morgen.
    Geisler: Ich bedanke mich für das Gespräch. Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.