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Israel
Jüdische Kritik am Zionismus

In ihrem neusten Buch erörtert die amerikanische Philosophin Judith Butler, warum eine Kritik am Zionismus aus dem Judentum selbst heraus angezeigt sei. Es passt zur Streitschrift des israelischen Historikers Shlomo Sand, der sich fragt, was es bedeutet, in Israel Jude zu sein.

Von Matthias Bertsch |
    "Sollte es mir gelungen sein zu zeigen, dass man zur Kritik der staatlichen Gewalt, der kolonialen Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen, der Vertreibung und Enteignung auf jüdische Quellen zurückgreifen kann, dann habe ich damit zugleich zeigen können, dass eine jüdische Kritik der von Israel ausgeübten staatlichen Gewalt zumindest möglich, wenn nicht sogar geboten ist."
    Judith Butler macht auf der Rückseite ihres Buches "Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus" deutlich, worum es ihr geht: um eine Fundamentalkritik Israels beziehungsweise dessen Abschaffung als eines jüdischen Staates. Es ist wichtig, das zu betonen, denn anders, als andere Kritiker Israels hält sie eine Trennung zwischen Israel in den Grenzen von 1967 und dem Westjordanland, in dem Israel als Besatzungsmacht fungiert, für falsch. Es gehe nicht um die Besatzung allein.
    "Mit einer derartigen Einschränkung würden wir uns nicht nur damit einverstanden erklären, die Ansprüche von 1948 zu vergessen und das Recht auf Rückkehr zu begraben, wir würden auch ungerechte Diskriminierungen in den gegenwärtigen Grenzen Israels akzeptieren."
    Das Recht auf Rückkehr der bei der Staatsgründung Israels vertriebenen Palästinenser – die Zahlen schwanken zwischen 700.000 und 900.000 – ist für Butler unverhandelbar, die Erinnerung an die Naqba, so der arabische Begriff für Katastrophe, unverzichtbar. Erinnerung, schreibt sie unter Berufung auf Walter Benjamin, sei das wahre Maß des Lebens. Neben Benjamin sind es vor allem Hannah Arendt, Primo Levi, Edward Said und Emmanuel Levinas, an denen sich Butler abarbeitet, um ihre politisch-ethische Sichtweise zu untermauern. Von dem französisch-jüdischen Moralphilosophen Levinas übernimmt sie vor allem sein Konzept des Antlitzes. In dessen Kern steckt der Gedanke, dass jeder Mensch für seine Mitmenschen eine Verantwortung hat, egal, ob man diese will oder nicht. Die Politik Israels dagegen verschleiere das Antlitz vieler Menschen, schreibt die Philosophin mit Blick auf die Kriege im Libanon und dem Gazastreifen.
    "Es ist frappierend, wie das Leben der israelischen Soldaten personifiziert, mit Namen und Familien verbunden und offen betrauert wurde, während das Leben der libanesischen und palästinensischen Soldaten und Zivilisten namenlos und faktisch unbetrauerbar blieb."
    Neben Levinas ist es vor allem Hannah Arendt, die Butler als Beispiel für ein jüdisches Ethos dient, aus dem heraus die Politik Israels kritisiert werden müsse. In der Tat hat sich Arendt, die als Flüchtling selbst einige Zeit lang staatenlos war, kritisch mit Zionismus und Nationalismus auseinandergesetzt. Sie warnte davor, einen rein jüdischen Staat in Palästina zu gründen und damit die arabische Bevölkerung auszugrenzen beziehungsweise sie im eigenen Land als Staatsbürger zweiter Klasse zu behandeln. Und doch gibt es zwischen Arendt und Butler gravierende Unterschiede. Anders, als Butler, war Arendt keine dezidierte Antizionistin. Bei aller Kritik an Israel hatte sie immer große Angst, dass die Heimstätte der Juden in Gefahr geraten könnte. Während Butler die jüdischen Denker heranzieht, um ihrer Kritik eine jüdische Basis zu geben, bezieht sie sich bei der Suche nach politischen Alternativen vor allem auf Edward Said. Der palästinensische Literaturkritiker forderte für das Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan einen binationalen Staat für Juden und Palästinenser.
    "Festzuhalten ist, dass der Binationalismus sowohl für Said wie in meiner eigenen Argumentation nicht in eine Zweistaatenlösung mündet, sondern in einen einzigen Staat, einen Staat ohne jede Diskriminierung auf der Basis von Ethnizität, Rasse und Religion."
