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Ist die Außenpolitik ein Wahlkampfthema?

06.08.2002
    Durak: Am Telefon begrüße ich Hans-Dietrich Genscher. Einen schönen guten Morgen Herr Genscher.

    Genscher: Guten Morgen Frau Durak.

    Durak: Ich habe im Grunde zwei Fragen an Sie, Herr Genscher. Erstens: gehört die Außenpolitik, gehört der mögliche Irakkrieg in unseren Wahlkampf, und zweitens: Soll es einen Krieg geben – unter Umständen mit deutscher Beteiligung? Lassen Sie uns mit dem Ersten beginnen, mit der Außenpolitik im Wahlkampf. Gehört sie da rein?

    Genscher: Natürlich kann man auch im Wahlkampf die Außenpolitik nicht aussparen, man darf sie nicht aussparen. Wir haben ja nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder außenpolitische Fragen auch in den Wahlkämpfen gehabt, die dann auch wahlentscheidend waren. Ich erinnere nur daran, dass 1953 und 1957 die Westintegration, die damals die FDP mit der CDU zusammen gegen die SPD durchsetzen musste, wahlentscheidend gewesen ist; die deutschen Wähler haben damals unseren Kurs bestätigt. Umgekehrt, als es in den 70er Jahren – 72 – um die Ostverträge ging und 76 um die KSZE, haben wir mit der SPD zusammen diese Ostpolitik, die den Weg zur deutschen Einheit öffnete, zu einem zentralen Punkt gemacht. Es musste ja darüber entschieden werden, ob eine Mehrheit für die Verträge stattfindet. Und 1990 hat die indifferente Haltung mancher Sozialdemokraten natürlich auch dazu geführt, dass die Regierungskoalition aus FDP und CDU bestätigt wurde. Oder denken Sie an 1983, als es um die Nachrüstung ging, jene politische schwere Entscheidung, die wir getroffen haben, die aber letztlich, wie Gorbatschow selbst einräumt, zum Umdenken im Osten führte. Nur, was in all diesen Fragen anders war als heute, ist die Tatsache, dass der Ort der Debatte und der Ort der Entscheidung das Parlament war, dass es vor dem Wahlkampf Parlamentsdebatten gegeben hatte, und dass eigentlich im Wahlkampf nur die Haltung vertreten wurde, die die Parteien vorher im Parlament eingenommen hatten. Diesmal ist es ganz anders. Über die Frage einer deutschen Kriegsbeteiligung ist im Parlament bisher nicht geredet worden. Die Bundesregierung hat den Eindruck erweckt, es sei keine aktuelle Frage. Sie hätte, wenn sie jetzt die Frage für eine akute hält, ja Gelegenheit gehabt - zum Beispiel bei der Sondersitzung des Parlaments zur Vereidigung des neuen Verteidigungsministers -, eine Regierungserklärung abgeben zu können. Und sie kann das noch tun vor der Bundestagswahl. Das Parlament kommt noch einmal zusammen, und wenn der Bundeskanzler der Meinung ist, dass diese Frage jetzt zu einer entscheidenden Frage in der politischen Auseinandersetzung auch in Deutschland gemacht werden muss, dann muss er eine Regierungserklärung abgeben, wenn das Parlament vor der Wahl noch einmal zusammenkommt, denn die Aufgabe der Regierung bei der Frage von Krieg und Frieden ist es, dass sie sich um eine gemeinsame Position der Parteien des Deutschen Bundestages bemüht. Das haben wir in allen schweren Fragen immer wieder versucht, und ich sehe ja im Augenblick auch niemanden, der ernstzunehmen ist in Deutschland, der etwa sagt: ‚Jetzt müssen wir einen Krieg gegen den Irak führen‘.

    Durak: Zumindest aber wird eine Beteiligung nicht ausgeschlossen von Wolfgang Schäuble. Aber Herr Genscher, sind Sie denn der Meinung, dass es diese Regierungserklärung geben muss – eine Auseinandersetzung im Parlament – über die Frage Krieg oder Frieden mit deutscher Beteiligung?

    Genscher: Ja selbstverständlich. Ich kann mir keine bedeutendere Frage derzeit vorstellen. Wenn der Bundeskanzler diese Frage jetzt in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes stellt, muss man fragen: Wer ist der Adressat? In Deutschland – das sage ich noch einmal – habe ich bisher nicht gehört, dass irgend jemand gesagt hat: Wir müssen uns an einen Krieg beteiligen. Es ist eine ganz übereinstimmende Meinung, dass die politischen Mittel keineswegs ausgeschöpft sind. Man hat ja eben auch gehört, dass auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das gesagt hat. Also, ich sehe niemanden in Deutschland, der den Kriegseintritt Deutschlands fordert oder gar einen Krieg gegen den Irak. Aber die Positionen klarzumachen, das ist wichtig. Und da muss man von der Regierung erfahren, was sie will. Und die Regierung muss sich bemühen, die Unterstützung der Parteien, auch der Opposition zu finden, denn niemand weiß ja, ob am Tag nach der Bundestagswahl die jetzige Mehrheit noch eine Mehrheit ist oder möglicherweise eine Minderheit. Das heißt, auch unsere Partner haben Anspruch darauf, zu erfahren, was Deutschland denkt. Wie gesagt, wenn die Frage von der Regierung für so aktuell gehalten wird, wie das jetzt sich aus der Wahlkampfführung zu ergeben scheint, glaube ich, dass die Regierung dann nicht nur sagen muss, was sie nicht will, sondern auch, was sie will. Will sie sich bemühen um eine gemeinsame europäische Haltung? Hier beginnt ein Punkt, den ich für besonders besorgniserregend halte . . .

