Shakespeare lebte in einer Zeit, in der sich die Welt rasant veränderte. Seefahrer und Religionskrieger waren unterwegs, Sterndeuter, Alchemisten, Aufrührer und Philosophen, die das scholastische Gebäude des Mittelalters zum Wanken brachten. Der Dichter reagierte mit Sprachbildern und Wendungen, die heute nicht mehr ohne Weiteres zu entschlüsseln sind. Doch Hilfe naht: Mit seinem umfangreichen Werkführer gelang dem US-Wissenschaftler und Bestsellerautoren Isaac Asimov eine nicht nur lehrreiche, sondern höchst unterhaltsame Einladung zur Shakespeare-Lektüre.
Zu den Überraschungen, die dieses Buch bereit hält, gehört die Erkenntnis, dass Shakespeare sehr großzügig irrte. In einer seiner beliebtesten Komödien, "Ein Sommernachtstraum" beispielsweise, der um 1595 geschrieben und 1600 uraufgeführt wurde, lässt er den Mond gleich dreifach scheinen.
Die Hochzeit des Athenerherzogs Theseus soll, das verkündet der gleich zu Beginn, in der nächsten Neumondnacht stattfinden:
Endlich, Hippolyta, naht unsre Hochzeitsstunde
Mit schnellem Schritt; vier Freudentage nur
Zur Neumondnacht.
Mit schnellem Schritt; vier Freudentage nur
Zur Neumondnacht.
Als die jungen und flüchtigen Verliebten Hermia und Lysander am selben Abend in den nahen Wald flüchten, spiegelt sich der Mond aber schon silbern im Wasser. Dann proben die Handwerker um Peter Quince, sie schauen im Mondkalender nach und stellen fest, dass der Mond hoch am Himmel stehen wird, wenn Theseus in wenigen Tagen heiratet.
"Das ist merkwürdig, da das Stück zu Theseus' Hochzeit aufgeführt werden soll und dieser selbst gesagt hat, sie finde in der Neumondnacht statt, was bedeuten würde, dass der Mond nicht am Himmel stünde."
Die Akribie des Isaac Asimov
Isaac Asimov, der Autor dieses Standardwerks, hat also ganz genau gelesen. Keine Zeile entgeht ihm, und wo immer Shakespeare eine Anspielung astrologischer, astronomischer, mythischer, historischer, medizinischer, juristischer oder politischer Natur macht, ist er zur Stelle. Asimov legt die Fäden zurück zu Shakespeares Zeit und den Büchern, die der Dichter kannte. Motive aus der Bibel und aus Ovids Metamorphosen, nahe und ferne Städte, Länder und Schlachten, Genealogien ganzer Königshäuser, die Sternenkunde der Zeit und nicht zuletzt die antiken Götter und Heroen bereichern sein Werk.
Asimov erklärt die betreffenden Textstellen mit seinem eigenen, ebenfalls umfangreichen Wissen. Das hilft nicht nur, schwierige oder unverständliche Wendungen des elisabethanischen Dramatikers zu entschlüsseln - es fallen auch jede Menge interessanter und unterhaltsamer Trivialia ab. Ein Beispiel. Wer sich immer schon mal gefragt hat, warum ein Pförtner im Englischen Janitor heißt, wird bei Asimov fündig. In Shakespeares Stück "Der Kaufmann von Venedig" bezieht sich die Nebenfigur Solanio in einer schnellen Replik auf den doppelköpfigen Römergott Janus: "[...] Now by two-headed Janus / Nature has framed strange fellows in her time." Asimov schreibt dazu:
"Was Janus angeht, so ist er der bekannteste der rein römischen, also nicht von den Griechen übernommenen Götter. Er war der Gott der Türschwellen und somit der Gott des Ein- und Ausgehens. Das englische Wort 'Janitor' geht auf seinen Namen zurück. Etwas erweitert kann er auch als Gott des Anfangs und des Endes, des Kommens und Gehens betrachtet werden - und auch der Januar, der Jahresanfang, trägt seinen Namen ihm zu Ehren."
Auch woher, immer noch "Der Kaufmann von Venedig", der Name Shylock kommt - nämlich aus dem Alten Testament - und wieso sich Shakespeare mit dem Ortsnamen Messalina vertan hat, warum Othello ein Christ gewesen sein dürfte und warum er auch an der Seeschlacht von Lepanto hätte teilnehmen können, all das erklärt Asimov. Interessant ist auch, mit welchen Nebensätzen sich Shakespeare, der in einer politisch prekären Zeit lebte, der Gelegenheitsdichter und Konformist sein musste, sich immer wieder vor seiner Königin Elisabeth verbeugt, etwa in seinem "Sommernachtstraum" mit dem beliebten Begriff der Vestalin:
"In Anspielung auf diese Priesterinnen hat sich im Englischen der Begriff 'vestal' als Synonym für 'virgin', 'jungfräulich' eingebürgert. Mit 'Vestalin, die im Westen thront', kann nur Königin Elizabeth I gemeint sein, die zum Entstehungszeitpunkt des Stücks bereits siebenunddreißig Jahre lang herrschte (...). Mit den Jahren wurde sie schließlich zu alt, um noch Kinder zu bekommen, daher versuchte man, das Beste aus der Situation zu machen: Man war nun stolz auf Elizabeths vermutete Jungfräulichkeit und verlieh ihr den Beinamen 'Virgin Queen'."