    Das klingt verlockend, doch in der Praxis stellt sich die Frage: Mit welchen Menschen will sie diesen Staat verwirklichen? Die Mehrheit der jüdischen Israelis lehnt eine solche Idee eindeutig ab. Und auch die Mehrheit der Palästinenser würde einem solchen Plan wahrscheinlich nur zustimmen, wenn er mit der Hoffnung verbunden wäre, die Juden im gemeinsamen Staat irgendwann in die Rolle der Minderheit zu drängen. Damit aber, so Butlers zentrale Überzeugung, müssten die Juden leben.
    "Kein demokratisches Gemeinwesen hat das Recht, für die demografische Überlegenheit einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe zu sorgen."
    Shlomo Sand teilt diese Überzeugung. Der Historiker ist wie Butler ein fundamentaler Kritiker Israels und der Unterdrückung der Palästinenser. Und dennoch unterscheidet sich sein Buch "Warum ich aufhöre, Jude zu sein. Ein israelischer Standpunkt" wesentlich von dem Butlers, nicht zuletzt durch die subjektive Form, die Sand gewählt hat. Er spricht von sich und davon, dass er nicht an Gott glaube. Seine jüdisch-säkulare Identität könne also nur in seiner Herkunft liegen und sei damit ein Produkt der Vergangenheit. Oder genauer: ein Produkt der konstruierten Erinnerung an diese Vergangenheit. Die Geschichte der Juden sei schließlich in weiten Teilen eine Erfindung europäischer Zionisten. Doch dieser Verfolgungsgeschichte wolle er sich nicht unterwerfen.
    "Ich habe mich nie dem Schmerz verschrieben, der einer vergangenen Zeit angehört, noch je davon geträumt, all das alte Leid zu heilen. Vielmehr gehöre ich zu jenen, die unnötiges Unrecht in der Gegenwart aufzeigen wollen, es aufzuhalten oder zumindest zu verringern versuchen. Denn die Verfolgten und die Opfer der Vergangenheit sind in meinen Augen viel weniger wichtig als die Verfolgten von heute oder die Opfer von morgen. Zudem weiß ich nur zu gut, dass auf der Bühne der Geschichte Jäger und Gejagte, Starke und Schwache allzu oft die Rollen tauschen."
    Er habe sich lange als Teil einer verfolgten Minderheit gefühlt, schreibt Sand, doch in Israel seien die Juden fraglos die dominierende Gruppe. Und auch in einigen Zirkeln der westlichen Kultur- und Medienwelt sei es längst ziemlich angesagt, jüdisch und damit etwas Besonderes zu sein.
    "Jetzt, da ich klar erkenne, dass man mich in Israel per Gesetz einem fiktiven Ethnos von Verfolgern und deren Unterstützern zuschlägt und überall auf der Welt einem geschlossenen Club von Auserwählten und deren Bewunderern, möchte ich nun aus diesem austreten und aufhören, mich selbst als Juden zu betrachten."
    Es sei dahingestellt, ob Sand wirklich aus dem Jude-Sein austreten kann oder will, wichtig ist seine Begründung. Anders, als Butler, beruft er sich nicht auf eine jüdische Ethik für seine Kritik an Israel, sondern hält die Idee einer solchen Ethik für Teil des Problems. Tora und Talmud enthielten im Kern keine Botschaften universeller Solidarität, sondern seien traditionell stammesbezogen.
    "Anders ausgedrückt, sind die egozentrischen Aspekte der traditionellen jüdischen Ethik wohl nicht direkt für das Erstarken antiliberaler und antidemokratischer Tendenzen im heutigen Israel verantwortlich zu machen, doch haben sie diese Tendenzen zweifelsohne ermöglicht und ermöglichen sie weiterhin."
    Doch trotz der großen Unterschiede in der Begründung – Butler argumentiert mit jüdischer Ethik, Sand gegen sie – kommen beide Autoren zu einem ähnlichen Ergebnis: Als demokratischer Staat müsse Israel von seinem Anspruch abrücken, exklusiv jüdisch zu sein. Dass diese Positionen in Israel nicht auf viel Gegenliebe stoßen – und andererseits wohl auch auf manch antisemitisches Ressentiment, wie Sand und Butler zugeben – sollte einen nicht davon abhalten, sich mit ihrer Kritik ernsthaft auseinanderzusetzen.