    Durak: . . . den europäischen Aspekt meinen Sie, ob also Deutschland den europäischen Interessen schadet, wenn es sich vorzeitig nur für Frieden entscheidet? . . .

    Genscher: . . . nein, das sage ich nicht. Im Gegenteil, ich sage ja: Wir sind ja alle einer Meinung, dass die Voraussetzungen für die militärische Beteiligung Deutschlands an einem Konflikt, von dem wir nicht wissen, ob es dazu kommen wird, dass diese Voraussetzungen keinesfalls gegeben sind. Aber es ist wichtig, dass, wenn man auf Washington Einfluss nehmen will – natürlich sind dort Tendenzen vorhanden, das wissen wir, auch in der Regierung –, dann ist es wichtig, eine europäische Position zu haben. Und dass das Wirkung zeigt, habe ich selbst erleben können, nämlich in der Zeit, als es darum ging, die Vereinigten Staaten von Amerika von der Richtigkeit des KSZE-Prozesses zu überzeugen, der ja letztlich die Veränderungen im Osten möglich gemacht hat, die zur deutschen Einheit führten. Damals haben wir die Europäer um uns versammelt, und das hat sein Gewicht auch in den USA gehabt, die dann den KSZE-Prozess auch wirklich mit uns zusammen weitergeführt haben. Und ich muss Ihnen sagen, was mich im Augenblick besorgt, ist, dass in einer solchen Debatte plötzlich von einem ‚deutschen Weg‘ die Rede ist. Es geht darum, dass wir den europäischen Standpunkt formulieren, dass Europa gemeinsam einen europäischen Weg in dieser Frage findet. Wir sollten um Gottes Willen jetzt nicht den Eindruck eines deutschen Alleingangs erwecken, um so mehr, als wir ja wissen, dass in den europäischen Staaten die Zurückhaltung – um nicht zu sagen die Ablehnung – militärischer Aktionen gegen den Irak nicht minder entwickelt ist, als das bei uns in Deutschland der Fall ist.

    Durak: Unter welchen Umständen, Herr Genscher, müsste Europa Farbe bekennen und sich für einen Militärschlag gegen den Irak entscheiden?

    Genscher: Die Voraussetzungen, das sage ich noch einmal, sind derzeit nicht gegeben. Wenn Saddam Hussein morgen ein verbündetes Land angreifen würde, und immerhin gibt es ja ein Land der NATO, das eine gemeinsame Grenze mit dem Irak hat, dann ändert sich die Frage vollkommen. Das heißt, es ist vollkommen falsch, zu spekulieren, was er tun müsste, damit das und das geschieht – oder was er unterlassen muss. Es geht darum, klarzumachen, dass wir diese Voraussetzungen nicht sehen, so dass wir der Meinung sind, dass zunächst Politik versucht werden muss, denn das, was dort geschieht, betrifft Europa unmittelbarer als die USA. Wenn im Nahen Osten die ohnehin spannungsgeladene Situation weiter verschärft würde, hätte das ganz erhebliche Auswirkungen gerade für die Europäer. Und da muss man hinhören, was bewährte Partner des Westens, wie der ägyptische Präsident Mubarak, wie der jordanische König, wie die Führung in Saudi Arabien sagt. Kurzum: Eine einheitliche europäische Haltung ist gefordert, um die sich die Bundesregierung bemühen muss. Es ist aber auch geboten, dass Europa im Nahen Osten seine Zurückhaltung aufgibt und sich mit eigenen Vorschlägen um eine Lösung für diese zentrale Frage der Sicherheit in unserer Region bemüht und dass im Gespräch mit den USA deutlich gemacht wird, dass Europa der Politik den Vorrang vor militärischen Maßnahmen gibt. Das ist verantwortliche Politik, aber nicht als Alleingang, als deutschen Weg, sondern innerhalb der Europäischen Union. Und wie gesagt: Dort finden wir ja auch für diese Auffassung auch zahlreiche Partner.

    Durak: Sollte Europa aber, dies abschließend gefragt, Herr Genscher, von ihrer Linie, wie sie Lord Dahrendorf beschrieben hat – ‚Beratung ohne Aktion‘ – wegkommen, abweichen?

    Genscher: Europa hat klare politische Konzepte zu entwickeln, und diese Konzepte, die ja auch bei den Amerikanern keineswegs vorhanden sind für die Entwicklung im Irak nach einem möglichen Militärschlag, diese Konzepte muss Europa vorlegen. Und es muss vor allen Dingen deutlich machen, dass die Politik jetzt die Vorhand haben muss. Und das ist ja auch die Meinung des Weltsicherheitsrates gestern gewesen.

    Durak: Herzlichen Dank. Hans-Dietrich Genscher war das, der ehemalige deutsche Außenminister. Schönen Dank, Herr Genscher, für das Gespräch.

    Genscher: Auf Wiederhören.

    Link: Interview als RealAudio