Da irrt der Dramatiker
Doch zurück zu Shakespeares Irrtümern: Die spürt der Wissenschaftler Asimov besonders häufig in der "timeline" auf, also in der inneren Chronologie der Vergleiche und Bezüge, die Shakespeares Figuren verwenden, sowie in den vielen kosmologischen Metaphern, die Shakespeare benutzte.
"Shakespeare glaubt jedoch irrtümlicherweise, dass jeder Stern seine eigene Sphäre habe. Darum schießen bei ihm die Sterne aus den Sphären ('spheres')."
Wissenschaft meets Poesie. Der 1920 in Sowjetrussland geborene Isaac Asimov wanderte mit seinen jüdischen Eltern 1923 in die USA aus. Dort promovierte er in Biochemie und forschte zu künstlicher Intelligenz. Er schrieb Handbücher zu Robotern, später Science-Fiction-Romane, Kriminalgeschichten, geschichts- und populärwissenschaftliche Werke, mehr als 500 an der Zahl, Essays und journalistische Arbeiten sind nicht inbegriffen.
Man hat es also mit einem Universalgelehrten zu tun, dessen Weltwissen dem des Dramatikers Shakespeare vergleichbar war. Außerdem ist zu bedenken, dass Asimovs Ausführungen zu Shakespeare in den späten 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben wurden, also zu einer Zeit, in der Sterne, das Weltall und die Raumfahrt im Zentrum des Weltgeschehens standen. Der Hype ähnelt dem Zugang der Elisabethaner zur Kosmologie: Sie rüttelten zwar am geozentrischen Weltbild, waren aber auch verrückt nach den Sternbildern, die den Menschen angeblich ihr Schicksal gaben. Shakespeare jedenfalls ließ sich eine schöne Sternenmetapher niemals von der Wissenschaft kaputtmachen. Isaac Asimov benennt all diese Unstimmigkeiten, verweist sie aber auch an ihren Platz: Wen kümmert's schon.
"Aber das ist nicht weiter schlimm."
Asimovs erstmals 1970 erschienene Abhandlung beeindruckt durch ihre schiere Fülle - es sei daran erinnert, dass sie vor der Recherchehilfe des Internets entstanden ist. In der angelsächsischen Welt gehört "Asimov's Guide to Shakespeare" zum Handapparat eines jeden Shakespeareforschers, ist aber auch bei Laien beliebt, denn trotz seiner profunden Kenntnisse will Asimov vor allem eines: seine Leser unterhalten.
Asimov erzählt und kommentiert im Gesprächston, er kommt ohne Fußnoten aus und lässt sich, ganz wie Shakespeare, die gelungene Pointe niemals entgehen. Dank seiner Feinarbeit erkennt man auch, wie zügig der Dichter gearbeitet haben muss. Asimov weist auf Verse hin, in denen Handlungsstränge angelegt werden, die Shakespeare später fallen lässt, aber nicht beseitigt. Das passt ins Bild des viel beschäftigten Theatermannes, der abends schrieb, morgens probte und nachmittags spielte.
All the world's a stage
And all the men and women merely players
And all the men and women merely players
Auch Asimov hat sich Freiheit mit seiner Materie genommen. So weicht er ab von der üblichen Klassifizierung in frühe, mittlere und späte Shakespeare-Stücke beziehungsweise in Tragödien und Komödien. Asimov, der unter anderem zum wissenschaftlichen Beraterstab der Serie "Star Trek" gehörte, begibt sich auch bei Shakespeare seine eigene Zeitreise. Er folgt der inneren Chronologie der Stücke, er beginnt mit dem Sommernachtstraum, der im alten Athen spielt, und endet 2800 Jahre später im zeitgenössischen England.
Manchmal weicht Asimov ab vom rein Faktischen, gibt Einblicke in die Psychologie der Figuren und in dramatische Spannungsbögen. So folgt er beim "Kaufmann von Venedig" dem atemberaubenden Balanceakt Shakespeares, der antisemitische Klischees bedient, diese zugleich hinterfragt und unterläuft. Selten begibt sich Asimov so wie hier mit einer persönlichen Stellungnahme aus dem Dickicht seiner Materie:
"Wie der englisch-jüdische Autor Israel Zangwill in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts einmal mit bitterem Sarkasmus gesagt haben soll: 'Die Juden sind ein verängstigtes Volk. Neunzehn Jahrhunderte christlicher Nächstenliebe haben ihnen die Nerven gründlich zerrüttet.'"
Aus den mehr als 1500 Seiten der amerikanischen Ausgabe hat der Alexander Verlag Berlin die am häufigsten gespielten Stücke Shakespeares ausgewählt. Originalzitate werden sowohl in englischer Sprache als auch in der deutschen Übersetzung Frank Günthers wiedergegeben, was eine zusätzliche Bedeutungsebene einführt: Man kann sich an der Virtuosität unseres zeitgenössischen Shakespeare-Übersetzers erfreuen. Einige Fehler, die Isaac Asimov unterlaufen sind, werden in Fußnoten behoben. 21 Übersetzerinnen waren an diesem großen Projekt beteiligt, mehr als 600 Seiten sind es geworden. Auch optisch und haptisch ist dieses Buch sehr angenehm. Wenn es genügend Leser findet, will der Alexander-Verlag nachlegen. Das ist zu wünschen.
Isaac Asimov: "Shakespeares Welt. Was man wissen muss, um Shakespeare zu verstehen."
Mit einem Vorwort von Tobias Döring. Alexander Verlag, Berlin, 2014. 608 Seiten, gebunden, 34,90 Euro
Mit einem Vorwort von Tobias Döring. Alexander Verlag, Berlin, 2014. 608 Seiten, gebunden, 34,90 Euro